Trisomie 21 - Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können (eBook)

2000 Personen und ihre neuropsychologischen Befunde
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
222 Seiten
Vandenhoeck & Ruprecht Unipress (Verlag)
978-3-647-99648-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Trisomie 21 - Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können -  André Frank Zimpel
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Menschen mit Trisomie 21 erschließen sich Dinge anders als Menschen ohne diese genetische Abweichung. Sie neigen verstärkt dazu, von Einzelheiten abzusehen. Sie sind deshalb auf geeignete Abstraktionen (Buchstaben, Gebärden, mathematische Symbole usw.) mehr angewiesen als andere Personen. Der anschauungsgebundene, kleinschrittige und Abstraktionen vermeidende Unterricht an Förderschulen trägt diesen neuropsychologischen Besonderheiten nur wenig Rechnung und wirkt eher kontraproduktiv. Gleiches gilt für die vorhandenen Lehr- und Lernmethoden, die solche Aufmerksamkeitsbesonderheiten bislang nur unzureichend berücksichtigen. Sie müssen überdacht werden, um weiter auszubauen, was bisher nur in Aufsehen erregenden Einzelfällen gelingt: normale Ausbildungsgänge für Menschen mit Trisomie 21 bis hin zum Universitätsabschluss. André Frank Zimpel fasst auf Basis einer groß angelegten Studie mit 1294 Teilnehmern zusammen, was heute als gesicherter Befund gelten kann und welche Konsequenzen unser Bildungssystem daraus zu ziehen hat.

Dr. André Frank Zimpel ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes Geistige Entwicklung und mit dem Forschungsschwerpunkt Rehabilitationspsychologische Diagnostik an der Universität Hamburg.

Dr. André Frank Zimpel ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes Geistige Entwicklung und mit dem Forschungsschwerpunkt Rehabilitationspsychologische Diagnostik an der Universität Hamburg.

I. Gene und Gesellschaft

Eine kognitive Revolution im Stillen

In den letzten Jahrzehnten fand eine kognitive Revolution statt, die von den meisten Menschen verschlafen wurde: Die ersten Persönlichkeiten mit einer Trisomie 21 fassten auf dem Arbeitsmarkt Fuß, und einige von ihnen haben sogar Universitätsabschlüsse.

Was bedeuten Buchstaben und Algebra für die geistige Entwicklung von Menschen mit Trisomie 21? Als ich diese Forschungsfrage erstmalig präsentierte, war die Resonanz nicht nur positiv:

»Die Downies sind doch unser geringstes Problem bei der Inklusion. Die sind pflegeleicht und laufen einfach so mit, wenn man ihnen eine Beschäftigung gibt. Wir brauchen Forschung, die uns bei verhaltensoriginellen oder schwerstbehinderten Kindern hilft. Die sind das eigentliche Problem!«

Auch innerhalb der Universität und bei Anträgen auf Drittmittel für die Forschung wurde immer wieder gefragt: »Lohnt sich Forschung für eine so kleine Minderheit überhaupt? Die Forschung, die wir fördern, soll vielen zugutekommen und nachhaltig sein.«

Was ist unter Nachhaltigkeit zu verstehen? Dem Duden zufolge bezeichnet der aus der Forstwissenschaft stammende Begriff »Nachhaltigkeit« eine Wirkung, die längere Zeit anhält.

Aber gibt es nicht viele lang anhaltende Wirkungen, die man kaum als nachhaltig bezeichnen würde? Beispiele: die Auswirkungen eines schwerwiegenden Unfalls oder einer langwierigen Erkrankung infolge einer Infektion.

Betrachten wir also eine andere Definition. Sie klingt im ersten Moment wie ein Kontrapunkt zum Duden: »[…] Nachhaltigkeit bedeutet nichts anderes, als keine Handlungen zu vollziehen, deren Folgen nicht mehr zurückgenommen werden können.«1 Diese Definition findet man auf der Internetseite des Kompetenzzentrums für Nachhaltigkeit der Uni Hamburg.

Als Erklärung dieser Definition drängt sich mir eine Erzählung auf. Sie stammt von Stanislaw Lem (1921–2006), dem Lieblings-Science-Fiction-Autor meiner Kindheit: Ein Raumfahrer landet auf einem Wüstenplaneten, wo auf einmal alles unter Wasser steht. Ein Ingenieurs-Team hatte eine Methode entwickelt, Wasser synthetisch zu erzeugen, und so den ganzen ehemaligen Wüstenplanet in eine blühende Gartenlandschaft verwandelt. Der Duden-Definition zufolge ist das eine nachhaltige Wohltat, vergleichbar mit Aufforstung auf unserem Planeten.

Das Problem war nun, dass niemand diese Wohltäter mehr brauchte – also entwickelten sie sich zu einer Wohltätermafia. Sie verbreiteten die Ideologie, das ständige Waten im Wasser sei gesundheitsfördernd. Wer widersprach, landete im Gefängnis. So durften sie weiter bewässern – bis dem Volk auf diesem Planeten sprichwörtlich das Wasser bis zum Halse stand.2

Wirklich nachhaltig wäre es gewesen, wenn man diese Wohltätermafia rechtzeitig gebremst hätte. Aber dem Planeten fehlte eben ein Kompetenzzentrum für Nachhaltigkeit, wie wir es an der Uni Hamburg haben.

Gut gemeint

Ist eine solche »Wohltätermafia« nur Science-Fiction? Nein, die menschliche Geschichte ist voll von Glücksversprechen für die Menschheit, die in Wirklichkeit nur dazu da waren, eine Wohltätermafia mit mächtigen Posten zu versorgen und deren Kassen zu füllen.

Besonders dramatisch ist es, wenn sich die Akteure dessen nicht einmal bewusst sind, wenn sie es eigentlich gut meinen. Ein historisches Beispiel dafür ist die Medizin des 19. Jahrhunderts. Vor der Einführung strenger hygienischer Maßnahmen in Kliniken war es unüblich zu desinfizieren. Das galt sowohl für medizinische Instrumente als auch das medizinische Personal selbst.

Mit dem Nachweis von Viren und Bakterien mussten sich die »Götter in Weiß« eingestehen, dass dieselben Hände, die heilen wollten, auf dem Weg von der Pathologie in den Operationssaal Krankheiten verbreitet hatten.

Diese Erkenntnis war sicher eine schwere Erschütterung des Selbstverständnisses einer ganzen Berufsgruppe, die sich selbst als »Götter in Weiß« stilisierte. Aber auch die selektierende Sonderpädagogik und die humangenetische Beratung des 20. Jahrhunderts stehen seit einiger Zeit als Wohltätermafia unter Verdacht.3

Beispiel: Der Unterricht im Lippenlesen war als Wohltat für gehörlose Kinder gedacht. Um ihre Kommunikation mit Gebärden zu unterbinden, zwang man sie, sich während des Unterrichts auf ihre Hände zu setzen.

Aber nur weniger als ein Fünftel aller Laute lässt sich überhaupt treffsicher am Mundbild erkennen. Gesprochenes ist für Gehörlose wie ein Lückentext, den sie gedanklich ergänzen müssen. Deshalb verbrauchten gehörlose Kinder einen großen Teil ihrer kognitiven Energie allein für das Lippenlesen. Das Gegenteil von gut ist eben nicht immer böse, sondern manchmal auch: gut gemeint.

Bei anderen Menschen entstand dadurch der fälschliche Eindruck, Gehörlose seien »schwachsinnig«. Zusätzlich nährte man mit diesem Vorurteil ein weiteres: Lernschwierigkeiten kämen allein durch Sinnes-Schwächen in die Welt. Schnarrend – wie eine verrostete Gitarrensaite – schwingt dieses Vorurteil in vielen veralteten Worten mit: »Irrsinn«, »Schwachsinn«, »Wahnsinn«, »von Sinnen« usw.4

Heute weiß man, dass die Gebärdensprache der gesprochenen Sprache ebenbürtig ist. Bei Gehörlosigkeit ermöglicht die Gebärdensprache nicht nur das mühelose Verstehen, sondern fördert zusätzlich die kognitive Entwicklung. Das zeigt sich bei vielen virtuos gebärdenden Personen insbesondere in der Überlegenheit im räumlichen Denken.5

Wie verhält es sich mit dem zweiten Beispiel, der humangenetischen Beratung beim ungeborenen Kind mit einer Trisomie 21?

Geistig behindert schon vor der Geburt?

Personen mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom, haben es heute mit ähnlichen Vorurteilen zu tun wie damals Menschen, die unter den Bedingungen einer Gehörlosigkeit lebten. Aufgrund von 47 statt 46 Chromosomen in jeder Zelle erhalten sie schon vor der Geburt die Diagnose: geistig behindert. Die humangenetische Beratung bereitet Eltern darauf vor. In unserer vom Intelligenzkult bestimmten Wissensgesellschaft ist das nicht selten ein Todesurteil (siehe auch: Angst vor geringem IQ, 23 f.).

Erblicken die Kinder trotz dieser widrigen Umstände das Licht der Welt, müssen sie sich mit vielen Vorurteilen herumschlagen. Einige dieser Vorurteile haben ein großes Potenzial für sich selbst erfüllende Prophezeiungen (siehe auch: Vorwort, 9 f.).

Beispiel: Die Geistigbehindertenpädagogik glaubte, mit Kleinschrittigkeit und Anschaulichkeit Lernschwierigkeiten ausgleichen und ihnen vorbeugen zu können. Das galt als alternativlos, bis Frauen und Männer mit diesem Syndrom plötzlich Universitätsabschlüsse erwarben und promovierten, zumindest in Japan, Spanien, Italien, Israel und den USA.

Aus der Sicht der Erziehungswissenschaft ist das eine Sensation: Als wir Pablo Pineda, einen Lehrer mit Universitätsabschluss und Down-Syndrom, als Redner zu einem Kongress eingeladen hatten, drängten sich statt der erwarteten 400 Personen mehr als 800 in den Hörsaal.

In den letzten fünf Jahren habe ich gemeinsam mit wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Studierenden 1.294 Personen mit Trisomie 21 untersucht. Ergebnis: Menschen mit Trisomie 21 profitieren von abstrakter Bildung stärker als neurotypische Personen. Schon Zweijährige mit dem Syndrom lernen zuerst lesen und dann erst die Lautsprache – und sie verstehen Algebra besser als Arithmetik.

Der zwölfte Welt-Down-Syndrom-Kongress fand vom 18.–21. August 2015 in Chennai statt. Ausgerechnet in Indien! In diesem Land hat man den abstraktesten Begriff erfunden, den die Menschheit kennt und der von hohem praktischem Nutzen ist: die Null.

Die Hamburger Universität war mit fünf Delegierten vertreten. Unter den 540 Delegierten aus 41 Ländern waren 77 Personen mit Trisomie 21. Mit vielen von ihnen kamen wir ins Gespräch. Darüber hinaus gab es vielfältige Gelegenheiten für einen Erfahrungsaustausch mit Eltern und Persönlichkeiten der Forschung zum Fachgebiet Trisomie 21. Die Ergebnisse der von mir geleiteten fünfjährigen Trisomie-21-Studie wurden begeistert aufgenommen und von den Delegierten verschiedener Länder intensiv diskutiert.

Indien war deshalb die ideale Kulisse für diesen Kongress, weil in diesem Land circa zwei Millionen Menschen mit Trisomie 21 leben. Pränatal-Diagnostik ist in Indien eher die Ausnahme. Trotz großer Armut und hoher Kriminalität gibt es auch hier Hotels, die wie das Hamburger Stadthaushotel inklusive Arbeitsplätze schaffen.

Ein hervorragendes Beispiel in Chennai ist das Hotel Lemon Tree. Die Begeisterung der Belegschaft, die zu circa zehn Prozent aus Personen mit einer Trisomie 21 besteht, hat uns überzeugt. Das Hotelprojekt plant, den Anteil dieser Personengruppe auf 45 Prozent zu erhöhen. Das traf bei allen Delegierten auf großen Beifall.

Dreimal Nummer 21

Rückblick: Heute ist Welttag der Poesie – und seit 2006 auch Welt-Down-Syndrom-Tag. Der 21.3. (gelesen als 3 mal 21) spielt auf das dreifach vorhandene Chromosom 21 bei manchen Menschen an. Diese Mutation verursacht das Down-Syndrom, kurz: die Trisomie 21.

In diesem Jahr hat mich eine Elterninitiative nach Berlin eingeladen. Ich soll über meine neuropsychologischen Forschungsergebnisse berichten. Sie stammen aus Untersuchungen mit circa 2.000 Personen, darunter mehr als 1.200 Personen mit einer Trisomie 21. Die jüngste davon war fünf Monate alt, die älteste 73 Jahre.

Nun bin ich gerade auf dem Weg zum Vortragsort. Das Gewirr von Graffitis, Kreidebotschaften und...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2016
Zusatzinfo mit 87 Abb. und 7 Tabellen. Mit Beiträgen von Alfred Christoph Röhm, Kim Lena Hurtig-Bohn, Torben Rieckmann und Angela Kalmutzke
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Allgemeines / Lexika
Schlagworte Bildungsforschung • Entwicklungspsychologie • Inklusion • Neurowissenschaften • Pädagogik • Schüler
ISBN-10 3-647-99648-3 / 3647996483
ISBN-13 978-3-647-99648-6 / 9783647996486
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