Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen
Max Webers These von der protestantischen Arbeitsethik, die dem Kapitalismus erst zu seinem Siegeszug verhalf, ist Allgemeingut. Entsprechend gilt Webers Abhandlung "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" seit ihrem Erscheinen vor über 100 Jahren als eine der maßgebenden soziologischen Untersuchungen. Heinz Steinert unterzieht Webers Aufsatzreihe der schon lange fälligen kritischen wissenschaftlichen Analyse und Historisierung. Sein Befund: Es gibt keinen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Protestantismus und kapitalistischem Wirtschaften. Webers Schrift ist vielmehr in ihrem historischen Kontext, als Teil der preußischen Religionskämpfe, zu sehen. Es wird darin die Krisenerfahrung der preußischen Bürger-Männlichkeit um die Jahrhundertwende in einer "asketischen" Haltung verarbeitet. Der Autor weist überdies nach, dass Begriffe wie "Idealtypus" oder "Wahlverwandtschaft" nur noch historisch interessant sind und dass eine neuerliche Befragung der weberschen Quellen zu neuen, anderslautenden Schlüssen führen muss.
Heinz Steinert ist Professor em. für Soziologie an der Goethe- Universität Frankfurt, wo er besonders über soziale Disziplinierung und ihre Geschichte gearbeitet hat. Er war Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien. Heinz Steinert lebt und arbeitet in Wien.
Inhalt
Vorwort: Über die Lektüre klassischer Texte
Einleitung
Die widerlegungs-immune "Weber-These"
Der Text und seine Varianten
Teil I:Die "Große Erzählung" und die handwerkliche Sorgfalt
Das Problem
Das erste Kapitel
Zweifelhafte Statistiken und Reminiszenzen an Bismarcks "Kulturkampf"
Protestantismus im Deutschen Reich um die Jahrhundertwende
Das zweite Kapitel
Die (Fehl-)Konstruktion eines "Geist des Kapitalismus"
Schmoller, Brentano, Sombart und die historische Schule der Nationalökonomie
"Historisches Individuum" I: Benjamin Franklin - ein amerikanischer Aufklärer und Revolutionär
Das dritte Kapitel
"Asketischer Protestantismus" ist die Antwort, aber was war die Frage?
"Historisches Individuum" II: War Jakob Fugger der Reiche (1459-1525) ein Kapitalist?
Zwischenbetrachtung: Was ist das Forschungsprogramm?
Das vierte Kapitel
Die calvinistische Prädestinationslehre und wie man mit der metaphysischen Angst lebt, die sie macht
Kirchen, Orden, Sekten
"Historisches Individuum" III: Leon Battista Alberti (1404-1472) und Sombarts zweiter "Geist des Kapitalismus"
Das fünfte Kapitel
Seelsorgerische Lebensberatung und die Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang
Die Reformation im Rückblick
Das sechste Kapitel
Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika über den Nutzen, einer Sekte anzugehören, sowie Vermutungen über die Grenzen der Abendmahlsgemeinschaft
Zugehörigkeit und Ausgrenzung: Die Puritaner und ihr Gottesstaat in Massachusetts 1630-1690 167
Teil II: Die Logik von historischen Zusammenhängen
Fragen der historischen Begriffsbildung: Wie unterscheidet sich eigentlich ein "Idealtypus" von einem üblichen, also weniger idealen Typus?
Kausalität und Wahlverwandtschaft: Wie der Kapitalismus geboren wird, sich durchkämpft, sich beschafft was er braucht - und seine Wahlverwandtschaften pflegt
Der Text als Springprozession: Wie man durch starke
Behauptungen und vorsichtige Rücknahmen zugleich populär wirksam und wissenschaftlich seriös ist
Teil III: Die Blockade von wissenschaftlichem Fortschritt
Die "Troeltsch-Weber-These" und ihre Kritiker: Die Herren Professoren diskutieren
Hundert Jahre empirische Forschung: Widerlegungen und Fortführungen
Geschichtskonstruktionen
Was ist eigentlich so faszinierend an den Puritanern?
"Historisches Individuum" IV: Henry Fletcher, Margaret Carnegie, Sir John Clerk of Penicuik und der Geist des Kapitalismus im calvinistischen Schottland
Die Schicksale der "Protestantischen Ethik": Konturen des Arbeitsprogramms für eine Rezeptionsgeschichte
Teil IV: Die "Protestantische Ethik" im preußischen Fin de siècle
Der Begriffsvorrat der Zeit
Die Erfahrungen der Jahrhundertwende
Die Malaise des bürgerlichen Individuums
Freud als Kritiker …
… und Weber als Erzieher
Das Fin de siècle in Heidelberg und Wien: eine Zwischenbilanz
Wirtschaft als Beruf: der verunsicherte Unternehmer als bürgerlicher Held
Dr. Sigmund Freud in Wien deutet eine Phantasie von "innerweltlicher Askese"
Literatur
A: Max Weber
B: Andere Literatur
Kapitalismus hat zwar Aspekte eines Glaubenssystems und einer Kirche, die dessen Dogmen verwaltet, aber man sollte die historische Verantwortung für ihn nicht spezifisch dem Puritanismus zuschieben, wie das im Kern der "Weber-These" geschieht. Sobald sie über die Ungenauigkeiten der Alltagsreligiosität hinausgehen, von deren Feiertagen wir uns das Jahr gliedern lassen und mit deren mehr oder weniger esoterischen Ritualen manche sich das Bewusstsein vom Leibe halten, dass sie verkehrt leben, sind und waren Religionen tendenziell anti-kapitalistisch. Viel mehr als über einen religiös oder sonst unabhängig hergestellten "Geist" verfügt Kapitalismus über eine aggressive Faktizität, die sich durchsetzt und ausbreitet und ihre ideologischen Rechtfertigungen, besonders die benötigte Arbeits- und Wirtschaftsmoral, selbst erzeugt. Die hat natürlich ihre besonderen Nutznießer und Betreiber, die sich nicht darum kümmern können, ob sie mit den aggregierten Effekten ihres Tuns anderen das Leben schwer machen oder den Planeten ruinieren. Aber das hat weder eine heroische Dimension noch eine Tragik, wie sie aus Webers Abhandlung gern herausgelesen werden. Die vor einem Jahrhundert in die Welt gesetzte und in dessen Verlauf besonders in der Soziologie gepflegte Terminologie von "protestantischer Ethik" und "Geist des Kapitalismus" war nie besonders glücklich und könnte allmählich verabschiedet werden. Nach dem heutigen Stand der Forschung lässt sich sagen: Es gibt keine spezifisch wirksame "protestantische Ethik", hat auch historisch keine für die Reformation in Europa oder auch nur für die protestantischen Sekten in Großbritannien einheitliche gegeben. Und der "Geist des Kapitalismus", die wandelbare und widersprüchliche Arbeits- und Wirtschaftsmoral dieser inzwischen weltbeherrschenden Produktionsweise, ist nicht auf paradoxe Weise aus religiösem Asketentum entstanden. Max Webers aparte Idee, Kapitalismus zu der unbeabsichtigten Nebenfolge von religiöser Weltabgewandtheit zu machen, ist zwar hübsch, aber historisch falsch. Die 1904 bis 1906 erschienene Reihe von Aufsätzen, die heute als "Klassiker" unter dem Titel "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" weltweit in allen Sprachen und auch in populären Ausgaben verbreitet ist, war damals in Deutschland - und später erst recht in den Vereinigten Staaten - Vielen plausibel (besonders den Protestanten), aber ihr wissenschaftlicher Wert war von Anfang an umstritten. Methodisch könnte man die Abhandlung ohnehin am ehesten als Beispiel dafür verwenden, wie man eine sozialhistorische Untersuchung nicht anlegen sollte. Inhaltlich wurde die "Weber-These" in dem Jahrhundert an Forschung, seitdem sie dem staunenden Publikum der vorletzten Jahrhundertwende im Wilhelminischen Deutschland präsentiert wurde, in praktisch allen Einzelheiten und als Gesamtaussage nicht bestätigt, in vielen Punkten widerlegt. Wir könnten also ruhig die Protestantismus-Kapitalismus-Idee in den Archiven ablegen und zur Tagesordnung der Kritik des Kapitalismus übergehen, die aufregend genug ist. Die Religionssoziologie könnte sich der Frage widmen, was damals und im Lauf des 20. Jahrhunderts die historischen Umstände waren, die diese These in einer breiten Öffentlichkeit und besonders in den Sozialwissenschaften akzeptabel bleiben ließen. Aber Max Weber ist heute - und nicht zuletzt aufgrund dieser Abhandlung - der Soziologe und einer der unumstrittenen Gründerväter dieser akademischen Disziplin. Kein soziologischer Festvortrag ohne mindestens ein Weber-Zitat. Ohne wenigstens ein Semester ausführlicher Beschäftigung mit Max Weber kommt niemand durch ein sozialwissenschaftliches Grundstudium. Webers Begriffe werden als heute noch gültiges, zeitloses Vokabular der Gesellschaftstheorie behandelt, seine Untersuchung zum "Geist des Kapitalismus" wird als wichtiges und immer noch aktuelles Beispiel für eine historische und "verstehende" Soziologie geführt. Im Vorwort eines Buchs zum hundertjährigen Jubiläum von "Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus" vergleicht der US-Soziologe Charles Lemert (2005) diese Aufsatzsammlung mit der ersten Formulierung der speziellen Relativitätstheorie samt E=mc2 und entsprechend die Bedeutung Max Webers für die Sozialwissenschaften mit der von Albert Einstein für die Physik. Aus Webers These zum Zusammenhang zwischen Reformation und Kapitalismus sind zwar keine Gegenstücke zu Atombombe und Weltraumfahrt entwickelt worden, sie stützt aber in populärer Vereinfachung doch ein besonders in den USA verbreitetes Bewusstsein, dass (protestantische) Religiosität gut sei für die Arbeitsdisziplin, aus der wiederum kapitalistischer Wohlstand entstehe. Und sie beförderte die Überzeugung, dass der europäisch-amerikanische Westen durch seinen "Rationalismus" dem Rest der Welt überlegen und daher zum Export seines kapitalistischen Modells in die "unterentwickelten" Teile der Welt berechtigt, wenn nicht verpflichtet sei. Interessant ist, dass die zahlreichen Kritiken, die nicht nur die Ergebnisse, sondern die Logik der Begriffsbildung und des Arguments auseinandergenommen haben, an der außerordentlichen Hochschätzung der "Weber-These" in der Profession und beim allgemeinen Publikum nichts ändern konnten. Der übliche Konter zur empirischen Widerlegung eines Details oder zum Nachweis eines Fehlers schon in Webers Argument selbst, der in der Weber-Literatur immer wieder zu finden ist, besteht in der nachsichtig-überlegenen Erläuterung, dass Weber das, was gerade widerlegt wurde, gar nicht behauptet habe, dass seine Theorie viel subtiler und vorsichtiger sei und dass die Kritik daher ins Leere gehe. Die Fortsetzung dieses Konters besteht in einer Reformulierung der "Weber-These". In beiden Fällen wird den Kritikern entweder dummes (sie haben nicht aufmerksam und umfassend genug gelesen) oder bösartiges (sie bauen einen Weber-Strohmann auf, um ihn leichter abbrennen zu können) Missverstehen unterstellt. Dass so häufiges "Missverstehen" vielleicht am Text selbst liegen könnte, wird nicht angenommen. Aber tatsächlich ist die "Weber-These" so ungenau formuliert, dass man sie ohne Konkretisierung gar nicht empirisch untersuchen kann. Und, verwirrender: Sie wird an einer Stelle "stark" formuliert vorgetragen oder impliziert, um dann anderswo bis zur Bedeutungslosigkeit zurückgenommen und relativiert zu werden. Nur in der ersten, provokanten Form hat sie Aufmerksamkeit (und Widerspruch) gefunden, in der zweiten, seriösen Formulierung hätte sie niemand beachtet.
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2010 |
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Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 141 x 214 mm |
Gewicht | 415 g |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeines / Lexika |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie | |
Schlagworte | Arbeitsmoral • Franklin, Benjamin • Hardcover, Softcover / Soziologie/Soziologische Theorien • Kapitalismus • Protestantische Ethik • Weber, Max |
ISBN-10 | 3-593-39310-7 / 3593393107 |
ISBN-13 | 978-3-593-39310-0 / 9783593393100 |
Zustand | Neuware |
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