Die Meyerdierks (eBook)

September 1944 - Im Zug nach Norden

Anita hielt die Hände auf ihren Bauch. Sie spürte Bewegungen, da wo eigentlich keine Bewegungen hätten sein durften. Der Zug ratterte, im Fenster sah sie, dass sie Erfurt durchfuhren. Der Zug hielt nicht, er hatte es eilig, nach Hannover zu kommen. Anita nicht. Sie ließ ihr Leben zurück und fuhr in den Norden zurück, nach Oldenburg, gescheitert. Das Kind unter ihrem Herzen trat und bewegte sich, als wollte es gegen das Ratata des Zuges protestieren. Vor Anita lag ein Kompromiss, womöglich lebenslang. Sie überlegte, wer diesen Kompromiss zu verantworten hatte, viele kamen in Betracht. Zuerst das Kind im Bauch. Das war nicht ganz fair, wusste Anita und trotzdem, ohne das Treten in ihrem Unterleib wäre Anitas Leben vielleicht klarer. Die Bewegungen in ihrem Bauch waren so stark, dass sie beinahe unmöglich von nur einem Kind ausgelöst hätten sein können. Wer weiß?

Wie hatte das nur geschehen können? Bei sich die Schuld zu suchen, war ihre Sache nicht. Es wurde dunkel, aber der Zug blieb unbeleuchtet. Das war Gesetz, und auch gut so. Anita war nicht scharf darauf, willkommenes, gut sichtbares Ziel der alliierten Streitkräfte in ihrem Zug zu werden.

Jetzt meldete sich auch noch Roswitha zu Wort. Das Kind hatte Hunger. Roswitha war jetzt über ein Jahr alt, im Juni hatte sie ihren ersten, freudlosen, Geburtstag. Gut, dass Roswitha nicht wusste, dass sie Geburtstag gehabt hatte, wer hätte es ihr auch erzählt haben sollen. Anita nicht, auf keinen Fall Anita.

Roswitha war die Erinnerung an das, was sie hinter sich lassen wollte, aber nicht konnte. Roswitha war der Anker, der sie an die Vergangenheit kettete. Die Erinnerung an Leid, Verderbtheit, das Fehlen von Moral, auch an die Hölle Dachaus. Roswitha war der ungeliebte Spiegel, der Anita ihr wahres Ich zeigte.

Die Zeit in Dachau war keine schöne. Sie hatte sich 2 Jahre zuvor...