Das soziale Band (eBook)

Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs
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2016 | 1. Auflage
406 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43542-8 (ISBN)

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Das soziale Band -
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Vom 'sozialen Band' spricht man in Alltags- und Wissenschaftssprache gerne, wenn es darum geht, eine Krise des Sozialen zu diagnostizieren. Was aber ist das soziale Band? Zwischen wem ist es wie geknüpft? Und wann droht es zu reißen? Das Buch arbeitet erstmals systematisch und interdisziplinär diesen sozialtheoretischen Grundbegriff auf. Mit Beiträgen u.a. von Ulrich Bröckling, Marcel Hénaff, Frank Hillebrandt, Isabell Lorey, Dirk Quadflieg, Juliane Spitta und Gesa Ziemer.

Thomas Bedorf ist Professor am Institut für Philosophie der FernUniversität in Hagen und derzeit Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Steffen Herrmann, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der FernUniversität Hagen.

Thomas Bedorf ist Professor am Institut für Philosophie der FernUniversität in Hagen und derzeit Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Steffen Herrmann, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der FernUniversität Hagen.

Inhalt 6
Vorwort 10
Das Gewebe des Sozialen. Geschichte und Gegenwart des sozialen Bandes – Thomas Bedorf und Steffen Herrmann 12
I. Webarten 50
Das soziale Band, das politisches Band: Allianz, Gewalt, Anerkennung – Marcel Hénaff 52
Konnektivität und Zusammenhalt. Von den zwei Soziologien des sozialenBandes – Lars Gertenbach 73
Sich geben. Zur Negativität dessozialen Bandes – Dirk Quadflieg 97
Agonale Vergemeinschaftung. Normative Grundlagen des Gabentausches nach Marcel Mauss – Steffen Herrmann 121
II. Zerreißproben 142
Wer denkt asozial? Von Aristoteles zu Hobbes – Frank Ruda 144
Von den Regimen der Prekarisierung zur Cuidadanía. Für ein sorgegeleitetes Verständnis des sozialen Bandes – Isabell Lorey 165
Would be a good idea. Das soziale Band in Europa zwischen Krise und beredtem Schweigen – Juliane Spitta 184
Was ist das soziale Band der Demokratie? Eine demokratische Kritik der Produktion des prekären Lebens – Sofia Näsström und Sara Kalm 204
III. Unauflöslichkeit 232
Agonistische Demokratietheorien und das »Band der Teilung«. Bemerkungen zur Theorie des Bürgerkriegs im Anschluss an Nicole Loraux – Oliver Marchart 234
Ökonomische Praxis. Zur überraschenden Verbindlichkeit des Tauschens – Frank Hillebrandt1 263
Die Unauflöslichkeit des sozialen Bandes – Thomas Bedorf 294
Das Band der Affekte. Relationalität in Spinozas immanenter Ontologie der Menge – Kerstin Andermann 312
IV. Vollzugswirklichkeiten 334
Das Paradox des sozialen Bandes. Psychoanalytische Perspektiven – Michael Schmid 336
Das Band des Sozialen und der Bann des Anderen. Grundfiguren des Sozialen bei Émile Durkheim und Judith Butler – Florian Heßdörfer 361
Performing urban citizenship. Komplizenschaft als soziale Praxis von Kollektivbildung – Gesa Ziemer 378
Andere Bänder. Ein metaphorologischer Kommentar – Ulrich Bröckling 393
Autorinnen und Autoren 404

Vorwort
Der Begriff des 'sozialen Bandes' dient in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen dazu, eine grundlegende Form der Verbundenheit zwischen Subjekten deutlich zu machen. Dabei ist die Existenz einer solchen sozialen Verbundenheit keine Selbstverständlichkeit, sondern wird als Resultat komplexer historischer Vergemeinschaftungsprozesse verstanden. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert scheinen sich dabei traditionelle gesellschaftliche Ressourcen der sozialen Bindung zunehmend erschöpft zu haben. Die dafür angeführten Gründe sind zahlreich: in der flexibilisierten Berufswelt die zunehmende Unsicherheit der sogenannten Erwerbsbiographien; das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich bzw. präziser zwischen Arbeitsplatzbesitzenden und Arbeitslosen oder prekär Beschäftigten; in der politischen Arena zurückgehende Verankerung einer demokratischen Kultur, um die Prozesse der politischen Willensbildung mit Leben zu füllen; im Hinblick auf die Kultur die Tatsache, dass alle kulturellen Erzeugnisse aufgrund ihrer Warenförmigkeit einen Sinnverlust erlitten haben und die interkulturelle Integration stets prekär bleibt; oder schließlich im Hinblick auf religiöse Sinnstiftungssysteme die durch die Privatisierung des Glaubens mangelnde Hanlungsorientierung in einer säkularisierten Gesellschaft. Der dadurch ausgelöste Wandlungsprozess wird von vielen gesellschaftlichen Akteuren als ein Verlust an sozialem Zusammenhalt erfahren. Vielfach wird daher die Frage gestellt, ob und wenn ja welche neuen Formen der sozialen Bindung an die Stelle der alten treten können. Ist Gemeinschaftlichkeit in einer (post-)modernen Welt überhaupt noch möglich? Unter welchen Bedingungen lassen sich Pluralität und Solidarität miteinander vereinbaren? Oder ist mit der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden Individualisierung die Idee der sozialen Zusammengehörigkeit selbst zum Anachronismus geworden?
Um diese Fragen zu beantworten verfolgt der vorliegende Band drei Zielsetzungen: Das grundlagentheoretische Vorhaben besteht in einer Klärung, Ausdifferenzierung und Systematisierung unterschiedlicher Konzeptionen des sozialen Bandes; das zeitdiagnostische Vorhaben zielt auf eine Untersuchung gegenwärtiger Erosionen von sozialen Bindungen und das explorative Vorhaben auf die Aufdeckung und Sichtbarmachung von alternativen Formen der Sozialintegration. Um diese Ziele zu erreichen, haben wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Bereichen (Philosophie, Soziologie, Politologie, Ethnologie, Kulturwissenschaften) eingeladen. Der Großteil der hier publizierten Beiträge geht dabei auf Vorträge und Diskussionen zurück, die auf einer Tagung im März 2015 an der FernUniversität in Hagen stattgefunden haben. Diese wurden um weitere Beiträge ergänzt.
Die Herausgeber haben für die Verwirklichung ihres Vorhabens nicht nur der FernUniversität für die Förderung der Tagung und der Drucklegung, sondern auch allen Mitarbeitenden am Lehrgebiet Philosophie III zu danken, deren weit überdurchschnittliches Engagement Tagung und Publikation möglich gemacht haben: Dennis Claussen, Christoph Düchting, Selin Gerlek und Christoph Manfred Müller. Ein besonderer Dank gilt Selin Gerlek und Philipp Zimmermann für die Erarbeitung der Übersetzungen sowie Sarah Kissler für ihre Sorgfalt und ihren Scharfblick bei der redaktionellen Fertigstellung des Manuskripts. Den Autorinnen und Autoren dürfen wir schließlich für ihre Bereitschaft zum interdisziplinären Dialog danken.
Thomas Bedorf und Steffen Herrmann
Hagen, im Juni 2016
Das Gewebe des Sozialen. Geschichte und Gegenwart des sozialen Bandes
Thomas Bedorf und Steffen Herrmann
Ein Band soll zusammenhalten, was auseinanderzufallen droht. Das sorgsame Binden kann dabei schnell ins zwanghafte Einschnüren übergehen, woran sich zeigt, dass das, was zusammengebunden werden soll, nicht immer zusammengebunden werden will. Auf eben diese Weise verhält es sich auch mit unseren sozialen Bindungen: Was den einen als gemeinschaftlicher Halt erscheint, ist den anderen schon Fessel. Deutlich wird damit, dass Bindung kein Wert an sich ist und ihre Bewertung vom Kontext und der jeweiligen Qualität der Beziehung abhängt. Entsprechend wird die Rede vom sozialen Band in unserer Alltagssprache auf ganz unterschiedliche Weise geführt. So wird der Begriff zunächst einmal auf verschiedene gesellschaftliche Sphären angewandt: Wir sprechen von den Banden der Familie, der Freundschaft und der Verwandtschaft, wir sprechen aber auch von der Kleingruppe als einem Verband und schließlich auch vom Band der Gesellschaft und gar der Menschheit überhaupt. Unsere Rede vom sozialen Band kennt darüber hinaus ganz unterschiedliche Temporalitäten: Das soziale Band soll uns in der unmittelbaren Interaktion in Kontakt halten, mittelfristige Bindungen ermöglichen und gar lebenslange, dauerhafte Verknüpfung herstellen. Ferner kann das Medium der sozialen Bindung ganz unterschiedlicher Art sein: Sei es die affektive Ansteckung, die leibliche Synchronisierung oder die sprachlich erzielte Verständigung - auf all diese Weisen treten Individuen in Verbindung.
Dass der Begriff des sozialen Bandes für die Sozialtheorie seit jeher einen fruchtbaren Begriff ergibt, zeigt sich daran, dass er im Mittelpunkt einer ganzen Reihe von disziplinären Gründungstexten steht. So formuliert etwa Platon im Timaios eine Leitidee, die auch für seine politische Philosophie grundlegend ist, mit den Worten:
'Zwei Dinge allein aber ohne ein drittes wohl zusammenzufügen ist unmöglich, denn nur ein vermittelndes Band (desmon en meso) kann zwischen Beiden die Vereinigung (amphoin synagogon) bilden. Von allen Bändern aber ist dasjenige das schönste, welches zugleich sich selbst und die durch dasselbe verbundenen Gegenstände möglichst zu Einem macht.'
Ebenso nimmt das soziale Band in einem Gründungstext der Sozialphilosophie, nämlich Jean-Jacques Rousseaus Contract Social (1762) eine zentrale Rolle ein, wenn es heißt: 'Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das soziale Band (lien social), und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben.' In der Soziologie wiederum macht Émile Durkheim mit seinem einschlägigen Text Über soziale Arbeitsteilung (1893) das 'soziale Band' zum Gegenstand einer vergleichenden Analyse unterschiedlicher Sozialitätsformen. Und für die moderne Sozialanthropologie erklärt Bronislaw Malinowski in seinem einschlägigen Werk Argonauten des westlichen Pazifik (1922) die Untersuchung der 'Bande sozialer Gruppenbildung' zum zentralen Gegenstand seiner Arbeit.
Die Rede vom sozialen Band findet sich also am Anfang der politischen Philosophie, der Sozialphilosophie, der Soziologie und der Sozialanthropologie. Mehr noch: Das soziale Band wird hier nicht einfach nur erwähnt, sondern es bildet das eigentliche Thema jener Disziplinen, die durch die genannten Werke ins Leben gerufen worden sind. Entsprechend wird man erwarten, dass der Begriff selbst hier ausführlich zum Gegenstand der Reflexion geworden ist. Doch so verwunderlich es klingen mag, gerade hier gilt es Grundlagenarbeit zu leisten: Obgleich der Begriff des sozialen Bandes in der Sozialtheorie häufig gebraucht wird, ist er selbst und seine Geschichte kaum einmal zum expliziten Gegenstand der Reflexion geworden. Dieses Desiderat aufgreifend, wollen wir in unserem einleitenden Beitrag eine Skizze der Geschichte und der Gegenwart des sozialen Bandes zeichnen.
Eine heuristische Orientierung im Theoriefeld lässt sich dabei mit Hilfe der Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen sozialen Bindungen gewinnen. Während erstere den Zusammenschluss zwischen einzelnen Individuen thematisieren, wird mit letzteren die Bindungen zwischen den Individuen und den gesellschaftlichen Institutionen, in denen sie leben zum Gegenstand. Obwohl horizontale und vertikale Bindungen in unserer Lebenswelt immer kreuzweise zu einem Gewebe verflochten sind, insofern soziale Beziehungen nur in politischen Institutionen eingegangen werden und politische Institutionen von sozialen Beziehungen leben, ist die Untersuchung beider Bindungsformen methodisch doch unterschieden worden: Während es sich die Sozialphilosophie zur Aufgabe macht, unterschiedliche Formen der horizontalen Bindung zwischen Ich und Anderem nachzuzeichnen, untersucht die politische Philosophie unterschiedliche Formen der vertikalen Bindung. In der Folge beschäftigt sich die Sozialphilosophie oftmals allein mit Fragen der Intersubjektivität, während sich die politische Philosophie auf Fragen der Legitimität beschränkt. Will man soziale Bindung umfassend verstehen, bedarf es aber freilich beider Perspektiven. Das Gewebe des Sozialen entsteht genau da, wo horizontale und vertikale Bänder miteinander verwoben werden. Von welcher Qualität und Dichte dieses Gewebe ist, wird im Einzelfall davon abhängen, wie genau die einzelnen Bindungen beschaffen sind. Entsprechend muss es die Aufgabe einer Theorie des sozialen Bandes sein, ein normativ gesättigtes theoretisches Vokabular sowohl zur Beschreibung der Beschaffenheit von horizontalen und vertikalen Bindungen als auch für die Arten ihrer Verwebung bereitzustellen. Wenn wir es uns daher im Folgenden zur Aufgabe machen, unterschiedliche Webarten des Sozialen vorzustellen, dann wollen wir unser Augenmerk insbesondere darauf legen, wie horizontale und vertikale Bindungen miteinander verflochten sind.
I. Zur Geschichte des sozialen Bandes
Nahezu die gesamte Geschichte der praktischen Philosophie lässt sich als eine Geschichte des sozialen Bandes lesen. Das liegt jedoch weniger daran, dass der Begriff selbst hier zum expliziten Gegenstand geworden wäre, sondern vielmehr daran, dass sich die praktisch-politische Philosophie seit der Antike immer auch mit Fragen der Normativität von Gemeinschaft und der Legitimität von Herrschaft auseinandergesetzt hat. Die Reflexion konkreter politischer Institutionen und Regierungsformen ist so (wenigstens implizit) mit der Reflexion von horizontalen und vertikalen Bindungen verknüpft gewesen. Eben dieser Zusammenhang ist der Grund dafür, dass wir die Geschichte des sozialen Bandes im Folgenden entlang einiger wichtiger Stationen aus der politischen Ideengeschichte entwickeln wollen.
Von der Lebenspraxis zur Lebensform
Bereits Platon und Aristoteles haben das soziale Band zum Gegenstand ihrer praktischen Philosophie gemacht. Beiden gilt es dabei als selbstverständlich, dass eine Gemeinschaft nur dann als gut gelten kann, wenn sie nicht nur gerecht, sondern auch inklusiv verfasst ist. Entsprechend hält Platon fest, dass es kein 'größeres Unglück für einen Staat [gibt], als jenes, das ihn zerreißt und aus einem in viele aufspaltet', wohingegen kein 'größeres Gut [existiert] als jenes, das ihn zusammenbindet und zur Einheit macht'. Und auch Aristoteles unterstreicht, dass es neben der Gerechtigkeit auch der 'Eintracht' im Staat bedarf und es gilt, die 'Zwietracht [...] am meisten zu vertreiben.' Um diesem Anspruch gerecht zu werden, reflektieren beide in ihren Werken gezielt, wie das soziale Gewebe der Polis beschaffen sein soll. Während Platon dabei die Einheit der Lebenspraxis in den Mittelpunkt rückt, ist es für Aristoteles die Einheit der Lebensform, die ihm als Grundvoraussetzung für eine starke Polisgemeinschaft gilt.
Platon kommt auf die Frage der Einheit des Sozialen in der Politeia ausgehend von seinen gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen zu sprechen. Gerecht, so argumentiert er dabei bekanntlich, ist ein Staat nur dann, wenn ein jeder Stand das seinem dominanten Seelenteil entsprechende Leben führt. Gemäß seiner Dreiteilung der Seele in einen begehrenden, tapferen und vernünftigen Teil versteht er den gerechten Staat als Zusammenspiel von drei Ständen: dem Nährstand der Bürger, der Sorge für die materielle Reproduktion zu tragen hat, dem Wehrstand der Wächter, der nach innen polizeiliche und nach außen militärische Aufgaben übernimmt und dem herrschenden Stand, der für die Regierung und Gesetzgebung zuständig ist. Während Platon in seinen Ausführungen über die Lebensweise der Bürger kaum ein Wort verliert, wendet er sich mit großer Ausführlichkeit der Lebensweise der Wächter zu. Das liegt daran, dass diesem Stand die Aufgabe zukommt, für die Wohlgeordnetheit des Zusammenlebens des ersteren zu sorgen, indem er darauf achtet, dass es zu keiner übermäßigen Ungleichverteilung von Armut und Reichtum kommt. Um einer solchen Aufgabe gewachsen zu sein, so Platon weiter, bedarf der Wächterstand einer besonderen Lebensweise. Unparteilichkeit kann er nur dann zwischen den Betroffenen walten lassen, wenn er vor der Versuchung gefeit ist, seine privilegierte Position zur eigenen Vorteilsnahme auszunutzen. Das ist jedoch nur möglich, wenn Armut und Reichtum für ihn selbst gar keine existenziellen Kategorien sind und also keinen Besitz hat.
Die Gegenüberstellung zwischen dem Leben der Bürger und dem Leben der Wächter kann nun als Entgegensetzung zwischen bürgerlicher und kollektiver Existenzweise verstanden werden, die Platon den Ruf eingebracht hat, Vertreter eines Urkommunismus zu sein. Wenn er nämlich Sokrates' Gesprächspartner Glaukon rhetorisch fragen lässt, ob die Wächter durch ihre Ausschließung von den Freuden des Privateigentums nicht zwangsweise ein unglückliches Leben führen, so kann er Sokrates zu eben jener Rede ansetzen lassen, die zu dem Nachweis führen soll, dass der Wächterstand das 'beste Leben' führt. Das beste Leben, so erfahren wir dann in der Rede des Sokrates, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Idee, dass der Wächterstand als eine Gemeinschaft von Genießenden zu verstehen ist. In den Mittelpunkt stellt er dabei zwei Formen des 'fleischlichen Genusses':
Die erste Form des Genusses würden wir einer weitverbreiteten Redewendung nach heute freilich kaum 'platonisch' nennen: den wechselseitigen sexuellen Genuss. Dennoch gilt er Platon als eine zentrale Vergemeinschaftungspraxis, dessen Ursache mehr oder weniger kausal in der Gütergemeinschaft begründet liegt. Insofern die Wächter kein Eigentum besitzen, haben sie auch kein Eigenheim, sondern teilen ihre Wohnung mit anderen. Daraus aber, so hält er fest, folgt früher oder später zwar nicht mit 'mathematischer', aber doch mit 'erotischer Notwendigkeit' eine wechselseitige Attraktion, die zum tieferen Sinn dieser Wohngemeinschaft führt: Durch gemeinsame sexuelle Handlungen wird für Platon ein soziales Band zwischen den Beteiligten gestiftet, da diese sich, indem sie körperlich 'ein Fleisch' werden, auch geistig miteinander identifizieren. Wenn Platon in der Folge betont, dass der sexuelle Genuss zwischen den Wächterinnen und Wächtern nicht mehr exklusiv, sondern inklusiv organisiert ist, dass also ein jeder und eine jede mit einer jeden und einem jedem sich hier vereinigen kann, dann dehnt er diesen Identifikationsprozess auf die ganze Gruppe aus. Gesellschaftliche Polyamorösität ist für ihn nicht in erster Linie ein Mittel zur Triebabfuhr, sondern ein sozialer Mechanismus zur Stiftung kollektiver Identität.
Die zweite Form des Genusses, welche die Wächterinnen und Wächter teilen sollen, ist alimentärer Art. Im Rückgriff auf das spartanische Ritual der Syssitien macht Platon die Teilnahme an einer gemeinsamen Mahlzeit nämlich zur Pflicht. Wie im Fall des sexuellen Genusses soll auch in diesem Fall die Nahrungsaufnahme nicht in erster Linie der Bedürfnisbefriedigung, sondern vielmehr der Identitätsbildung dienen. Und zwar nicht mehr dadurch, dass sich die Beteiligten zu einem Fleisch vereinigen, sondern genau umgekehrt: dadurch, dass sie von einem Fleisch zehren. Indem ein jeder etwas von der gleichen Sache zu sich nimmt und seine Vitalität damit aus der gleichen Quelle reproduziert, haben die am Mahl Beteiligten unmittelbar etwas gemeinsam.
Die Lebensweise der Wächterinnen und Wächter macht deutlich, wie Platon sich die Stiftung eines sozialen Bandes vorstellt: Kollektiver sexueller und alimentärer Genuss gelten ihm nicht einfach als Befriedigung animalischer Bedürfnisse, sondern sie stellen soziale Mechanismen der horizontalen Vergemeinschaftung dar. Ausgehend von ihnen glaubt Platon die Einheit des Staates auf einer existenziellen Ebene verankern zu können. Die Uniformität der reproduktiven Lebensvollzüge soll die Einzelnen einander soweit angleichen, dass sie sich letztlich nicht mehr elementar voneinander unterscheiden. Platons Staat wird daher nicht von einer Vielzahl von Individuen bewohnt, sondern von Individuen, die sich in allen für den Staat relevanten Merkmalen ähnlich sind und sich aufgrund dieser Ähnlichkeit miteinander identifizieren. Von Individuen im neuzeitlichen Sinne kann daher keine Rede sein.
An eben diesem Punkt setzt Aristoteles' Kritik an Platons Modell des idealen Staates ein. Für ihn beruht die Einheit des Staates nämlich nicht mehr auf der Ähnlichkeit, sondern auf der Verschiedenheit der Lebenspraktiken. Ausgangspunkt dieser Positionierung ist eine interne Kritik an der von Platon vorgetragenen Position. Gesetzt nämlich, so Aristoteles, 'es wäre wirklich das beste, daß die Gemeinschaft eine möglichst einheitliche sei', würden sich drei Schwierigkeiten ergeben. Die erste entspringt in dem Umstand, dass Platon die durch die Lebensweise der Wächter hervorgebrachte Einheit heillos überschätzt. Im Vergleich zum Privateigentum verringert der kollektive Güterbesitz nämlich nicht nur die Identifikation mit den Gütern - was schnell zu Sorglosigkeit, Vernachlässigung und Verwahrlosung führen kann -, sondern vielmehr bringt der kollektive Besitz auch mehr Zwist und Streitigkeit hervor, da Verfügungsansprüche jedes Mal neu ausgehandelt werden müssen. Eine zweite Schwierigkeit sieht Aristoteles darin, dass Platon keine Auskunft über die Lebensweise des untersten Standes gibt, obwohl dieser doch die größte Zahl der Bürgerinnen und Bürger stellt. Würde aber auch dieser Stand in Güter- und Geschlechtergemeinschaft leben, dann würden die in der Lebensweise der Wächter diagnostizierten Probleme hier schlicht wiederkehren. Eine weitere Schwierigkeit resultiert für Aristoteles schließlich daraus, dass Platon uns nichts über das Verhältnis der unterschiedlichen Stände zueinander sagt und damit (in unserer Terminologie) die Frage des vertikalen sozialen Bandes ignoriert. Insofern die Wächter aber als eine Art Besatzung konzipiert sind, lässt Platons Entwurf einer idealen Polis in 'einem Staat zwei Staaten entstehen', die sich feindselig gegenüberstehen. Aristoteles hält Platons Modell also von innen heraus zum Scheitern verurteilt, da es die Konfliktualität der Kollektivität unterschätzt, im Hinblick auf die Lebensweise großer Bevölkerungsteile unterbestimmt ist und zu einem Ständeantagonismus führt.
Den grundsätzlichen Fehler von Platons Überlegungen sieht Aristoteles darin, dass dieser die Polis nach dem Vorbild der Familie zu konzipieren versucht. Demgegenüber betont er, dass die Polis ein Zusammenschluss ganz verschiedener Einheiten (Haus, Dorf, Stadt) ist und daher als eine 'Vereinigung der Vielen' gedacht werden muss. Als Modell einer solchen Vereinigung der Vielen gilt Aristoteles die Freundschaft, weshalb er auch entsprechend konstatiert: 'Wir sehen die Freundschaft als das größte Gut für die Staaten an.' Um Aristoteles' Modell der an der Freundschaft orientierten Einheit der Polis besser zu verstehen, sollten wir uns kurz seine Überlegungen aus der Nikomachischen Ethik vor Augen führen: Aristoteles unterscheidet hier zwischen drei Formen der Freundschaft: Jener, die aus Nützlichkeit eingegangen wird, jener die aufgrund der Lust und des Angenehmen gesucht wird und jener die auf dem Charakter beruht. Vor allem die Nutzen- und die Charakterfreundschaft werden dabei von Aristoteles scharf kontrastiert, denn beide unterscheiden sich zunächst einmal deutlich hinsichtlich ihres Ziels: Während sich erstere dadurch auszeichnet, dass sich die Beteiligten nicht als solche lieben, sondern nur aufgrund eines bestimmten Nutzens, wird letztere um Willen der Beteiligten selbst geführt. Zweitens unterscheiden sich beide auch in Bezug auf ihre Voraussetzungen: Während die Nutzenfreundschaft auf Gegensätzen beruht, die sich wechselseitig ergänzen, so dass hier jeder etwas von dem erhält, was er bisher nicht hatte, beruht die Charakterfreundschaft auf der Gleichheit der Tugenden und der Lebensinhalte. Drittens schließlich ist der Umfang beider Freundschaftsformen ganz unterschiedlich: Während man nur wenige gute Freunde haben kann, da man nur begrenzt an der Lebensgeschichte von anderen teilhaben kann, kann man viele Freunde haben, die einem nützlich sind.
Der Witz von Aristoteles Überlegungen besteht nun darin, dass jede der genannten Freundschaftsformen innerhalb der Polis ihre eigene Daseinssphäre hat. Während die Charakterfreundschaft für den Zusammenhalt zwischen einzelnen tugendhaften Bürgern dient, soll die Nutzenfreundschaft den Zusammenhang des Ganzen sichern. Dort also, wo die Charakterfreundschaft ein Band zu einem Nächsten knüpft, der seinerseits wieder durch Charakterfreundschaft mit weiteren Nächsten verbunden sein kann, soll die Nutzenfreundschaft zugleich mit allen anderen verbinden. Aristoteles nennt sie daher auch die 'politische Freundschaft' zwischen Staatsbürgern. Nun mag es auf den ersten Blick verwundern die politische Freundschaft als eine Nutzenfreundschaft zu charakterisieren, jedoch muss dabei bedacht werden, dass Aristoteles einen ganz bestimmten Sinn von 'Nutzen' im Blick hat: Als Staatsbürger machen die Einzelnen nämlich nicht einfach diesen oder jenen partikularen Nutzen zum Gegenstand ihres Handelns, sondern das, 'was für das ganze Leben nützlich ist'. Die politische Freundschaft der Staatsbürger besteht also darin, dass sie wechselseitige Ergänzungsverhältnisse zum Nutzen der ganzen Polis eingehen. Aristoteles spricht diesbezüglich von der Eintracht (homonoia), die ein Staat dann besitzt, 'wenn die Menschen über das Förderliche einer Meinung sind, sich dasselbe vornehmen und die gemeinsamen Beschlüsse durchführen. Eintracht bezieht sich folglich auf Gegenstände des Handelns.' Betont wird hier von Aristoteles, dass ihm nicht wie Platon die Uniformität der Lebenspraktiken als einheitsstiftendes Moment der Polis gilt (denn diese sind für ihn ja gerade komplementär organisiert), sondern vielmehr die Übereinstimmung in der Lebensform (als derjenigen Vorstellung vom Guten, auf welche die Staatsbürger gemeinsam hinarbeiten). Die Lebensform der Athener bildet für Aristoteles dabei ein Gewebe aus zweierlei Bändern: Einerseits dem horizontalen Band zwischen den Bürgern und andererseits dem vertikalen Band zwischen Regierung und Regierten. Beide denkt Aristoteles dabei am Vorbild der Tauschbeziehung: Während sich die Bürger durch Waren und Gabentausch wechselseitig in ihren Bedürfnissen und Tätigkeiten ergänzen, komplettieren sich Regierung und Untertanen durch den Austausch von Wohltaten und Ehre. In beiden Fällen - und das unterscheidet Aristoteles vom neuzeitlichen Denken der Aufklärung - versteht Aristoteles die Tauschbeziehung jedoch nicht vom eigeninteressierten Individuum her, sondern von einem grundsätzlich auf das Gemeinschaftsleben ausgerichteten Tugendwesen. Wenn er immer wieder betont, dass die auf dem Nutzen basierende politische Freundschaft um ein vielfaches fragiler ist als die Freundschaft zwischen Gefährten, die Platon zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht hat, artikuliert sich bei ihm gleichwohl die Einsicht, dass die Einheit der Vielheit immer fragil bleibt.
Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, so erweisen sich Platon und Aristoteles als darin einig, dass eine gute Gemeinschaft nicht nur gerecht, sondern auch integrativ zu sein hat. Sie hat nicht nur dafür zu sorgen, dass ein jeder das seinige bekommt, sondern auch dafür, dass sich die Individuen als Teil einer Gemeinschaft verstehen. Ausgehend von dieser Prämisse entwickeln beide dann jedoch ganz unterschiedliche Ideen des sozialen Bandes: Während sich bei Platon die Lebenspraktiken derart synchronisieren sollen, dass sich die Einzelnen nicht mehr voneinander unterscheiden, hat Aristoteles eine Lebensform vor Augen, in der sich die Einzelnen in ihrer jeweiligen Besonderheit zu einer Ganzheit zusammenfügen. Platon, so können wir daher festhalten, vertritt eine identitäre Konzeption des sozialen Bandes, während Aristoteles für einen komplementären Entwurf sozialer Bindung steht.

Erscheint lt. Verlag 8.9.2016
Co-Autor Kerstin Andermann, Thomas Bedorf, Ulrich Bröckling, Lars Gertenbach, Florian Heßdörfer, Marcel Hénaff, Steffen Herrmann, Frank Hillebrandt, Isabell Lorey, Sofia Näsström, Dirk Quadflieg, Frank Ruda, Michael Schmid, Juliane Spitta
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Anerkennung • Integration • Sozialität • Zusammenhalt
ISBN-10 3-593-43542-X / 359343542X
ISBN-13 978-3-593-43542-8 / 9783593435428
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