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England und Nordatlantik
Warten in Plymouth · Seekrank · Verhinderte Landung in Teneriffa · Der Sammler · Vor den Kapverden
Es war keine leichte Geburt. Allein die Wehen zogen sich über mehr als acht Wochen hin. Darwin hat ihre Phasen sorgfältig dokumentiert. Am 24. Oktober 1831 beginnt er in Devonport, dem Marinehafen von Plymouth, sein Reisetagebuch: Nach angenehmer Fahrt von London abends hier angekommen. So banal beginnen die aufregendsten Abenteuer. Das Schreiben bietet ihm während der folgenden fünf Jahre – so lange dauert die Reise schließlich – Halt und Heimat für seine Gedanken.
Tags darauf geht er zum ersten Mal an Bord der Beagle. Einige Wochen zuvor hat er sie noch im Dock gesehen, wo sie mehr einem Wrack glich als einem Schiff mit dem Auftrag, die Welt zu umsegeln. Jetzt empfängt sie ihn in einem Zustand von Geschäftigkeit und Durcheinander. Überall wird gesägt und gehämmert, geputzt und gestrichen. Kapitän FitzRoy hat eine Totalrenovierung des einstmaligen Küstenfrachters angeordnet. Die Brigg erhält ein neues Deck. Es wird gleichzeitig so weit angehoben, dass darunter etwas mehr Raum zum Atmen entsteht.
Am folgenden Tag wird sich Darwin der Enge an Bord bewusst. Meine eigene private Ecke erscheint mir so klein, dass ich die Sorge nicht loswerde, viele meiner Dinge zurücklassen zu müssen. Sosehr sich Planer, Schiffsschreiner und -zimmerleute auch bemühen, den Platz an Bord bestmöglich zu nutzen, das Volumen des Dreimasters können auch sie nicht verändern: Auf knapp achtundzwanzig Metern Länge bei nicht einmal zehn Metern maximaler Breite müssen neben zehn Kanonen und Munition, Vorräten für Monate, Ausrüstung für alle Fälle und Instrumenten für die Vermessung der Küsten, Buchten und Inseln insgesamt vierundsiebzig Menschen mit ihrer persönlichen Habe Platz finden.
Mir bleiben nur ein Koffer und mein kleiner Rucksack, um meine Habseligkeiten zu verstauen. Kleidung für alle Klimazonen, für Tropen, Wüsten, Steppen, Hochgebirge und arktische Gefilde. Badelatschen neben Wanderstiefeln, Moskitonetz neben Wollmütze und Handschuhen, leichter Schlafsack, Waschzeug und Erste-Hilfe-Set, Taucherbrille und Schnorchel, Ersatzbrillen, Telefon, Kamera, Fernglas, Lupe, allerlei Ladegeräte, ein Satz Tage- und Notizbücher, Stifte. Nur für das Wichtigste fehlt der Platz: Literatur.
Darwin kann auf eine Bordbibliothek von rund hundert Büchern zurückgreifen – Reiseberichte, Bestimmungswerke, Monografien. Meine Bibliothek mit all seinen Schriften, die viele Bände füllen, mit Karten, Material über Länder und Leute, mit historischen Stichen, Briefen und dazu noch eine stattliche Sammlung von Musikstücken und ein paar Hörbüchern wiegt nicht mehr als der Laptop, auf dem sie gespeichert sind. Wo Darwin Tausende Steine, Fossilien, Skelette, Bälge, Felle, Insekten, Muscheln, eingelegte Meerestiere und getrocknete Pflanzen sammelt und in Kisten und Fässern nach Hause schickt, will ich mich auf gewichtlose Souvenirs beschränken. Nichts bringen, nichts mitnehmen außer Bildern und Geschichten.
Unter allen Mitreisenden genießt Darwin eine Sonderstellung. Da er dank seines Vaters selbst für die Kosten der Passage aufkommt, kann er sich im Rahmen der Route frei bewegen. Er trägt keine Verantwortung außer für sich selbst. Noch geht er davon aus, innerhalb weniger Wochen aufbrechen zu können. Seinem Bruder Erasmus schreibt er nach London: Was für ein herrlicher Tag wird der 4. November für mich sein. Mein zweites Leben wird dann beginnen, und er soll für den Rest meines Lebens wie ein Geburtstag sein.
Dieser Tag verstreicht jedoch wie der nächste und die darauf folgenden, ohne dass an eine Abreise überhaupt zu denken ist. Am 12. November kehrt Darwin begeistert von einem Besuch auf der Beagle zurück. Die Männer waren gerade damit fertig, sie zu streichen, und natürlich waren die Decks klar und die Dinge verstaut. Zum ersten Mal fühlte ich eine Art maritimer Leidenschaft; niemand konnte sie ohne Bewunderung betrachten. 21. November: Brachte alle meine Bücher und Instrumente an Bord der Beagle. 23. November: Dies war ein sehr wichtiger Tag in den Annalen der Beagle. Um ein Uhr wurde sie aus ihrer Vertäuung gelöst und segelte fast eine Meile bis Barnett Pool. Hier wird sie bleiben, bis der Tag der Abreise kommt.
Dort, in den Gewässern vor Plymouth, nehme ich erstmals die Spur der Beagle auf, nachdem ich wochenlang Darwins Lebensspuren durch England gefolgt bin – vom Geburtshaus in Shrewsbury über die Universitätsstadt Cambridge, wo ich in die heiligen Hallen des Darwin-Archivs vorgelassen wurde und seinen greisen Ururenkel Richard Darwin Keynes besuchte, über London bis zu seinem Wohnhaus im Dörfchen Downe in Kent, wo er alle wichtigen Werke verfasst hat. Im Hafen beginnt das Fragen, das mich auf der gesamten Reise begleiten wird. Die meisten Seeleute wissen von dem Schiff und seinem berühmten Passagier, kennen aber keine Details. Von hier sind schon so viele Weltreisende und Auswanderer aufgebrochen, dass Darwin kein besonderes Interesse zuteilwird. Ein Gefühl für alte Schiffe, höre ich immer wieder, könne ich mir genauso gut auf der nachgebauten Mayflower verschaffen. Doch ich will kein falsches Schiff, sondern den echten Ort.
Dann hilft mir das Glück, dem der Reisende oft mehr verdankt als Planung und Verstand. Ein alter, wetterharter Kapitän auf einem Ausflugsboot, er nennt sich Adrian, entpuppt sich als kundiger Hobbyhistoriker. Die Werft in Devonport, sagt er, wo die Beagle im Dock lag, sei heute militärisches Sperrgebiet. Aber die Stelle in Barnett Pool, wo sie so lange vor Anker ihrer Abfahrt harrte, kenne er genau. Kein Passagier protestiert, als er auf dem Weg über den Sund, der Devon von Cornwall trennt, einen Umweg macht, um mir den damaligen Liegeplatz der Brigg zu zeigen. Steuerbord liegt Plymouth mit seinen Promenaden und weißen Fassaden, den Jachthäfen und der alten Marinekaserne, die gerade in eine Anlage mit Bars, Lofts und Luxusapartments umgebaut wird. Vor uns das grüne Hügelland von Cornwall, und backbord hinter der Einfahrt zur Bucht, lockend und bedrohlich, die offene See. Von hier geht es grenzenlos in alle Welt.
»Damals der beste Startpunkt für Schiffe«, erklärt der Kapitän und steuert gefährlich schnell auf den Kiesstrand von Barnett Pool zu. »Kein Problem.« Er zeigt auf den Monitor seines Echolotgeräts. Das Ufer fällt fast senkrecht auf vierzig Meter Tiefe ab. Erst kurz vor dem Strand dreht er bei. »Das ist eine der besten Stellen, um auf das richtige Wetter zu warten. Von hier kann man fast an Land hüpfen. Ein paar Ruderschläge nur, das ist alles.« Kaum Dünung, nur ein leichtes Lüftchen weht im Windschutz der Küste.
Noch nächtigt Darwin an Land. Seine Ungeduld wächst mit jedem Tag. 30. November: Alle meine Gedanken drehen sich um die Zukunft, und nur mit größter Schwierigkeit kann ich über ein anderes Thema reden oder nachdenken. 4. Dezember: Ich schreibe dies erstmals an Bord, es ist nun etwa ein Uhr, und ich beabsichtige, in meiner Hängematte zu schlafen. Dann, nach wochenlangem Ausharren, macht sich erstmals eine Spur von Missmut breit. 5. Dezember: Seit Mittag bläst ein schwerer Sturm aus Süden und vielleicht werden wir den Hafen nicht verlassen können. … Ich kehrte sehr verzweifelt nach Hause zurück, beabsichtige aber, mir noch ein letztes Mal das Schlafen in einem sicheren festen Bett zu gönnen. 7. Dezember: Es wird von Tag zu Tag ermüdender, so lange im Hafen zu bleiben …
Am 10. Dezember soll es endlich losgehen. Um 9 Uhr holten wir unsere Anker ein und segelten kurz nach 10 los … wir hatten eine angenehme Fahrt, bis wir den Wellenbrecher umschifften … wo mein Elend begann. Mir ging es bald ziemlich schlecht, und in dem Zustand blieb ich bis zum Abend. … Ich litt entsetzlichst; solch eine Nacht habe ich noch nie verbracht, allenthalben nichts als Qualen. 11. Dezember: Es ging so weiter bis Sonntagmorgen, als beschlossen wurde, nach Plymouth zurückzukehren und dort bis zu einem günstigeren Wind zu bleiben.
In der Zange zwischen lähmendem Warten und der niederschmetternden Vorstellung der Fahrt auf See macht er sich am selben Tag Mut gegen die wachsende Verzweiflung. Nachdem ich nun so viel Zeit hatte, mir meine Meinung zu bilden, bin ich sicher, dass es recht war, das Angebot anzunehmen; dennoch halte ich es für fragwürdig, wie weit es zum Lebensglück beitragen wird. – Falls ich gesund bleibe und heimkehre und dann noch die mentale Stärke besitze, mich ruhig im Leben einzurichten, wird mein jetziger und künftiger Einsatz an Verdruss und an Wunsch nach Bequemlichkeit reichlich belohnt werden. 13. Dezember: Die grundsätzlichen Ziele sind 1. Sammeln, beobachten und lesen in allen Zweigen der Naturgeschichte, die ich irgendwie bewältigen kann. … Wenn ich nicht genug Energie aufbringe, mich selber während der Reise ständig zum Fleiß zu bewegen, welch großartige und außergewöhnliche Gelegenheit mich zu bessern würde ich wegwerfen. – Möge ich dies niemals auch nur einen Augenblick lang vergessen, dann habe ich vielleicht noch einmal die Chance, meinen Geist zu schärfen, die ich wegwarf, während ich in Cambridge war.
Womöglich hätte Darwin keinen heilsameren Schock erleben können als dieses zermürbende Vorspiel zur Reise seines Lebens. Sollte anfangs noch sein jungenhafter Leichtsinn im Spiel gewesen sein, so blasen ihm jetzt die Unrast des Geistes und das Elend seines Körpers alle Flausen aus dem Kopf. Zum ersten Mal fühlt der junge Mann so...