Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert: Reclam Lektüreschlüssel XL (eBook)
120 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962188-3 (ISBN)
3. Figuren
Beckmann
»Beckmann« – seinen Vornamen erfahren wir nicht – ist ein Kriegsheimkehrer, der im Herbst/Winter 1945/46 nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft in Sibirien (S. 55) in seine Heimatstadt Hamburg zurückkommt. Die Datierung ergibt sich am genauesten aus der Äußerung des Mädchens, ihr Mann sei in Stalingrad vermisst: »Das war vor drei Jahren.« (S. 22) Beckmann ist 25 Jahre, von eher schmächtiger Äußere Merkmale IStatur und von fahler Gesichtsfarbe. Er trägt einen Bart (S. 39). In einer Schlacht wurde er am Bein verwundet (»Kniescheibe gestohlen«, S. 18), das seitdem steif ist, weswegen er stark hinkt. Die Hauptgestalt des Dramas trägt den Namen eines Freundes von Borchert, des Bildhauers Curt Beckmann.
Seine Militärische LaufbahnLaufbahn als Soldat im Zweiten Weltkrieg kann der Leser mittels einiger verstreuter Angaben im Laufe des Stücks weitgehend rekonstruieren. Sechs Jahre lang (S. 28) trug Beckmann die Uniform der deutschen Wehrmacht, also seit seinem 21. Lebensjahr. Da er »drei Jahre lang weg« (S. 15) war, ergibt sich, dass er etwa im Sommer/Herbst 1942 einen Heimatbesuch gemacht haben muss. Dann muss er gleich wieder an die Front nach Stalingrad gekommen sein, wo er in russische Kriegsgefangenschaft geriet (S. 29). Die Einsätze, an die Beckmann sich erinnert bzw. erinnern lässt (»Schneesturm bei Smolensk«, »Bunker bei Gorodok«, S. 14; der »14. Februar« bei Gorodok, S. 36), geschahen alle an der Ostfront des Zweiten Weltkrieges und müssen gemäß der Verschiebung des Frontverlaufs zeitlich bedeutend früher liegen, also ab dem Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Zu diesem Zeitpunkt hatte Beckmann es bereits in den Rang eines Unteroffiziers geschafft (u. a. S. 36).
Zwei Tage, bevor die eintägige Handlung stattfindet, war der invalide Kriegsheimkehrer in Hamburg eingetroffen (S. 43), hatte tags darauf seine Privatleben – FamilienstandEhefrau aufgesucht, sie aber mit einem anderen Mann angetroffen. Mit dieser Frau hatte er ein gemeinsames Kind, das, wie man dem Zusammenhang (S. 16) entnehmen kann, einem Bombenangriff zum Opfer fiel. Es war »gerade ein Jahr alt und ich hatte ihn noch nicht gesehen« (S. 16). Entweder also wurde das Kind bei einem früheren Heimatbesuch gezeugt und seine Frau war beim Heimatbesuch im Sommer/Herbst 1942 mit dem Kind schwanger. Gestorben sein könnte der Kleine dann während der Luftangriffe der »Operation Gomorrha« auf Hamburg im Juli/August 1943. Oder aber das Kind wurde auf dem genannten Heimatbesuch gezeugt – dann muss es aber ein späteres Bombardement gewesen sein, während dem es den Tod fand.
Sowohl die Zeit als Soldat (1939–42/43) als auch in Kriegsgefangenschaft (1942/43–45) haben deutliche Spuren im Mentale DispositionDenken und Fühlen Beckmanns hinterlassen. Er ist verzweifelt, weiß nicht, wohin mit sich, alle Türen scheinen ihm selbst in der (ehemaligen) Heimat versperrt. Er ist seiner Umgebung, die Umgebung ist ihm fremd geworden. Die Erfahrungen, die Angst auf den Schlachtfeldern, das Hungern und Frieren im Kriegsgefangenenlager, das Leiden an der Teilnahmslosigkeit der Mitmenschen lasten zentnerschwer auf ihm. Er selbst scheint den Krieg wieder in eine Gesellschaft, die mit dem Krieg abschließen will, hineinzutragen. Mit dem Verlust von Kind und Frau hat er den Lebensmut verloren und will sich das Leben nehmen, was misslingt. Er wird am Strand von Blankenese wieder an Land gespült.
Eine besondere Rolle spielen die Beschreibungen des Äußere Merkmale IIÄußeren Beckmanns, die sowohl er als auch vor allem die anderen Figuren vornehmen. Beckmann trägt eine so genannte »Gasmaskenbrille« (S. 20), ein absonderliches Brillengestell, das dem Träger ein roboterartiges Aussehen verleiht. Kaum eine andere Figur im Stück versäumt es, Beckmann darauf anzusprechen. Die borstige Kurzhaarfrisur erinnert den Oberst an einen entlaufenen Sträfling (S. 29) – dabei ist es nur der Schnitt, der im Kriegsgefangenenlager jedem verpasst wurde (S. 29). Die äußeren Merkmale Beckmanns gewinnen im Stück leitmotivischen Charakter, wie das Mädchen eingängig formuliert: »Mit der Brille und dem Bein noch diese kurzen kleinen Borsten.« (S. 23)
Ohnehin trägt das Mädchen in der 1. und 2. Szene viel zur Charakterisierung durch das MädchenCharakterisierung der Figur bei, unterstützt von Beckmann selbst, der über sich mit ihrer Hilfe reflektierende Gedanken macht. Grau sei er, trost- und hoffnungslos, schlechtgelaunt, vor Müdigkeit maulfaul geworden, dennoch sympathisch in seiner Hilfebedürftigkeit. Er fühlt sich wertlos, weniger als ein Mensch als eine Sache (S. 15), und nicht dazugehörig: »Vielleicht bin ich auch ein Gespenst. […] Ein Gespenst aus dem Krieg, für den Frieden provisorisch repariert.« (S. 22) Scharfsinnig schließt das Mädchen: »Ich glaube, Sie tragen innerlich auch so eine Gasmaskenbrille.« (S. 22)
In Interaktionen mit den anderen Figuren trägt Beckmann unterschiedliche, sich abrupt abwechselnde Gesichter, was seine psychische Psychische Beschädigung und MenschheitspathosBeschädigung unterstreicht. Meist reagiert er apathisch und unzugänglich, seine resignative Haltung schlägt aber im Gespräch nicht selten auch in bitteren Sarkasmus um. Worte und Gedankengänge, die für ihn von Unmenschlichkeit zeugen, bringen ihn gar an die Grenze zur Raserei (S. 39, 49, 57). Wie aus den Gesprächen vor allem mit dem Anderen hervorgeht, ist Beckmann tief enttäuscht von der Mitleidlosigkeit seiner Umgebung – eine Haltung, die offenbar aus einem hohen ethischen, fast idealistischen Anspruch an das Menschsein entspringt (u. a. S. 72).
Einen weiteren Grund für die prekäre persönliche Situation Beckmanns lernt der Zuschauer am Ende der 2. Szene kennen: seine SchuldgefühleSchuldgefühle. Der Einbeinige, der überraschend zurückkehrende Ehemann des Mädchens, stellt sich als jener Obergefreite Bauer heraus, dem er einst auf dem Schlachtfeld den Befehl erteilte, seinen Posten bis zum Letzten zu halten. Dabei muss Bauer sein Bein verloren haben (S. 26). Als der Einbeinige seinen ehemaligen Befehlshaber wiedertrifft, spricht er den Namen »Beckmann« mit »ungeheurem Vorwurf« (S. 25) aus. »Ich soll weiterleben«, so Beckmann später zum Anderen, »wo es diesen Einbeinigen gibt, der immer Beckmann sagt?« (S. 26).
Das Motiv der Schuldgefühle ist dann zentrales Element auch der 3. Szene. Beckmann erzählt, dass er schlecht von den toten Soldaten des Weltkriegs Qualen durch Alpträumeträumt, seinen Kameraden, die als Skelette auf die Erdoberfläche zurückkehren und ihn mit seinem Namen ansprechen. Seine ständige Müdigkeit ist mit auf den Umstand zurückzuführen, dass er irgendwann nachts schreiend aus diesem Traum erwacht und dann nicht wieder einschlafen kann, gepeinigt von den Gestalten, Gesichtern und Stimmen der Angehörigen jener Soldaten, die auf seinen Befehl – und auf seine Verantwortung – an einem 14. Februar (eines ungenannten Jahres) bei Gorodok mit ihm einen Erkundungsgang unternahmen, aber nicht mit zurückkehrten. In der 3. Szene sucht er jenen Oberst auf, der ihm damals den Befehl erteilt hatte: Ihm will er, bildlich gesprochen, die Verantwortung »zurückgeben«.
Die schuldhaften Kriegserfahrungen, die Zurückweisung durch die Hamburger, die suizidale Grundstimmung, die psychische Labilität haben Beckmann darüber hinaus in eine massive Gebrochene IdentitätIdentitätskrise gestürzt. Er leidet an seinem Vor- und Nachnamen, weiß selbst kaum, ob er schon tot ist oder noch lebend, hat mit dem Anderen einen Gesprächspartner an seiner Seite, den man mit gutem Grund als eine Abspaltung seiner Persönlichkeit interpretieren kann. Die anderen Figuren benennen Beckmann gerne mit wechselnden Namen, was diese Zerspaltenheit unterstreicht. Mit dem geplanten Gang zum Zirkus bzw. zum Kabarett entwickelt Beckmann am Ende der 3. und der 4. Szene Züge einer Extrovertiertheit, mit der man als Zuschauer nicht gerechnet hätte – auch dies ein Merkmal einer gebrochenen Persönlichkeit, die sich selbst nicht mehr kennt.
Am Anfang der 5. Szene werden indirekt Beckmanns ElternhausEltern vorgestellt. Das Leben, das Beckmann in der von ihm aufgesuchten Wohnung als Kind und Jugendlicher führte, beschreibt dieser zwar als recht eintönig und gewöhnlich, aber doch liebevoll. Insgesamt muss diese Kindheit ziemlich behütet verlaufen sein. Doch das Messingschild mit dem gewohnten Familiennamen fehlt, und stattdessen berichtet ihm die nun dort lebende Frau Kramer vom Verbleib seiner Eltern: Der Vater hatte im Zuge der Entnazifizierung seine Arbeitsstelle verloren und sollte nun auch aus der Wohnung raus – da nahm er sich mit seiner Frau das Leben.
Im weiteren Verlauf der 5. Szene klagt Beckmann die Figuren, die ihm zuvor begegnet waren, des Mordes an sich an. Seinem Gesprächspartner, dem Anderen, will er verständlich machen, dass es mit ihm in diesem Leben nicht weitergehen werde. Seine Wachsende VerzweiflungVerzweiflung erreicht den Höhepunkt. Erst seine letzte Begegnung, mit dem Einbeinigen, bringt ihn dazu, in sein Selbstbild als Gemordeter das des Mörders zu...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2024 |
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Reihe/Serie | Reclam Lektüreschlüssel XL | Reclam Lektüreschlüssel XL |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lektüren / Interpretationen ► Deutsch |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | Analyse • Charakterisierung • deutsch abitur • Deutsch Matura • Erläuterungen • Inhaltsangabe • Interpretation • Klausur • Kommentar • Lektürehilfe • Referat • Sekundärliteratur • Textanalyse • Zusammenfassung |
ISBN-10 | 3-15-962188-X / 315962188X |
ISBN-13 | 978-3-15-962188-3 / 9783159621883 |
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