»Und trotzdem war's 'ne schöne Zeit«

Kinderalltag im Nationalsozialismus

(Autor)

Buch | Hardcover
681 Seiten
2023 | 2. Auflage
Campus (Verlag)
978-3-593-50098-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Und trotzdem war's 'ne schöne Zeit« - Heidi Rosenbaum
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Kinder unter dem Hakenkreuz
Als die NSDAP 1933 die Macht in Deutschland übernahm, wurde auch der Alltag von Kindern durch die vom Nationalsozialismus beabsichtigte Umgestaltung der Gesellschaft stark beeinflusst. Kinder mussten nun lernen, »richtig« zu grüßen; ihre Freundschaften konnten durch die rassistische Politik des Nationalsozialismus beendet oder beeinträchtigt werden; sie wurden zu Denunziationen aufgefordert; politische Maßnahmen und Ereignisse waren Gesprächsthemen im Familienkreis, die zu Konflikten führen konnten. »Politik« war also im Alltagsleben der Kinder gegenwärtig - wenn auch in unterschiedlicher Intensität und ohne dass dies allen Betroffenen immer bewusst war. Heidi Rosenbaum untersucht in ihrer groß angelegten Studie, die auf zahlreichen Zeitzeugengesprächen basiert, das alltägliche Leben von Kindern in vier Milieus: dem gehobenen Bürgertum einer Universitätsstadt, der Arbeiterschaft einer Kleinstadt, einem protestantischen und einem katholischen Dorf in Niedersachsen. Dabei kann sie zeigen, dass Brüche und Kontinuitäten den Alltag der Kinder unterschiedlich stark prägten.

Heidi Rosenbaum war von 1993 bis zu ihrer Pensionierung 2006 Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen.

Inhalt

Einleitung 11

Teil I: Kinderalltag im bürgerlichen Milieu

1. Der Ort - Die Universitätsstadt Göttingen 37
2. Die Familien 53
3. Kindheits-Räume, Freundschaften und Spiele 84
4. Schulalltag 111
5. Hitler-Jugend 157
6. Körper und Körper-Erfahrungen 206
7. Aufwachsen mit Medien 245
8. Hineinwachsen in die bürgerliche Welt: Werte und Normen 267
9. Das öffentliche Leben in der Wahrnehmung der Kinder 306
10. Resümee 314

Teil II: Kinderalltag im kleinstädtischen Arbeitermilieu

1. Der Ort - Die Kleinstadt Hann. Münden 323
2. Die Familien 335
3. Kindheits-Räume, Freundschaften und Spiele 357
4. Schulalltag und Ausbildungen 369
5. Hitler-Jugend 379
6. Körper und Körper-Erfahrungen 389
7. Erziehungsmaximen und Werthaltungen 399
8. Resümee 407

Teil III: Kinderalltag im protestantischen Industriedorf

1. Der Ort - Volpriehausen 417
2. Die Familien 433
3. Kindheits-Räume, Spiele und Freundschaften 459
4. Schulalltag 473
5. Hitler-Jugend 478
6. Körper und Körper-Erfahrungen 489
7. Erziehungsmaximen und Werthaltungen 502
8. Dorföffentlichkeit und Politik 516
9. Resümee 520

Teil IV: Kinderalltag in einem katholischen Dorf

1. Der Ort - Das katholische Dorf Obernfeld im Eichsfeld 527
2. Die Familien 539
3. Kindheits-Räume, Freundschaften und Spiele567
4. Schulalltag 577
5. Hitler-Jugend 586
6. Körper und Körper-Erfahrungen 593
7. Erziehungsmaximen und Werthaltungen 603
8. Resümee 613

Teil V: Schlussbetrachtung

Ergebnisse und Perspektiven 621

Verzeichnis der Abkürzungen 640
Quellen- und Literatur 641
Register 672

»Die Interviews [wurden] so interessant und auch gut ausgewählt sowie aufbereitet, dass ein Einlassen auf die jeweiligen ssubjektiven Sichtweisen leicht gelingt.« Jutta Buchner-Fuchs, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde»Ein Buch, an dem frau/man nicht vorüberkommt, sofern sie/er sich für den Kinderalltag im Nationalsozialismus interessiert. [...] Mit diesem Werk liegen nun quellenkritisch gesicherte Erkenntnisse vor und zudem ein überzeugendes Analyse- und Interpretationsverfahren bereit, das auch für die Untersuchung des Aufwachsens in der anderen deutschen Diktatur für vorbildlich genommen werden kann.« Ulrich Wiegmann, H-Soz-Kult, 10.05.2016»Profunde Studie« Harald Klauhs, Die Presse Spectrum, 20.06.2015

»Die Interviews [wurden] so interessant und auch gut ausgewählt sowie aufbereitet, dass ein Einlassen auf die jeweiligen ssubjektiven Sichtweisen leicht gelingt.« Jutta Buchner-Fuchs, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde

»Ein Buch, an dem frau/man nicht vorüberkommt, sofern sie/er sich für den Kinderalltag im Nationalsozialismus interessiert. [...] Mit diesem Werk liegen nun quellenkritisch gesicherte Erkenntnisse vor und zudem ein überzeugendes Analyse- und Interpretationsverfahren bereit, das auch für die Untersuchung des Aufwachsens in der anderen deutschen Diktatur für vorbildlich genommen werden kann.« Ulrich Wiegmann, H-Soz-Kult, 10.05.2016

»Profunde Studie« Harald Klauhs, Die Presse Spectrum, 20.06.2015

Immer bleibt deshalb eine Kindheit im Faschismus eine Kindheit. Peter Brückner Einleitung Fragestellungen Vor ungefähr 20 Jahren bin ich bei der Vorbereitung eines Seminars zu "Kindheit im 20. Jahrhundert" auf das Thema dieses Buches gestoßen. Ich musste feststellen, dass es nur wenig Literatur über den Alltag von Kindern im Nationalsozialismus gibt. Andere Zeiträume waren damals schon gut erforscht. Vor allem für das Deutsche Kaiserreich lagen viele Untersuchungen vor, die sich mit Kindheit in verschiedenen sozialen Milieus, teilweise auch vergleichend, beschäftigten. Für die 1920er Jahre gibt es einige Literatur aus dem Umfeld der sozialreformerischen und sozialistischen Bewegungen, für die frühen 1930er Jahre die für die Neue Kindheitsforschung grundlegende Untersuchung von Martha und Hans Heinrich Muchow, die bereits mit teilnehmender Beobachtung gearbeitet haben. Kindheit in den 1950er und 1960er Jahren war zwar nicht umfassend, aber doch relativ gut bearbeitet worden. Dazu haben unter anderem die Shell-Jugendstudien beigetragen, die seit 1953 durchgeführt werden. Ausgelöst durch das bahnbrechende Buch von Philippe Ariès über die Geschichte der Kindheit gab es auch in Deutschland einen Boom der sozialhistorischen Kindheitsforschung. In den 1980er Jahren entstanden mehrere Studien und es vollzog sich außerdem die Wendung zur Neuen Kindheitsforschung, die den kindlichen Alltag aus der Perspektive der Kinder erforscht und sich dazu ethnographischer Methoden bedient. Zur Kindheit in der NS-Zeit liegen viele autobiographische Erzählungen vor sowie etliche Untersuchungen über Schule und Hitler-Jugend. Der Alltag der Kinder jenseits dieser Institutionen ist jedoch kaum erforscht worden. Angesichts dieser Literaturlage bin ich auf die Idee für ein Forschungsprojekt über "Kinderalltag im Nationalsozialismus" gekommen. Es hat dann noch mehrere Jahre gedauert, einen detaillierten Forschungsplan und -antrag zu entwickeln. Die VolkswagenStiftung hat ihn erfreulicherweise akzeptiert und drei Jahre lang (1999-2002) finanziert. Das damals erhobene Material ist Grundlage dieses Buches. Ihm liegen zwei Hypothesen zugrunde: 1. Zum einen gehe ich davon aus, dass im Nationalsozialismus selbst der Alltag der Kinder kein von der Politik verschonter Lebensbereich gewesen ist. Der Nationalsozialismus intendierte, die deutsche Gesellschaft zu revolutionieren. Es ging ihm nicht um eine allmähliche Umgestaltung, sondern um einen radikalen Umbruch. Kontinuitäten sollten aufgebrochen, "alte Zöpfe" abgeschnitten werden. Dieses "Programm" zielte nicht nur auf den grundlegenden Umbau des politischen Lebens und der Arbeitswelt, sondern auch auf das Alltagsleben der Bevölkerung. Der Alltag der Kinder war von diesen Bestrebungen nicht ausgenommen. Ganz im Gegenteil zielte die nationalsozialistische Politik darauf ab, gerade die Jugend für die "Bewegung" zu gewinnen. Die Bildung einer für alle Kinder und Jugendlichen neuen Einheitsorganisation, der Hitler-Jugend, war dafür zweifellos das sichtbarste Zeichen. Hinzu kamen Eingriffe in die Schule (Säuberung der Lehrerkollegien, neue Richtlinien und Rituale, Schulreform). Die neuen Medien, Radio und Film, wurden eingesetzt, um auch die Kinder gezielt propagandistisch zu bearbeiten. Zwar blieb kein Teil des kindlichen Alltags von politischer Beeinflussung vollständig unberührt, die einzelnen Bereiche veränderten sich aber in unterschiedlichem Ausmaß. Den stärksten Zugriff auf die Kinder hatte das Regime zweifellos über die Institutionen Schule und Hitler-Jugend, die für alle Kinder verpflichtend waren. In anderen Bereichen des kindlichen Lebens waren hingegen Umbrüche weniger ausgeprägt oder spürbar, Kontinuitäten augenfällig. Das gilt besonders für das private Leben, das größere Chancen bot, sich gegenüber der Politik und ihren Zugriffen abzuschotten. Gleichwohl blieben weder Familie noch Lektüre, weder Freundschaften und Spiele gänzlich unpolitische Bereiche. Die Kinder lebten unter dem NS-Regime daher eine Kindheit, die in einigen Segmenten an die Kindheitserfahrungen ihrer Eltern anknüpfte, in anderen unterschied sie sich jedoch deutlich davon. Kontinuitäten und Brüche waren eng miteinander verwoben. Während in der Literatur der Fokus überwiegend auf dem Leben der Kinder in der Hitler-Jugend und der Schule liegt, geht es mir in diesem Buch darum, den gesamten Alltag der Kinder zu untersuchen, das heißt gerade auch jene Bereiche zu erfassen, in denen das Leben weitgehend in hergebrachten Bahnen verlaufen ist. Dieses Geflecht aus Kontinuitäten und Brüchen im Alltag der Kinder steht im Zentrum. Kontinuität soll nun nicht heißen, dass alles unverändert geblieben ist. Wandlungsprozesse finden ständig in einer Gesellschaft statt, ohne dass sie Brüche mit den vorangegangenen Entwicklungen darstellen. Als Bruch wird in diesem Buch hingegen eine starke, gravierende Veränderung von Strukturen oder Beziehungen bezeichnet. Dabei muss unterschieden werden zwischen Brüchen, die die Kinder selbst als solche wahrgenommen haben, und jenen, derer sie sich vermittelt über die Reaktionen ihrer Eltern auf Ereignisse oder Maßnahmen der Nationalsozialisten bewusst geworden sind. Die Hypothese von der politischen Durchdringung oder Politisierung des Kinderalltags bedeutet nun nicht, dass sie den Betroffenen auch bewusst gewesen ist. Ganz im Gegenteil widerspricht sie der Einschätzung etlicher Betroffener, von denen manche explizit formulierten, ihre Kindheit sei aber völlig unpolitisch gewesen. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man sich klarmacht, dass die Kinder nichts anderes kannten. Für sie existierten keine alternativen Konzepte und Möglichkeiten des Aufwachsens. Die Politisierung war für sie zum Alltag geworden, gehörte zu den Selbstverständlichkeiten und Routinen, die für ihn charakteristisch sind. Hinzu kam, dass in vielen Fällen weder Eltern noch andere Erwachsene die politischen Maßnahmen und ideologischen Konstrukte infrage stellten - entweder weil sie selbst von ihnen überzeugt waren oder weil sie sich aus Vorsicht gegenüber den Kindern mit kritischen Bemerkungen zurückhielten. 2. Der Alltag von Kindern ist nun nicht überall gleich. Er unterscheidet sich danach, wo und unter welchen Bedingungen sie aufwachsen, ob auf dem Land oder in der Stadt, ob im Wohlstand oder eher unter kargen Bedingungen, in welchem religiösen und weltanschaulichen Umfeld sie leben. Wenn auch der Nationalsozialismus mit seiner Ideologie und Politik die gesamte Gesellschaft, alle gesellschaftlichen Bereiche und Mitglieder erfassen und durchdringen wollte, befanden sich die verschiedenen sozialen Milieus doch in unterschiedlicher Nähe oder Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie und Politik, waren mithin für die Propaganda unterschiedlich empfänglich. Das gilt entsprechend, so die zweite Hypothese, ebenfalls für den Alltag der Kinder. Weder waren, wie erwähnt, dessen einzelne Teile gleichmäßig von der Politisierung betroffen noch galt das für die verschiedenen Milieus in identischer Weise. In manchen wirkten politische Maßnahmen und die Propaganda auf die Kinder in erster Linie über die Schule ein, in anderen über die Hitler-Jugend, in wieder anderen über das gesamte soziale Umfeld. Kontinuitäten und Brüche prägten deshalb den Kinderalltag in den sozialen Milieus in unterschiedlicher Intensität. Deshalb wurde die Untersuchung so angelegt, dass der Alltag von Kindern exemplarisch in vier verschiedenen sozialen Milieus erforscht und miteinander verglichen werden konnte. Sie unterscheiden sich nach den sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen lebten, der Konfessionszugehörigkeit sowie der (vermuteten) Nähe oder Ferne zum Nationalsozialismus. Konkret handelt es sich um das gehobene bürgerliche Milieu in der mittelgroßen Universitätsstadt Göttingen, das Arbeitermilieu in der Kleinstadt Hann. Münden sowie um zwei ländliche Milieus, die sich in Bezug auf die dominierende Konfession und die Sozialstruktur unterscheiden. Mit der Milieuzugehörigkeit lassen sich allerdings nicht alle Unterschiede erklären. Für die je konkrete Gestalt des Kinderalltags spielen weitere Faktoren eine Rolle: die jeweilige Familienkonstellation, die Persönlichkeit des Kindes und vor allem seine Geschlechtszugehörigkeit, die zu einer wichtigen Differenzierung des Alltags der Kinder innerhalb eines Milieus führt, weil in jedem Milieu je spezifische Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit existieren. Darauf hat Bourdieu eindringlich hingewiesen: Für ihn ist Geschlecht eine "fundamentale Dimension des Habitus". Diese beiden Hypothesen stehen im Zentrum des Buches. Ihre Überprüfung erlaubt es auch die Frage zu beantworten, welche Bedeutung der Zeit des Nationalsozialismus beim Rückblick auf Kindheit im 20. Jahrhundert zukommt. Für diesen Zeitraum hat die Kindheitsforschung mehrere Entwicklungslinien herausgearbeitet: - Die zentralen Trends sind Familiarisierung und Scholarisierung. Familiarisierung betont, dass Kinder statt auf der Straße und in der Öffentlichkeit sich mehr und mehr in der Wohnung aufhalten. Die Ergänzung der Familienkindheit durch die Lernkindheit in der Schule wird als Scholarisierung bezeichnet. - Beide Institutionen stehen am Beginn der Institutionalisierung von Kindheit, das heißt des Umstands, dass Kinder zunehmend in speziell für sie geschaffenen und pädagogisch kontrollierten Einrichtungen aufwachsen. - Eng verbunden damit ist die Verhäuslichung. Mit dem Begriff wird die Tendenz bezeichnet, dass Kinder vermehrt in Institutionen und damit in geschützten Räumen leben. - Eine weitere Entwicklungslinie ist die Sakralisierung, die auf die wachsende Bedeutung des Kindes für die Erwachsenen abstellt. - Zur Individualisierung trägt schließlich der Abbau autoritärer Verhältnisse in den Eltern-Kind-Beziehungen zugunsten der Tendenz zum "Verhandlungshaushalt" bei, zugunsten von größerer Selbstständigkeit und Eigenverantwortung des Kindes. Wie sich die Phase des Nationalsozialismus in diese Entwicklungslinien der Kindheit im 20. Jahrhundert einfügt, soll im Schlusskapitel erörtert werden.

Erscheint lt. Verlag 1.3.2023
Zusatzinfo 27 Abb. in s/w
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 150 x 218 mm
Gewicht 1036 g
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Sozialwissenschaften Pädagogik Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte 1933 • Alltag • Alltagsgeschichte • Arbeiterschaft • Bürgertum • Deutschland • Drittes Reich • Drittes Reich / 3. Reich • Hitler, Adolf • Hitler,Adolf • Hitler-Jugend • Kind • Kinder • Kinderalltag • Kindheit • Kindheitsforschung,historische • Nationalsozialismus • Nationalsozialismus (Ideologie) • NSDAP • Zeitzeugeninterviews
ISBN-10 3-593-50098-1 / 3593500981
ISBN-13 978-3-593-50098-0 / 9783593500980
Zustand Neuware
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