Bewegter Stillstand -  Ulrich Heinemann

Bewegter Stillstand (eBook)

Die paradoxe Geschichte der Schule nach PISA
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2017 | 1. Auflage
502 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-4577-2 (ISBN)
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Anderthalb Jahrzehnte nach PISA 2000 zeichnet sich im Schulwesen eine paradoxe Situation ab. Die Bewegung, die in den Schulen durch eine umfassende Schulreform ausgelöst wurde, bleibt eine Entwicklung im rasanten Leerlauf. Die alte Lernschule und ihr ritualisierter Unterricht behaupten sich in leicht modernisierter Form. Das traditionelle Schulsystem kann dabei auf eine breite Unterstützung zählen, die von Lehrerverbänden über die Eltern bis in die Medien und die öffentliche Meinung reicht. PISA ist seit 2000 die zentrale Chiffre in der deutschen Schuldiskussion. Der internationale Schulleistungsvergleich der OECD und das enttäuschende Abschneiden des deutschen Schulsystems wirkten wie eine Initialzündung für zahlreiche schulpolitische Maßnahmen und private Initiativen. Sie sollten im Rahmen einer 'evidenz-basierten' Schulreform die deutschen Schulen chancengerechter, leistungsstärker und zukunftsfester machen. Die vorgelegte Bilanz nach 15 Jahren analysiert und bewertet Verlauf und Ergebnisse dieser Entwicklung. Zentrale Modernisierungsdefizite deutscher Schulen, etwa die aus dem 19. Jahrhundert stammende Arbeitsorganisation oder die fest im 20. Jahrhundert verorteten Leistungskriterien einer ethnisch und sozial homogenen Mittelschichtskultur, werden in der Bundesrepublik nicht thematisiert, sondern tabuisiert. Die Schule des 21. Jahrhunderts ist damit nicht zu bauen.

Ulrich Heinemann, Jg. 1950, Dr. phil., war Abteilungsleiter im Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW und ist Lehrbeauftragter an den Universitäten Bochum und Münster.

Inhalt 6
Einleitung 12
Kapitel I: Reform und System: Vom Nebeneinander öffentlicher Ziele und latenter Zwecke der Schule 23
1. Messbar leistungsstärker, bildungsgerechter, individueller: Die öffentlichen Ziele der Schulreform 24
2. Sozialisation, Selektion und Selbstbehauptung: Latente Zwecke des Schulsystems 29
3. PISA 2000 – 2012: Das Schulsystem zwischen Entwicklung und Stagnation 30
4. Ritual schlägt Ideal: Zur Anlage des Unterrichts an deutschen Schulen 33
5. „Auf die Mittelköpfe kalkuliert“: Zu Fokus und Nachhaltigkeit der schulischen Wissensvermittlung 40
6. ‚Qualitätsfassaden‘: Vom Zusammenhang anspruchsvoller Lehrpläne und unterkomplexer Lernleistungen 46
7. Ein „träger Trend“ zum Besseren: Der Umgang der Schulen mit Vielfalt und Verschiedenheit 51
8. „Deutliche Züge einer Parentokratie“: Der Bildungserfolg und die Effekte der sozialen Herkunft 56
9. Objektiver – aber längst nicht neutral: Schulische Selektion und Segregation nach PISA 60
10. Sozialisation für das vergangene Jahrhundert: Die Bildungswirkung des Schulsystems heute 66
11. Reform oder System: Wer oder was bestimmt die Schule von morgen? 70
Kapitel II: Hermetische Profession: Das kollektive Gedächtnis der Lehrerschaft 74
1. Beliefs, Habitus und kollektives Gedächtnis: Zugänge zum Verständnis des Lehrerbewusstseins 74
2. Helden und Prügelknaben: Zu den Selbst- und Fremdbildern der Lehrerschaft 79
3. Ziemlich beste Feinde: Das Ethos der Lehrer und die Realität der Schüler 84
4. Phalanx mit Rissen: Gemeinsamkeiten und Differenzen im Bewusstsein verschiedener Lehrergruppen 89
5. Kampf um die pädagogische Freiheit: Autonomie zentriertes versus wirksamkeitsorientiertes Professionsverständnis 94
6. Berufsstand ohne Bezugswissenschaft: Zur Rolle der Pädagogik in der universitären Lehrerausbildung 99
7. Halbe Profis für das Lehren und Lernen: Aus- und Fortbildung als nicht genutzte Chancen 104
8. Unter dem Feldzeichen Pädagogischer Allzuständigkeit: Die Interessenvertretungen der Lehrerschaft 112
9. Für Elite gegen Gleichmacherei: Die konservativen Lehrerverbände 114
10. Für Einheitsschule und Einheitsbezahlung: Die progressiven Lehrerverbände 118
11. Vorrang für Lehrerinteressen: Das Credo aller Lehrerverbände 121
Kapitel III: „Wie vor hundert Jahren“: Schule als lernschwache Arbeitskultur 128
1. Archimedischer Hebel der Schulreform: Die neue Steuerung 129
2. Theoretisch konkurrenzlos – praktisch wirkungsarm: Die Selbstständige Schule 132
3. Was nicht passt, wird passend gemacht: Schulreform als Reform-Camouflage 137
4. „Am stärksten vom Burn-out-Syndrom betroffen“: Die Eigenwahrnehmung der Lehrkräfte 140
5. „Keine auffälligen Unterschiede“: Lehrkräftebelastung im Vergleich 143
6. Klagen auf hohem Niveau: Lehrkräftebezahlung und schulische Ressourcenausstattung 147
7. „Organisation ohne nachweisbare Rationalität“: Die Arbeitszeit der Lehrkräfte 151
8. Halbtags-Unterricht und 45-Minuten-Takt: Bastionen des schulischen Strukturkonservativismus 155
9. Hoheitliche Aufgabe in pädagogischer Allzuständigkeit: Zur Kritik des Beamtenstatus für Lehrkräfte 159
10. Funktionale Differenzierung durch Multiprofessionalität: Voraussetzungen zukunftsfähiger Schulreform 162
11. „Für den Ganztag, gegen den ganzen Tag“: Paradoxien und Anachronismen aktueller Schulentwicklung 168
12. Arbeitskultur-Arbeitsverhältnisse-Arbeitsraum: Verdrängte Kernprobleme der Schulstrukturdebatte 171
Kapitel IV: Embedded Sciences: Bildungswissenschaften als gespaltene Systembetreuungswissenschaften 178
1. Normativ begründen – empirisch beschreiben – Wirksamkeit analysieren: Was sind, was wollen und was tun Bildungswissenschaften? 178
2. Konservieren – Transformieren – Reformieren: Zur Rolle wissenschaftlicher Pädagogik in historischer Perspektive 182
3. Kräfteverschiebung nach PISA: Zum Verhältnis von geisteswissenschaftlicher Pädagogik und empirischer Bildungsforschung 186
4. Gegen „politische und ökonomische Übergriffe auf das Bildungssystem“: Die Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. 192
5. Pädagogische ‚Maschinenstürmer‘: Zur Einordnung der erziehungswissenschaftlichen Kritik an der Bildungsreform 196
6. Elaborierte Methoden – Verengte Perspektiven: Entwicklungstendenzen empirischer Bildungsforschung 201
7. Hilfreiches Wissen für die Schulreform?: Zu Stand und Einstellung, Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Bildungsforschung 206
8. ‚Erfolgsgeschichte‘ Schulentwicklung: Der pädagogisch-publizistische Komplex und seine Zirkelschluss-Rhetorik 214
9. Keine Äquidistanz: Zum Verhältnis von Bildungswissenschaften, Politik und Schulsystem 220
Kapitel V: Von Scheinriesen und heimlichenGiganten: Die Stakeholder des Schulsystems 229
1. „Lediglich in Einzelfällen belegbar“: Schulpreise, best practice und die Wirkungen 230
2. Verbesserungs- oder Verwertungsinteresse? Selbst- und Fremdbilder der Bildungsstiftungen 233
3. „Stets das bessere Ende für sich“: Programmatik und Performance der Bildungsstiftungen 238
4. Kaum Passung: Kopplungsprobleme zwischen dem System Schule und dem System Wirtschaft 245
5. Staatlich-kommunale Verantwortungsgemeinschaft? Zur Rolle und Bedeutung von kommunalen Schulträgern und regionalen Bildungsnetzen für die Schulentwicklung 251
6. What works? Stadtteile – Stadt – ländlicher Raum: unterbelichtete Einflussgrößen des Schulerfolgs 257
7. Gefesselte Riesen: Vision und Wirklichkeit des regional governance 260
8. Mythos katholisches Arbeitermädchen vom Lande: Bildungsungleichheit als historisches Erbe in Deutschland 262
9. Mehr Chancen für mein Kind: Zum Verhältnis von elterlichem Bildungsdruck, sozialer Abstiegsangst und schulischem Strukturkonservativismus 266
10. Heimliche Giganten im Schulsystem: Organisierte Eltern zwischen Widerspruch und Anpassung 272
11. Only bad news is good news: Die Medien und die Schulreform 279
12. Akteure der Beschleunigung: Zur Rolle der Stakeholder im Schulsystem 281
Kapitel VI: Getriebene Treiber: Schulpolitik und Schuladministration nach PISA 285
1. Rückbau statt Ausbau: Tendenzen schulaufsichtlicher Entwicklung nach PISA 286
2. Kienbaum und die Folgen: Schulaufsichtliche Reformüberlegungen vor PISA 290
3. Zwischen partnerschaftlicher Kommunikation und hoheitlicher Anweisung: Zum problematischen Verhältnis von Schuladministration und Schule 293
4. Administrativer Arm mit reduzierter Schlagkraft: Die Schulaufsicht in der Praxis der Schulreform 298
5. Gefangen im Selbstständigkeitsdispositiv: Schulpolitik in den Verhältnissen – machtlos 303
6. ‚Gute Schule‘ auf dem Papier: Schulpolitik als Symbolpolitik – erfolgreich 308
7. Neue (alte) Unübersichtlichkeit: Die Schulstrukturdiskussion und ihre Entwicklung in Deutschland 315
8. „Zweigliedrigkeit“: Keine Garantie für mehr Chancen und bessere Bildung 319
9. „G8/G9“: Von der Fragilität reformpolitischer Geländegewinne 325
10. Die üblichen Verdächtigen? Zur Versachlichung der Diskussion über den Bildungsföderalismus 329
11. Bund und Land Hand in Hand – chancenlos: Der Bildungsföderalismus und seine (selbstgesetzten) Grenzen 333
Kapitel VII: Exkurs: „Große Erzählung“ und„Geteilte Wirklichkeit“: Schulische Inklusion zwischen Theorie und Praxis 339
1. Das suggestive Ideal: Inklusion als Menschenrecht auf Chancengleichheit 340
2. Euphorie und Ernüchterung: Die Unterstützerszene formiert sich 343
3. Heterogenität in der Förderung von Vielfalt: Die Inklusionspolitik der Bundesländer 347
4. Wider die Abschaffung der Sonderschulen: Die förderpädagogische „Zunft“ in der Inklusionsdebatte 351
5. Inklusive Schulen in Praxis und Theorie: Zum Widerspruch zwischen berufsständischen und pädagogischen Ansprüchen 355
6. Vom Traum zum Trauma: Der Fall der Inklusion in Schule und Lehrerschaft, Öffentlichkeit und Elternschaft 359
7. „Geteilte Wirklichkeit“: Desegregation mit sozialer Schieflage 363
Zusammenfassung 371
Anmerkungen 389
Benutzte Literatur (Auswahl) 460

Erscheint lt. Verlag 16.1.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-4577-0 / 3779945770
ISBN-13 978-3-7799-4577-2 / 9783779945772
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