Gebrauchsanweisung für Korsika (eBook)
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-96632-0 (ISBN)
Jenny Hoch, 1976 geboren, studierte Dramaturgie in München und New York und absolvierte die Deutsche Journalistenschule. Nach Stationen als Kulturredakteurin für verschiedene Tageszeitungen und Magazine (u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Welt und Welt am Sonntag) und Textchefin bei myself ist sie seit 2019 Chefredakteurin des Arte Magazins. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin. Korsika kennt und bereist sie, seit sie vier Jahre alt ist.
Jenny Hoch, 1976 geboren, studierte Dramaturgie in München und New York und absolvierte die Deutsche Journalistenschule. Sie schreibt unter anderem für Die Welt, Welt am Sonntag, Süddeutsche Zeitung, Elle und Myself. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und kennt Korsika, seit sie vier Jahre alt ist. Sie hat dort Waldbrände verhindert und korsischen Käse lieben gelernt, nur auf Wildschweinjagd war sie – bisher – noch nicht.
Benvinuti in meinem Dorf Wirklich angekommen bin ich nach 31 Jahren. Ich muss die Zahl ausschreiben, um es glauben zu können?: einunddreißig Jahre. Fast mein ganzes Leben. So lange hat es gedauert, bis ich endlich dazugehörte. Bis ich Teil dieser verschworenen Gemeinschaft geworden bin, die ein kleines steinernes Dorf bewohnt, hoch oben in den Bergen von Korsika. Es ist Anfang August, der erste Urlaubstag. Wie jedes Jahr freue ich mich schon seit Wochen darauf, endlich wieder in unser Ferienhaus zu fahren. Ich passiere das Ortsschild, umrunde eine weitere Felsnase, und da liegt es vor mir?: mein Paradies. Ein paar Dutzend Häuser, die sich in die Felsen krallen, darüber die wild wuchernde grüne Macchia, der korsische Buschwald, überspannt von dem endlosen Blau des Himmels. Das Farbenspiel wiederholt sich spiegelbildlich nach unten?: Die Macchia bedeckt die steilen Abhänge und wächst buchstäblich bis ans Meer, das sich strahlend blau bis zum Horizont kräuselt. Als Spiegelachse fungiert die Straße, die ich nun entlanggehe, um zu sehen, ob alles beim Alten ist, und um alle zu begrüßen. Nicht, dass noch niemand meine Ankunft bemerkt hätte; die Häuser hier mögen alt und grau sein, aber ihre Bewohner haben scharfe Augen und ein feines Gehör. Jede Regung, jede noch so kleine Veränderung wird sofort registriert. Als Erstes begegne ich der sympathischen blonden Bäckerin. Sie steht mit einem Besen vor ihrem Geschäft. »?Bonjour, wie geht's???«, begrüßt sie mich und haucht mir je ein Küsschen rechts und links auf die Wangen. Mir ist das ein bisschen unangenehm, denn während mein Gesicht mit einem Schweißfilm überzogen ist und mein T-Shirt am Rücken klebt, duftet sie dezent nach Parfum, und ihre Haut fühlt sich glatt und kühl an. Es ist zwar erst elf Uhr vormittags, aber bereits über 30 Grad heiß, und ich stecke noch in meiner Reisekluft?: viel zu engen Jeans und Turnschuhen mit Socken. In den kommenden drei Wochen werde ich um solche Kleidungsstücke einen Bogen machen. Einige Meter entfernt steht der Barmann hinter dem Tresen seines von prächtigen Platanen beschatteten Cafés. Sein Hemd trägt er wie immer fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, eine Goldkette blitzt aus seinem dichten grauen Brusthaar hervor. Er poliert mit gerunzelter Stirn ein Glas, mir fällt auf, dass hinter ihm im Regal neben den bunten Sirupflaschen, die mir als Kind so verheißungsvoll erschienen waren, und mehreren Sorten Pastis nun auch eine Flasche mit korsischem Whisky steht. Als der Barmann mich sieht, hellt sich sein Gesicht auf. Küsschen rechts, Küsschen links. »?Bonjour, ça va?? Endlich Ferien???«, fragt er. Nicken meinerseits. Lächelnd wechseln wir ein paar Worte. Ich überquere den Dorfplatz, wo ich den Straßenkehrer begrüße, der stets den gleichen dunkelblauen Mao-Anzug trägt und sorgfältig einige welke Platanenblätter beiseitefegt. Ich winke dem Pizzabäcker zu, der gerade auf der Stirnseite des auf drei Seiten von steil aufragenden Steinhäusern eingefassten Platzes die Eiskarte vor seinen Imbiss stellt. Ein Kopfnicken gilt dem Postboten, der ein wenig außer Atem geraten ist, weil er mit seiner schweren Tasche aus dem unteren Teil des Dorfes zum oberen heraufgeklettert ist, der nur durch viele steile Stufen zu erreichen ist. Auf dem Weg durch die schmalen Gassen begegne ich außerdem dem Bürgermeister, der obendrein Restaurantbesitzer ist; der Inhaberin einer der zwei Pensionen des Ortes und drei beinahe hundertjährigen Damen, von denen zwei ihren Geburtsort nie verlassen haben, während die dritte zu Zeiten des Schahs von Persien in Teheran die Filiale eines bekannten Pariser Modehauses leitete. Mit allen halte ich kurze Schwätzchen, die alle mit der Formel beginnen?: »?Bonjour?! Wie geht's???« Als Letztes komme ich zur Alimentation, dem Lebensmittelgeschäft, das von Pauline und ihrer Tochter Sandrine geführt wird. Wir kommen ins Plaudern, und weil mein Babybauch nicht mehr zu übersehen ist, erkundigt sich Pauline, wann es denn so weit sei. »?Im Herbst?«, antworte ich, und da geschieht es?: Sie zählt begeistert an ihren Fingern ab, wer vor Jahresende noch alles Mutter werden wird?: »?Joséphine, Emma, Marie-Ange, Laetitia?... und du?! Dann haben wir im Dorf ja bald fünf Babys?!?« Habe ich richtig gehört?? Hat Pauline gerade »?wir?« gesagt?? Das würde ja bedeuten, dass sie meinen ungeborenen Sohn und mich selbstverständlich als Dorfbewohner mitzählt. Trotz meines stattlichen Babybauches fühle ich mich auf einmal ganz leicht. Denn für mich ist dieses kleine korsische Dorf schon lange meine zweite Heimat. Doch dass die Korsen das irgendwann auch einmal so sehen würden, hätte ich niemals zu hoffen gewagt. Auch nicht nach 31 Jahren. Korsin bin ich deswegen aber natürlich noch lange nicht. Meine Familie und ich werden wohl auf immer und ewig les allemands bleiben. Aber immerhin in die Dorfgemeinschaft integrierte Deutsche, die freundlich behandelt werden. Das ist nicht selbstverständlich, denn korsische Dorfgemeinschaften wirken auf den ersten Blick wie korsische Felsformationen?: schroff und abweisend und so, als wären sie schon immer da gewesen. Doch wenn man sich die Zeit nimmt, sie genauer zu betrachten, erkennt man, dass sie Raum und Schutz bieten können - vorausgesetzt, man beachtet einige Regeln. Korsika und die Korsen wollen entdeckt werden - und zwar mit Respekt. Nähert man sich ihnen vorsichtig und mit Interesse, wird man eine unvergessliche Zeit verleben. Überrumpelt man sie aber, etwa als Teil einer gesichtslosen, dauerfotografierenden Touristenmeute, kann es passieren, dass man verschränkten Armen und verschlossenen Gesichtern begegnet. Die Korsen sind Individualisten, sie haben ihren eigenen Kopf und biedern sich nicht an, allein schon deshalb ist die Insel das perfekte Ziel für Individualreisende. Die meisten aber wissen über Korsika nur drei Dinge?: Es ist das Land der Bombenattentate, der Blutrache und die Heimat Napoleons. Aber Korsika ist noch vieles mehr?: Es ist ein Reiseziel mitten in Europa, das nicht nur feine Sandstrände und ausgedehnte Wälder bietet, sondern auch eine Bergwelt, die zu den schönsten Mitteleuropas zählt. Es ist die Insel der Freiheitsbewegungen. Von der Herrschaft der Phönizier in der Antike bis zum Jahr 1769, als Korsika französisch wurde, war die Geschichte dieses Volkes ein einziger Kampf um die Freiheit. Und er dauert, wie wir sehen werden, bis heute an, da die Franzosen vom Festland auch heute noch von vielen Korsen als Fremdlinge betrachtet werden. Es ist die Insel, auf deren Boden es weder Sklaven noch Leibeigene gab. Es besitzt eine ausgeprägte Tradition der Unantastbarkeit von Flüchtlingen und Verbannten. Die macchiaghiolu waren Männer, die in der Macchia lebten. Meistens, weil sie mit der jeweiligen Obrigkeit in Konflikt geraten waren oder weil sie die Blutrache vollstreckt hatten. Noch heute macht diese Tradition den französischen Gendarmen das Leben schwer - denn ein Korse, der nicht gefunden werden will, wird nicht gefunden. Und natürlich hat niemand ihn gesehen. Es ist das erste Land Europas, das ein Volksparlament und eine demokratische Verfassung hervorbrachte. Im elften Jahrhundert wurden auf Korsika die terra del commune eingeführt, ein demokratisches Gemeinwesen. 1755 erkämpfte der Revolutionär Pasquale Paoli für die Korsen die Unabhängigkeit und gab ihnen eine demokratische Verfassung - lange vor der Französischen Revolution und der Tea Party in Boston. Außerdem ist Korsika eine Insel der Verwandlungen, die einen staunen lassen. Der Weltenbummler Fred Wander schrieb in den Fünfzigerjahren?: »?Korsika ist die Bretagne, ist Algerien, es ist Norwegen und Polynesien, es ist die Wüste Gobi, ein Schweizer Tal, ein kleiner Hafen in der Provence, die Hochebene von Tibet, der Höllenschlund des Grand Canyon, ein Idyll am Fuße des Fudschijama.?« Nein, der Mann hatte nicht zu viel Pastis zu sich genommen. Er hat sich die Insel nur genau angeschaut - Korsika hat unendlich viele Facetten, eine schillernder als die andere. Sie sind herzlich eingeladen, einige von ihnen gemeinsam mit mir zu entdecken. Am Duft erkenn ich dich Azurblauer Himmel, die Morgensonne bricht sich in der spiegelglatten Oberfläche des Meeres, ein Schwarm Möwen zieht weite Kreise über dem mächtigen Schlot der Fähre. Die Ellbogen auf die Reling aufgestützt, halten die Passagiere die Nase in den Wind. Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen und stolzer Sohn Korsikas, soll im Exil auf St. Helena ausgerufen haben?: »?Welche Erinnerungen hat mir Korsika gelassen?! Mit Freuden denke ich noch an seine Berge, an seine schönen Landschaften, und mit geschlossenen Augen würde ich es schon an seinem Duft erkennen?!?« Napoleon mag als Kaiser nicht viel für seine Heimat getan haben, aber in diesem Punkt hat er recht. Korsika duftet. Eine Luft wie Balsam und ein Geruch, den noch kein Parfümeur der Welt so hinbekommen hat. Immortelle, Myrte, wilder Rosmarin. Thymian, Zistrose, Lavendel, Ginster. Dazu Maulbeerbäume, Feigen, Eukalyptus, Pinien, Laricio-Kiefern. Und, immer wieder, warmer Stein und salzige Meeresgischt. Bittersüß und würzig. Wer nach Korsika reist, bekommt eine Aromatherapie gratis dazu. Die Insel verströmt sich so verschwenderisch wie ein gigantisches Duftkissen, angefüllt mit den Hölzern, Blättern und Blüten der Macchia, jenes immergrünen, schier undurchdringlichen Buschwalds, der gut die Hälfte des Eilands überwuchert. Vor zweitausend Jahren war Korsika von Wäldern bedeckt, aber die Karthager und später die Römer schlugen sich hier ihr Holz für den Schiffbau und fällten einen Großteil der Bäume. Nur im Inselinneren gibt es heute noch Kiefern- und Kastanienwälder. Die Macchia ist ein Mythos. Im Laufe der wechselvollen Geschichte Korsikas gewährte sie Hirten, Banditen und all jenen Unterschlupf, die sich gegen die jeweils herrschende Macht gewandt hatten. Es geht ein starker Zauber von ihr aus. Im Frühling steht sie in voller Blüte, in der Hitze des Sommers dünstet sie feine ätherische Öle aus. Im Herbst überwiegt der Duft von Pilzen, Nüssen und Beeren. Stehen die Winde günstig, kann man Korsika tatsächlich vom Meer aus riechen. Und erst an Land?! Es kann passieren, dass man um eine Ecke biegt, und plötzlich ist man in Wohlgeruch eingehüllt. Ist es der wilde Feigenbaum, der gerade Früchte trägt?? Der weiße Jasmin, der im satten Grün eines frisch gewässerten Gartens seinen betörenden Duft über den Zaun schickt?? Die schwere Süße der üppigen Blütenstauden des Blauregens, der sich an der Mauer eines Steinhauses emporrankt?? Ein Bukett von Wildkräutern in der Mittagshitze?? Der Morgennebel lichtet sich, auf der Fähre beginnt ein Schauspiel, das den Titel »?Korsika - Insel der Schönheit?« trägt. Vor den Augen der Passagiere erhebt sich ein gewaltiger Koloss aus Stein aus dem Meer. Wie die Zähne eines wilden Tieres ragen dessen Gipfel in den Himmel, seine Täler sind noch dunkelgrün verschattet. Straßen, Häuser, Felder - von Menschenhand Gemachtes ist nur vereinzelt zu erkennen. Stattdessen?: Steine, Wälder, Macchia, über 2000 Meter hohe Berge. Das ist Korsika. Nicht mal die wesentlich größere Insel Sardinien, nur wenige Kilometer von Korsikas Südspitze entfernt gelegen, kann da mithalten. Gegen dieses schroffe Gebirge wirkt sie wie eine hübsche, aber etwas brave Nachbarin. »?Alles in dieser Landschaft ist von einer ernsten und traurigen Schönheit?«, schrieb Prosper Mérimée, der Korsika im 19. Jahrhundert als Generalinspektor für öffentliche Bauten bereiste. Traurig?? Eher hat dieser Felsen im Mittelmeer sich etwas Archaisches bewahrt, das aus unserer zivilisierten Welt nahezu verschwunden ist. Hier spürt man mit allen Sinnen, was Ewigkeit bedeutet. Korsika hat etwas Majestätisches. Diese Insel weckt das Bewusstsein für die eigene Vergänglichkeit und tröstet zugleich über sie hinweg.
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2023 |
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ISBN-13 | 978-3-492-96632-0 / 9783492966320 |
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