Mein Leben als Minenräumerin (eBook)

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
400 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560297-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Leben als Minenräumerin -  Vera Bohle
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Mit 29 hängte sie ihren Traumjob als TV-Redakteurin an den Nagel und ging zur Sprengschule nach Dresden: »Nur berichten war mir nicht genug, ich wollte die Situation der Menschen verbessern.« Vera Bohle war zu Minenräumungseinsätzen in den Krisengebieten der Welt unterwegs: in Mosambique und Zimbabwe, in Albanien, Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Vera Bohle, geboren 1969 in Recklinghausen, studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Politik und Geographie. Mit 29 Jahren hängte sie ihren Traumjob als TV-Redakteurin an den Nagel und ging zur Sprengschule nach Dresden. Dort lernte sie alles über Sprengtechnik, Munitionsräumung und Kampfmittelbeseitigung. Sie war zu Minenräumungseinsätzen in vielen Krisengebieten unterwegs. Vera Bohle wurde 2002 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Vera Bohle, geboren 1969 in Recklinghausen, studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Politik und Geographie. Mit 29 Jahren hängte sie ihren Traumjob als TV-Redakteurin an den Nagel und ging zur Sprengschule nach Dresden. Dort lernte sie alles über Sprengtechnik, Munitionsräumung und Kampfmittelbeseitigung. Sie war zu Minenräumungseinsätzen in vielen Krisengebieten unterwegs. Vera Bohle wurde 2002 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

1. Spin Boldak, Afghanistan, Juni/Juli 2002


Am Samstag, 29. Juni 2002, erreicht uns der Notruf. Ich sitze mit meinen Kollegen vom afghanischen Mine Action Center noch beim Frühstück im Silk Route Guest House in Kabul, als wir von dem Unglück hören. Mike ruft über sein Satellitentelefon aus Kandahar an, einer Stadt im Süden Afghanistans. In Spin Boldak, hundert Kilometer südwestlich von Kandahar, ist ein Munitionsdepot explodiert. Die Zahl der Toten und Verletzten ist noch nicht bekannt. Um Spin Boldak herum sind große Flüchtlingslager. Die Explosion hat auf einer Fläche von mehr als sechs Millionen Quadratmetern Munition verteilt.

Die Vereinten Nationen setzen einen Sonderflug für uns ein. Mit einem eilig zusammengestellten Team von afghanischen Kampfmittelräumern und mit Skip, einem amerikanischen Kollegen, fliege ich nach Kandahar. Der Flughafen wird von amerikanischem Militär kontrolliert und ist hermetisch abgeriegelt. Wir müssen eine Stunde warten, bevor wir die Kontrollen passieren können. Die Hitze in dieser wüstenähnlichen Region raubt uns den Atem. Schließlich werden wir abgeholt und fahren zum regionalen Mine Action Center, um genauere Informationen zu erhalten und Material aufzunehmen.

Die afghanischen Kollegen schauen uns mitleidig an, als sie hören, wohin wir fahren. Nicht wegen des Munitionsdepots, sondern wegen des Orts selbst. Sie beschreiben die Menschen von Spin Boldak nicht sehr schmeichelhaft als zurückgebliebene Primaten, als Schmuggler und Strauchdiebe.

Dabei hat Kandahar selbst schon den Ruf, für Ausländer kein einfaches Pflaster zu sein, vor allem nicht für Frauen. Kandahar war die Hochburg der Taliban. Aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. Wir brechen auf und fahren hundert Kilometer in südöstlicher Richtung auf einer staubigen Wüstenpiste, fast bis nach Pakistan. Kurz davor, gleich an der Grenze, liegt Spin Boldak.

 

Die Toten sind weggetragen und nach islamischem Brauch gleich am nächsten Tag begraben worden. Über dem ehemaligen Munitionslager hängt noch eine dichte Staubwolke und der Geruch von weißem Phosphor – Füllmaterial von Brandmunition. Ein widerliches Zeug, es lässt sich kaum löschen, wenn es einmal brennt. Bereits ab 45 Grad Celsius wird es flüssig und durchdringt kleinste Ritzen. Vor meinem inneren Auge erscheinen die Fotos aus meiner Ausbildungszeit, auf denen ich bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Menschen gesehen habe. Sie wurden uns als Warnung gezeigt. Mit der Bemerkung, dass Munition mit weißem Phosphor viel leichter ausgelöst wird als solche mit Sprengstoff: Ein Funke kann genügen.

Ich frage mich, was mich hinter den Lehmmauern, auf dem Gelände des Depots, erwartet. Mike hat erzählt, dass angeblich drinnen noch mehr Munition aufgestapelt ist, die eventuell hochgehen kann. Ich werde hineingehen müssen, um es herauszufinden. Nur dann kann ich entscheiden, was wir zuerst tun sollten.

»Du hast dir den Job selbst ausgesucht«, versuche ich mich zu motivieren. War mir damals wirklich bewusst, was mich erwartet? Es ist nun nicht die Zeit, darüber nachzudenken. »Los jetzt!«, treibe ich mich selbst an.

Vorsichtig gehe ich mit Skip hinein. Schritt für Schritt. »Pass auf!«, ruft er, aber auch ich habe die Mine kurz vor meinem Fuß schon gesehen. Sie ist von der Wucht der Explosion aus dem Depot geschleudert worden und liegt mit der Oberseite nach unten auf dem Boden. Hoffentlich kommen wir heil wieder raus, denke ich. Man kann bei dem ganzen Schrott hier nicht mal einen Metalldetektor benutzen. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass die Munition gut sichtbar auf der Oberfläche herumliegt.

Das Lager bietet ein Bild der Verwüstung, alle Gebäude sind eingestürzt, die Lastwagen und die Raketenwerfer sind nur noch verkohlte Gerippe. Auf den ersten Blick sieht es aus wie die von der Koalition nach dem 11. September bombardierten Munitionsdepots, mit deren Räumung ich normalerweise beschäftigt bin.

Die Leute aus Spin Boldak haben uns erzählt, dass vier große Explosionen die Nacht zerrissen haben. Wir gelangen zum ersten Krater in der Mitte des ummauerten Geländes. Die Munition war offensichtlich im Freien gelagert, achtlos auf Haufen geworfen.

»Sieht nicht nach einem Bomben- oder Raketeneinschlag aus«, sage ich zu Skip. Er nickt. Der Krater ist zwar groß, mindestens 15 Meter Durchmesser, aber nicht sonderlich tief. Mein Blick irrt umher. Es ist schwierig, alle Gefahren zugleich zu erkennen.

Auf einmal zucken wir zusammen und gehen zugleich blitzartig in die Hocke. Unsere Blicke streifen sich. Die dumpfe Explosion war klein, aber wer weiß, was sie als Kettenreaktion auslösen wird. In etwa 100 Metern Entfernung steigt eine kleine Rauchwolke auf. Weißer Phosphor, eine aufgeplatzte Brandgranate.

»Wir sollten uns nicht hier aufhalten«, sagt Skip. Natürlich hat er Recht, aber wir müssen das Lager zumindest einmal vollständig erkunden. Wenn tatsächlich noch größere Mengen Munition hier lagern, leben die Einwohner von Spin Boldak und die vielen Flüchtlinge auf einer Zeitbombe.

Langsam gehen wir weiter. Mit größter Vorsicht und Konzentration versuchen wir, nicht auf herumliegende Artilleriegranaten, Raketen, Panzerfäuste, Zünder, Handgranaten und endlos viele Metallsplitter zu treten. Alle meine Muskeln sind angespannt, ich konzentriere mich auf die nächsten Schritte. In der Luft liegt ein seltsam süßlicher Geruch, der mich an irgendetwas erinnert, aber ich weiß nicht an was. Wir umrunden eine Mauer. Plötzlich sehen wir, wovon Mike gesprochen hat. Vor uns liegt ein Haufen mit etwa 5000 chinesischen Raketen, Kaliber 107 mm. Tonnen Sprengstoff, genug, um den ganzen Ort dem Erdboden gleichzumachen. Sie braten in der Mittagshitze, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die erste explodiert und damit eine Katastrophe verursacht. Wir müssen uns beeilen.

Als wir uns zum Gehen umwenden, steht ein junger Afghane nur 50 Meter entfernt und guckt uns zu. Trotz des strikten Verbots, das Depot zu betreten. Verdammt, denke ich, es ist immer das Gleiche hier, und spüre, wie Wut in mir aufkommt. Nach 23 Jahren Krieg haben viele Menschen den Sinn für Gefahr verloren. Sie kennen keine Angst. Achtlos trampelt er durch die Trümmer auf uns zu. Wir rufen, winken ihm zu verschwinden. Er bleibt stehen, schaut uns an, kommt dann weiter auf uns zu.

»Lass uns gehen, bevor er uns aus Versehen umbringt«, sage ich zu Skip.

Auf dem Weg nach draußen überlege ich mir, was zu tun ist. Die Räumteams werden nicht begeistert sein von der Idee, die Raketen hier herausholen zu müssen. Aber es bleibt keine Wahl. Ich erwische mich dabei, dass ich viel schneller aus dem Depot herausgehe, als ich hereingekommen bin. Typisch. Die meisten Unfälle passieren auf dem Weg aus der Gefahrenzone. Auf dem Weg hinein herrscht volle Aufmerksamkeit, wenn dann nichts passiert, ist man auf dem Rückweg nachlässig.

Die Teams warten in der Mittagshitze auf uns.

»Wir müssen rein und die Raketen rausholen, es hilft nichts«, erkläre ich Jaffa, dem afghanischen Teamleader. »Räumt eine Spur, in der ein LKW fahren kann, von hier bis zu der Mauer dort hinten. Wenn ihr fertig seid, laden wir die Raketen auf und sprengen sie draußen in der Wüste. Die Sanitäter halten sich mit unserem Krankenwagen in 500 Meter Sicherheitsabstand in Bereitschaft. Skip übernimmt hier erst mal die Führung.«

Ich schaue mich um. Das Munitionsdepot ist mitten im Dorf. Wenn wir dort arbeiten, müssten wir eigentlich den gesamten Ort und große Bereiche der Flüchtlingscamps evakuieren. Aus Erfahrung von vorherigen Einsätzen weiß ich, dass das kaum funktionieren wird. Immer wenn wir versuchten, die Menschen von der Gefahr zu überzeugen, war die Antwort: »Ich bleibe in meinem Haus. Allah weiß, wann ich sterben muss.« Trotzdem schicke ich einen Kollegen mit Auto und Megaphon los. Er soll durch den Ort fahren und ausrufen, dass wir die Munition wegräumen. Die Menschen sollten nichts anrühren und die Bereiche um das Depot meiden. Am besten sollten sie für ein paar Tage zu Verwandten in Nachbarorte ziehen.

Dann gehe ich zu Mike und den anderen Teams, die im Dorf und in den Flüchtlingscamps bereits die von der Explosion ausgeworfene Munition räumen. Mike hat schnell reagiert und sofort einige Teams von anderen Aufgaben in der Region abgezogen und hierher geschickt. Wir teilen den Ort auf. Mike übernimmt die Gebiete auf der Nordseite der Hauptstraße, ich die auf der Südseite. Munition und Schrott, so weit das Auge reicht. Unsere Leute wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Ein Erkundungsteam ist für die Markierung der munitionsverseuchten Flächen verantwortlich. Mit roter Farbe bemalen sie größere Steine, um die Menschen zu warnen und fern zu halten.

»Die Häuserblöcke braucht ihr nicht zu markieren«, erkläre ich. »Geht gleich zu den freien Flächen und fangt dort an. Ich räume hier mit dem anderen Team Haus für Haus.«

Ich teile das verbleibende Dreißig-Mann-Team in Gruppen zu fünf Mann auf und wir legen los. Systematisch gehen wir durch die Straßen und Gassen, in einer Reihe, immer einen Meter Abstand von einem zum anderen. Wer etwas sieht, bleibt stehen, hebt den Arm und ruft laut »UXO!«. UXO ist die Abkürzung von Unexploded Ordnance, auf Deutsch Blindgänger. Wenn etwas gefunden wird, gehe ich hin und entscheide, ob das Teil weggetragen werden kann oder ob es zu gefährlich ist. Für die erste Einschätzung schaue ich, ob die Munition einen aufgeschraubten Zünder hat oder nicht. Die...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanistan • Arbeitsamt • Explosion • Kandahar • Köln • Mine • Minenräumung • Mongolei • Reportage • Sachbuch • Somalia • Sprengplatz • Sprengschule • Sprengung • Taliban • UN • UNHCR • Zünder
ISBN-10 3-10-560297-6 / 3105602976
ISBN-13 978-3-10-560297-3 / 9783105602973
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