Bildung anders denken -  Hans-Christoph Koller

Bildung anders denken (eBook)

Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse
eBook Download: EPUB
2023 | 3. Auflage
218 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042797-6 (ISBN)
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Education is still an important reference point in discussions over the justification, purpose and critique of educational activity. But how can the concept be understood in such a way as to do justice to contemporary social conditions and link up with research into actual educational processes? This book presents a new view of the concept that regards education as a process that fundamentally alters the way in which human beings behave towards the world, other people and themselves. This process is initiated when people face problems that their previous capacities do not give them the resources to overcome. Drawing on concepts from the fields of educational studies, philosophy, sociology and psychology, a theory of transformative educational processes is developed that allows one of the fundamental problems in educational studies to be considered in new and different ways.

Prof. Hans-Christoph Koller taught General Educational Studies at the University of Hamburg.

Prof. Hans-Christoph Koller taught General Educational Studies at the University of Hamburg.

2 Habitus, Kapital und sozialer Raum.
Zur Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus


Bourdieus Gesellschaftstheorie kann als ein erster Versuch verstanden werden, die Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen theoretisch zu erfassen, da sie mit dem Habitusbegriff ein Konzept dafür bereitstellt, die längerfristigen Dispositionen zu beschreiben und zu erklären, die entscheidend dazu beitragen, dass Individuen so und nicht anders wahrnehmen, denken und handeln – oder anders formuliert: dass sie sich auf eine ganz bestimmte Weise zur Welt, zu anderen und zu sich selbst verhalten. Das Konzept des Habitus und seine Bedeutung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse lassen sich dabei am besten erläutern, wenn man sie in den Kontext zweier weiterer zentraler Konzepte von Bourdieus Gesellschaftstheorie stellt, nämlich den des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals sowie den des sozialen Raums.

2.1 Bourdieus Begriff des Habitus


Der Begriff des Habitus steht im Zentrum von Bourdieus Versuch, eine Gesellschaftstheorie als »Theorie der Praxis« zu entwickeln, die den Gegensatz von Objektivismus und Subjektivismus in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung überwindet (vgl. zum Folgenden Bourdieu 1987, S. 97 – 121). Während objektivistische Ansätze Bourdieu zufolge die gesellschaftliche Wirklichkeit als eine objektive Gegebenheit begreifen, fassen subjektivistische Konzeptionen die Wirklichkeit als Resultat des konstruktiven Agierens der Subjekte auf. Dem Begriff des Habitus kommt nun innerhalb von Bourdieus Gesellschaftstheorie die Aufgabe zu, zwischen beiden Ansätzen zu vermitteln und das Verhältnis des subjektiven Handelns bzw. der »Praktiken« der Akteure zu den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen oder »Strukturen« genauer zu bestimmen.

In seinem Buch Le sens pratique, das auf Deutsch unter dem Titel Der soziale Sinn erschienen ist, beschreibt Bourdieu das Konzept des Habitus folgendermaßen:

»Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein« (a. a. O., S. 98 f.; Hervorhebungen im Original).

Der Habitus stellt für Bourdieu also ein System relativ stabiler Dispositionen des Denkens (»Vorstellungen«) und des Handelns (»Praktiken«) dar, die das Welt- und Selbstverhältnis der Akteure in einer grundlegenden Weise strukturieren. Dem Zitat lassen sich darüber hinaus weitere wesentliche Merkmale dieses Dispositionsgefüges entnehmen: Der Habitus ist demzufolge erstens objektiv an ein Ziel angepasst, aber nicht notwendigerweise subjektiv zweckgerichtet (er setzt kein »bewusstes Anstreben von Zwecken« voraus). Er ist zweitens regelhaft (»›geregelt‹ und ›regelmäßig‹«), ohne dass die Akteure sich der Regeln bewusst und um deren Einhaltung bemüht zu sein brauchen – ähnlich wie der Gebrauch einer Sprache Regeln folgt, die den Sprechern oft gar nicht explizit mental verfügbar sind. Und der Habitus ist drittens ein kollektives Phänomen, dem aber keine sichtbaren Formen der Lenkung oder Leitung des individuellen Verhaltens zugrunde liegen. Er ist mit einem Wort unbewusst in dem Sinne, dass für sein Funktionieren kein Bewusstsein der Akteure von seiner Existenz notwendig ist.

Die Wirkungsweise des Habitus besteht dem Zitat zufolge darin, als eine Art Mittelglied zwischen den objektiven Existenzbedingungen und dem subjektiven Handeln zu fungieren. Nicht besonders elegant, aber treffend formuliert kommt das in der Wendung vom Habitus als ›strukturiert-strukturierender Struktur‹ zum Ausdruck: Selbst durch die objektiven Existenzbedingungen strukturiert, wirkt er seinerseits strukturierend auf das individuelle und kollektive Handeln ein.

Fragt man nun danach, wie diese Funktionsweise einer unbewussten Strukturierung des subjektiven Handelns durch objektive gesellschaftliche Bedingungen zustande kommt, so zeigt sich als zentraler Mechanismus der Entstehung des Habitus die »Verinnerlichung« bzw. die »Einverleibung« äußerer Strukturen (a. a. O., S. 102 und 107) im Laufe eines längerfristigen Sozialisationsprozesses, der bei Akteuren, die derselben gesellschaftlichen Klasse angehören, ähnliche Resultate hervorbringt. Entscheidend dabei (und von Bedeutung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse) ist vor allem die körperliche Dimension dieses Entstehungsvorgangs. Bourdieu schreibt:

»Eine Institution, zum Beispiel die Wirtschaftsform, ist nur dann vollständig und richtig lebensfähig, wenn sie dauerhaft nicht nur in den Dingen, also in der über den einzelnen Handelnden hinausreichenden Logik eines bestimmten Feldes objektiviert ist, sondern auch in den Leibern, also in den dauerhaften Dispositionen, die diesem Feld zugehörigen Erfordernisse anzuerkennen und zu erfüllen« (a. a. O., S. 108).

Die Dauerhaftigkeit jener Dispositionen des Denkens und Handelns, die den Habitus ausmachen, beruht also vor allem darauf, dass er im Körper der Akteure verankert ist.

Die durch den Habitus vermittelte Wirkung der objektiven Strukturen auf die Praktiken der Akteure ist dabei Bourdieu zufolge allerdings nicht im Sinne einer völligen Determination zu verstehen, sondern als Limitierung. Der Habitus legt das Handeln der Individuen mithin nicht in allen Einzelheiten fest, sondern schließt nur bestimmte, mit den objektiven Existenzbedingungen unvereinbare Handlungsweisen aus. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einer »bedingte‍[n] Freiheit«, die von der »unvorhergesehenen Neuschöpfung« ebenso weit entfernt sei wie von der »simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen« (a. a. O., S. 103). Der Habitus stellt vielmehr eine »unendliche, aber dennoch strikt begrenzte Fähigkeit zur Erzeugung« (ebd.) »unendlich viele‍[r] und [...] relativ unvorhersehbare‍[r] Praktiken von dennoch begrenzter Verschiedenartigkeit« dar (a. a. O., S. 104) – wiederum vergleichbar mit den Strukturen einer Sprache, die es erlauben, aus einer begrenzten Anzahl von Elementen (Phonemen) und Verknüpfungsregeln (Wortbildung und Grammatik betreffend) eine unendliche Anzahl von Sätzen zu generieren, und die dennoch insofern limitierend wirkt, als sie bestimmte Möglichkeiten als ungrammatisch bzw. nicht zu dieser Sprache gehörig ausschließt.

Im Zusammenhang mit der Entstehung des Habitus war schon davon die Rede, dass der durch Verinnerlichung äußerer Strukturen entstandene Habitus den Akteuren gemeinsam ist, die derselben gesellschaftlichen Klasse angehören. Diese kollektive Dimension des Habitus bedeutet, dass der Habitus ein im Blick auf die jeweilige soziale Klasse oder Gruppe relativ homogenes System von Dispositionen darstellt. Die Ursache dafür besteht Bourdieu zufolge in der Homogenität der objektiven Existenzbedingungen und der damit verbundenen sozialen Konditionierungen der Mitglieder einer Klasse oder Gruppe (vgl. a. a. O., S. 111 f.). Nur so sei die oben beschriebene kollektive Wirkungsweise des Habitus ohne Absprache und ohne Dirigenten zu erklären. Zwar gesteht Bourdieu durchaus zu, dass es so etwas wie einen individuellen Habitus bzw. »Unterschiede zwischen den individuellen Habitusformen« gibt (a. a. O., S. 113), doch handelt es sich dabei ihm zufolge nur um individuelle Varianten ein und desselben Grundmusters, die durch die unendliche Anzahl möglicher Kombinationen derselben Elemente im Laufe eines Lebens erklärt werden können: »[J]‌edes System individueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der anderen Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt« (ebd.).

Die theoretische Leistung des Habitus-Konzepts besteht vor allem darin, dass es die relative Konstanz und Regelmäßigkeit sozialer Praktiken besser zu erklären vermag als andere Modelle (wie z. B. Theorien rationalen Handelns), indem es diese Stabilität statt auf den Einfluss formaler Regeln, expliziter Normen oder bewusster Strategien auf die Wirksamkeit gesellschaftlich bedingter und von den Akteuren verinnerlichter Habitusformen zurückführt. Diese Erklärungskraft hat vor allem mit der zeitlichen Dimension des Habitus zu tun:

»Als einverleibte, zur Natur gewordene...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2023
Zusatzinfo 2 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Allgemeines / Lexika
Schlagworte Bildungsprozesse • Empirische Untersuchung • Erziehungswissenschaft • Identität • Innovation
ISBN-10 3-17-042797-0 / 3170427970
ISBN-13 978-3-17-042797-6 / 9783170427976
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