Schluss. Jetzt werde ich etwas tun -  Maren Gottschalk

Schluss. Jetzt werde ich etwas tun (eBook)

Die Lebensgeschichte der Sophie Scholl
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
264 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-74417-3 (ISBN)
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Als Widerstandskämpferin und Mitglied der »Weißen Rose« wurde Sophie Scholl (1921-1943) zum Mythos. Ihr Mut und ihre Unerschrockenheit sind umso erstaunlicher, als sie noch wenige Jahre vorher eine begeisterte HJ-Führerin war. Neue Quellen zeigen, dass das Mädchen Sophie Scholl eine viel kompliziertere und spannendere Persönlichkeit war als bisher bekannt. Nach 1933 ging ein Riss durch die Familie Scholl: Während die Eltern in Hitler einen gefährlichen »Rattenfänger« sahen, ließen sich die Scholl-Kinder faszinieren von HJ und BDM. Doch Sophie Scholl glaubte auch an Freiheit und Nächstenliebe und fühlte sich immer mehr abgestoßen von der Menschenverachtung des NS-Regimes. Über ihren Freund, den jungen Offizier Fritz Hartnagel, mit dem sie eine innige, aber schwierige Liebesbeziehung verband, erfuhr sie die grausame Wahrheit über den Ostfeldzug. Kurz bevor sie am 18. Februar 1943 zusammen mit ihrem Bruder Hans in der Münchner Universität die Flugblätter der Weißen Rose verteilte und dabei verhaftet wurde, sagte sie: »Es fallen so viele Menschen für das Regime, es ist an der Zeit, dass jemand dagegen fällt.« Mit 21 Jahren wurde Sophie Scholl hingerichtet. Ein vielschichtiges Porträt, das Sophie Scholl zum Leben erweckt, gerade indem es sie nicht nur auf die »Widerstandskämpferin« reduziert. Maren Gottschalk hat dafür viele Zeitdokumente, auch bisher nicht zugängliche Briefe und Tagebücher ausgewertet. Persönlichen Gesprächen mit Sophies Schwester Elisabeth Hartnagel verdankt sie wertvolle neue Informationen.

Maren Gottschalk studierte Geschichte und Politik in München und promovierte in Mittelalterlicher Geschichte. Sie lebt, zusammen mit ihrer Familie, und arbeitet als Autorin und Journalistin in Leverkusen. Bei Beltz & Gelberg veröffentlichte sie bisher die vielfach gerühmten Biografien 'Der geschärfte Blick. Sieben Journalistinnen und ihre Lebensgeschichte'; 'Die Morgenröte unserer Freiheit. Die Lebensgeschichte des Nelson Mandela' sowie zuletzt 'Es brennt das Leben. Die Lebensgeschichte des Pablo Neruda', 'Die Farben meiner Seele. Die Lebensgeschichte der Frida Kahlo', 'Schluss. Jetzt werde ich etwas tun. Die Lebensgeschichte der Sophie Scholl' und 'Factory Man. Die Lebensgeschichte des Andy Warhol'. Nähere Informationen zu der Autorin unter www.maren-gottschalk.de.

Die Brävste bin ich nicht


1921–1932

Forchtenberg, ein kleines Städtchen im Norden Baden-Württembergs, strahlt bis heute etwas Märchenhaftes aus. Eingebettet in die sanften Hügel des Hohenloher Landes, erhebt es sich über dem schmalen Flusstal des Kochers. Von den Toren der Stadtmauer führen steile Gassen hinauf zur Altstadt, in der sich hübsche Fachwerkhäuser aneinanderlehnen. Dies ist der Ort, an dem Sophie Scholl am 9. Mai 1921 geboren wurde. Damals zählte Forchtenberg nur 850 Einwohner, heute sind es durch Eingemeindungen 5000. Auf der Homepage von Forchtenberg prangt es direkt unter dem Logo und dem Wappen der Stadt: »Geburtsort von Sophie Scholl«.

Besucher können dem »Hans-und-Sophie-Scholl-Pfad« folgen, der auf Anregung der Künstlerin Renate Deck eingerichtet wurde, die vor zwanzig Jahren damit begonnen hat, die Erinnerung an die Familie Scholl ins öffentliche Bewusstsein zu holen. Bis heute muss sie damit leben, von manchen Forchtenbergern nicht gegrüßt zu werden, als sei die Verbindung mit der Geschichte der Geschwister Scholl etwas, für das man sich schämen müsste.

Sophies Vater Robert Scholl, 1891 in Geißelhardt bei Schwäbisch Hall geboren, ist groß, trägt einen Oberlippenbart und seine tief liegenden dunklen Augen blicken ernst unter einer hohen Stirn hervor. Er stammt aus einer Bauernfamilie und arbeitet sich nach der Mittleren Reife als Verwaltungsbeamter langsam nach oben. Dann bricht 1914 der Erste Weltkrieg aus, angesichts von 17 Millionen Todesopfern in den Augen vieler Historiker die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«. Robert Scholl ist Pazifist und verweigert den Dienst an der Waffe. Er wird in das Reservelazarett der Sanitätskompanie in Ludwigsburg bei Stuttgart abkommandiert und verliebt sich dort in die zehn Jahre ältere Ordensschwester Lina Müller, die aus einer Handwerkerfamilie stammt. Sie legt nach kurzem Zögern die Tracht der Diakonisse ab und heiratet Robert Scholl 1916.

Wie sieht die Welt aus, in die Sophie Scholl und ihre Geschwister hineingeboren werden? Das alte Kaiserreich ist zusammengebrochen, der Erste Weltkrieg verloren und die Siegermächte zwingen die Deutschen im Versailler Vertrag zu Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen. Dass Deutschland lediglich 13 Prozent seines Territoriums verloren hat und damit immer noch die größte Macht in der Mitte Europas bleibt, übersehen die Verlierer geflissentlich, wenn sie über die Kränkung ihres deutschen Nationalgefühls klagen. Und das Etikett »Alleinschuld«, das die Siegermächte den Deutschen aufdrücken, weisen sie empört zurück. Statt sich nach dem Krieg des eigenen Fehlverhaltens bewusst zu werden und sich moralisch zu erneuern, schlagen die Deutschen einen anderen Weg ein: Sie geben den Unzufriedenen und Unbelehrbaren Gelegenheit, einen Sumpf aus Lügen, Größenwahn und Hass zu bereiten. Dies wird der Nährboden des Nationalsozialismus sein.

Als Robert Scholl 1917 eine Stelle als Ortsvorsteher in Ingersheim am Neckar bekommt, kann die hochschwangere Lina endlich mit ihm in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Inge Scholl wird dort im August 1917 geboren, ihr Bruder Hans ein Jahr später. Schon bald zieht die Familie weiter, denn 1920 wird Scholl Bürgermeister in Forchtenberg.

Die Familie gehört jetzt zu den »besseren Leuten«, wie es damals heißt. Kaum ist die geräumige Wohnung im Obergeschoss des Rathauses bezogen, da vergrößert sich die Kinderschar um Tochter Elisabeth. 1921 wird als viertes Kind Sophie Scholl geboren. Ihr Taufname lautet eigentlich Sophia Magdalena, sie selbst nennt sich später fast durchgehend Sofie, auch ihre Familie und Freunde machen das so. Trotzdem hat sich im Laufe der Zeit die Schreibweise Sophie eingebürgert, weshalb sie auch in diesem Buch so genannt werden soll.

Ein Jahr nach Sophie kommt Bruder Werner zur Welt und als Letzte folgt 1925 Thilde. Dass Robert Scholl noch ein weiteres Kind hat, wissen nur wenige Forchtenberger. Ernst Gruele, geboren 1915, entstammt einer vorehelichen Beziehung und lebt mit bei den Scholls. Er erscheint allerdings fast nie auf Fotos und wird offiziell als Pflegekind bezeichnet.

Robert Scholl ist durchaus ehrgeizig und will sich als Erneuerer einen Namen machen. Er sorgt für den Bau eines Kanalsystems, den Ausbau von Straßen und die Anbindung Forchtenbergs an das Eisenbahnnetz. Als das erreicht ist, stiftet er als Bürgermeister höchstpersönlich die Bahnhofsuhr. Auch die Errichtung einer Turnhalle und eines Lagerhauses für die Ernte der Bauern setzt er durch, und 1927 sorgt er dafür, dass sich der erste Arzt in der Stadt niederlässt.

Dass ihr Vater ein wichtiger Mann ist, spüren die Kinder sehr deutlich. Scholl wird überall höflich begrüßt, hält Reden und bekommt Applaus und seine Familie nimmt bei jedem Festumzug die besten Plätze ein. Scholl ist ein geachteter, aber kein beliebter Bürgermeister, denn er wahrt immer eine gewisse Distanz zu seinen Wählern. Dass er sich nicht zu ihnen ins Wirtshaus setzt, sehen sie ihm nach, aber dass er die falschen Zeitungen liest und ungewöhnlich liberale Ansichten vertritt, regt die braven Forchtenberger ziemlich auf.

Robert Scholl weiß sehr gut, dass die Weimarer Republik (1918/19–1933) eine »Demokratie ohne Demokraten« ist, nicht nur weil die Deutschen bisher keine Demokratie »erlernt« haben, sondern auch weil die alten Machteliten des Kaiserreichs weiterhin die Schaltstellen des Staates in Bürokratie, Justiz und Militär besetzt halten. Im Reichstag kämpfen bis zu siebzehn Parteien um die Vorherrschaft und die Regierung wechselt praktisch jedes Jahr einmal. Rechtsextreme belasten die junge Republik durch Terrorakte und Morde. Die Linksextremen hingegen unternehmen mehrere Aufruhrversuche.

Durch seine fortschrittliche Politik verliert Robert Scholl mit den Jahren die Gunst seiner Wähler. Als er dies spürt, bewirbt er sich 1926 auf eine Stelle in Künzelsau, ohne Erfolg.

Die selbstbewusste, kluge und hübsche Lina Scholl ist eine energische Hausfrau, die sich ganz dem Wohl ihrer Familie verschrieben hat. Sie beaufsichtigt die Kinder und führt den Haushalt auf sparsame, umsichtige Weise. Meistens geht ihr dabei ein junges Mädchen zur Hand. Die Bauern aus dem Umland sind froh, wenn ihre Töchter gegen Kost und Logis Anstellung in einem Bürgerhaushalt finden. Auch ein Kindermädchen lebt schon seit der Geburt von Inge in der Familie.

Während die Amtszimmer des Bürgermeisters nach vorne zur Straße liegen, gehen die privaten Wohnräume im hinteren Teil des Rathauses zum Garten hinaus. Die Kinder halten sich vor allem in der großen Diele auf, hier wird gegessen und gespielt, vorgelesen und für die Schule gelernt. Nur zum Klavierüben müssen sie in das »bessere Zimmer« nach nebenan, wo es meistens kalt und ungemütlich ist. An die Diele grenzt auch die düstere Küche des Hauses, in der das Essen mühsam auf einem alten Herd zubereitet werden muss, was Lina Scholl oft beklagt.

Neben einem hübschen Blumengarten hinter dem Haus bewirtschaftet sie einen Obst- und Gemüsegarten am Ufer des Kochers. Der ist ihr besonderer Stolz und versorgt die Familie mit verschiedenen Apfelsorten, Zwetschgen, Kirschen und vielerlei Gemüse. Lina Scholl kocht mit viel Freude und Leidenschaft die Ernte ein, dörrt und bäckt. Als Frau des Bürgermeisters fühlt sie sich aber auch für soziale Fragen zuständig und kümmert sich um Arme und Kranke in Forchtenberg.

Liebe und Vertrauen wollen die Scholls ihren Kindern schenken und sie zu selbstständigen Menschen erziehen. Während Hans und Inge die evangelische Volksschule in Forchtenberg besuchen, werden Elisabeth, Sophie und später auch Werner jeden Morgen in die sogenannte Kleinkinderschule in der Unteren Gasse gebracht. An den Nachmittagen spielen die Scholls zu Hause oder bei den Kindern des Pfarrers, des Lehrers und des Apothekers. Aber auch die Wirts- und Metzgerskinder gehören zu ihren Freunden, denn die Kinder in Forchtenberg kennen keine Standesunterschiede.1 Im Scholl’schen Garten gibt es eine Schaukel, die als große Attraktion gilt, doch der weitläufige, etwas verwilderte Pfarrgarten eignet sich besser zum Klettern und Verstecken.

»Unser Vater hat als Bürgermeister in so einem kleinen Ort nicht viel verdient, deshalb ist es bei uns sparsam zugegangen. Wir haben ganz wenig Spielzeug gehabt und das hat uns gutgetan. Alles haben wir uns selber ausgedacht, Theater gespielt und einmal eine Oper im Pfarrgarten aufgeführt, die Inge komponiert hat«2, erinnert sich Elisabeth Scholl, die heute mit Nachnamen Hartnagel heißt.

An anderen Tagen wird die Schlossruine erkundet. Neugierig steigen die Kinder in den baufälligen Turm oder...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2013
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch
Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-407-74417-X / 340774417X
ISBN-13 978-3-407-74417-3 / 9783407744173
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