Warum Krieg? (eBook)
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02134-1 (ISBN)
Richard Overy, geboren 1947 in London, lehrt Geschichte an der University of Exeter. Mehrere seiner Bücher, darunter «Russlands Krieg» und «Die Diktatoren», gelten als Standardwerke. «Weltenbrand» (2023), Overys große Geschichte des Zweiten Weltkriegs, wurde zum «New York Times»-Bestseller; das Buch stand auf der Shortlist des Gilder Lehrman Prize und wurde mit der Duke of Wellington Medal for Military History ausgezeichnet. Joachim Käppner schrieb in der «Süddeutschen Zeitung»: «Eine meisterliche, monumentale ... Erzählung über den schrecklichsten Krieg der Geschichte.» Und der «Economist» meinte: «Ein herausragendes Buch, das die tiefe Gelehrsamkeit und das reife Urteil eines exzeptionellen Historikers spiegelt.»
Richard Overy, geboren 1947 in London, lehrt Geschichte an der University of Exeter. Mehrere seiner Bücher, darunter «Russlands Krieg» und «Die Diktatoren», gelten als Standardwerke. «Weltenbrand» (2023), Overys große Geschichte des Zweiten Weltkriegs, wurde zum «New York Times»-Bestseller; das Buch stand auf der Shortlist des Gilder Lehrman Prize und wurde mit der Duke of Wellington Medal for Military History ausgezeichnet. Joachim Käppner schrieb in der «Süddeutschen Zeitung»: «Eine meisterliche, monumentale ... Erzählung über den schrecklichsten Krieg der Geschichte.» Und der «Economist» meinte: «Ein herausragendes Buch, das die tiefe Gelehrsamkeit und das reife Urteil eines exzeptionellen Historikers spiegelt.»
Prolog Warum Krieg?
Dieses Buch ist aus mehreren Gründen eine Unverschämtheit. Erstens bin ich als Historiker nur Experte für die Kriege, die in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts – also fast am Ende einer sehr langen Menschheitsgeschichte der Gewalt – auf der ganzen Welt geführt wurden. Demnach fallen die zigtausend Jahre dieser Geschichte, die hier auch behandelt werden, eindeutig nicht in mein Spezialgebiet. Zweitens liegen die schriftlichen Erklärungsversuche für diese lange Geschichte kriegerischer Gewalt größtenteils in der Domäne naturwissenschaftlich geprägter Disziplinen wie der Anthropologie, Ethnologie, Ökologie, Psychologie, Humanbiologie und Archäologie. Historiker sind bemerkenswerterweise kaum beteiligt, wenn es um Antworten auf die große Frage geht, warum Menschen Kriege führen. Teilweise ist diese Zurückhaltung verständlich, denn Historiker können nicht auf eine naturwissenschaftliche Ausbildung bauen, wie sie evident wird, wenn Nichthistoriker sich zu diesem Thema äußern. Werden in der Literatur, die sich der Erklärung von Kriegen widmet, die Disziplinen der Beitragenden aufgelistet, so fehlt die Geschichtswissenschaft meistens ganz – was seltsam berührt angesichts der Tatsache, dass die Darstellung und Erklärung der Kriege vergangener Zeiten eine einzigartig historische Aufgabe ist.
Meine Rechtfertigung für dieses Buch, wenn sie denn erforderlich ist, lautet, dass ich mich seit Jahrzehnten mit dem größten und tödlichsten Konflikt der Weltgeschichte beschäftige. Die meisten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Mühlen dieses langen, blutigen Weltkrieges gerieten, hätten zweifellos Frieden bevorzugt, und doch wurde dieser Krieg ohne jegliche Zurückhaltung vorrangig von Staaten geführt, die sich einer hoch entwickelten Zivilisation zugehörig fühlten. Die Frage, wie die Menschheit diesen grausamen Endpunkt der Moderne erreichte, wirft also viel tiefergehende Fragen auf: nämlich, warum sich Menschen überhaupt jemals aktiv für Krieg entschieden haben, nicht nur jene «zivilisierten» Staaten in der Mitte des 20. Jahrhunderts, sondern bereits alle Staaten und Gesellschaften, die sich historisch zurückverfolgen lassen, und darüber hinaus auch schon in prähistorischer Zeit. Diesen Fragenkomplex habe ich mit großem Wissensdrang untersucht – nur dass ich am Ende der Geschichte begonnen habe und nicht bei den Anfängen in grauer Vorzeit.
Eine weitere Rechtfertigung ist die genuin historische Natur der Debatte über das Andauern kriegerischer Handlungen in der gesamten Menschheitsgeschichte. Der Diskurs über den Krieg hat inzwischen seine eigene Geschichte, von Darwin und Freud bis hin zu Pinker und Keeley. Es ist durchaus sinnvoll, zu untersuchen, wie die Vorstellungen von Krieg und seinen Ursachen in den letzten hundert Jahren durch jeweils eigene Kontexte beeinflusst und geformt wurden, bevor man darangeht, den heutigen Diskussionsstand zu präsentieren. Das ist eine Aufgabe, die Historikern zufällt.
Das vorliegende Buch richtet sich an ein breites Publikum, das mehr darüber erfahren möchte, welche Antworten die moderne Forschung auf die Frage «Warum Krieg?» bereithält. Ich habe versucht, auf allzu komplexe technische Fragen zu verzichten sowie spezielles Fachvokabular nur dort zu verwenden, wo es unvermeidlich ist. Dieses Buch soll eine Einführung in teils höchst umstrittene Argumentationen und Annahmen zum Thema vergangener wie gegenwärtiger Kriegführung darstellen. Die Frage nach den Ursprüngen des Krieges wird teilweise selbst zu einem regelrechten akademischen Schlachtfeld. Es ist inzwischen zu einer schwierigen Aufgabe geworden, dem Minenfeld dieser Auseinandersetzungen halbwegs zu entgehen. Eine Parteinahme lässt sich dabei kaum vermeiden, und ich behaupte auch nicht, in jedem Fall neutral zu sein, wenn eine Entscheidung für die eine oder andere Seite sinnvoller erscheint.
Die hier aufgeworfene Frage – «Warum Krieg?» – gehört zu den grundlegenden für die Gegenwart und Zukunft des Menschen. Es überrascht also nicht, dass zwei der intellektuellen Schwergewichte des 20. Jahrhunderts, der Physiker Albert Einstein und der Psychologe Sigmund Freud, in ihrer Korrespondenz im Jahr 1932 nach einer Antwort suchten. Einstein war Ende 1931 vom Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit des Völkerbunds angeregt worden, sich einen Briefpartner zu einem Thema seiner Wahl zu suchen. Einstein, bereits als Redner für Antikriegsorganisationen aktiv, entschied sich für eine Einladung an Sigmund Freud. In ihrer Korrespondenz sollte die Frage beantwortet werden: «Gibt es eine Möglichkeit, die Menschheit von der Bedrohung des Krieges zu befreien?» Freud, nahm Einstein an, verstehe sich besser als er auf die «Tiefen des menschlichen Wollens und Fühlens».[1] Das Ergebnis war ein kurzes Pamphlet, das unter dem Titel Warum Krieg? auf Deutsch, Französisch, Niederländisch und Englisch veröffentlicht wurde. Einstein war von Freuds Antwort enttäuscht, denn dieser beharrte darauf, Gewaltanwendung sei ein Merkmal des gesamten Tierreichs, die Menschheit eingeschlossen; er könne deshalb keinen wirksamen Weg erkennen, wie der menschliche Kampf- und Zerstörungstrieb zu bremsen sei. Dieser Trieb sei, so Freud, vom «Todestrieb» abzuleiten und als psychologischer Impuls in jedem Lebewesen angelegt.[2]
Freuds morbide Schlussfolgerung ist seither oft untersucht und erörtert worden – als Versuch, die biologischen, psychologischen, kulturellen und ökologischen Mechanismen zu verstehen, die Krieg zu einem unvermeidlichen Bestandteil der menschlichen Existenz machen. Zu den Ergebnissen solcher Versuche zählen mindestens fünf Bücher mit dem Titel «Warum Krieg?» und viele weitere, die sich den Ursachen des Krieges widmen.[3] Trotzdem bleibt die Antwort auch nach fast einem Jahrhundert wissenschaftlicher wie historischer Diskussionen umstritten, bruchstückhaft und frustrierend vage. Tatsächlich könnte man die Frage angesichts der menschlichen Neigung zur organisierten, «koalitionären» Kriegführung, die über weite Strecken der Vergangenheit des Menschen festzustellen ist, auch genau andersherum stellen: «Warum nicht?» Die Menschen haben nun mal bewiesen, dass sie eine kriegerische Spezies sind. Der Psychologe John Bowlby konstatierte 1939 in einer Untersuchung über den Kampf- und Tötungstrieb: «Keine Gruppe von Tieren könnte bei ihren Angriffen aggressiver oder rücksichtsloser sein als erwachsene Mitglieder der menschlichen Rasse.»[4] Natürlich führen die Menschen nicht immer und überall Krieg, sonst wäre der Homo sapiens vielleicht schon ausgestorben. Krieg ist ein Bestandteil der menschlichen Evolution. Er gehört laut Azar Gat zum menschlichen Werkzeugkasten für das Überleben, ist aber nur eines dieser Werkzeuge.[5] Krieg und Frieden werden oft als die einzigen Optionen dargestellt, dabei sind sie stets in einem komplexeren Zusammenhang von Überlebensstrategien zu sehen. Wer den Krieg verstehen will, muss auch erklären können, warum Friedenszeiten zu Ende gehen. Die einzige Konstante ist, dass immer wieder auf kollektive, tödliche Gewalt zwischen Gruppen von Menschen zurückgegriffen wurde – sei es aus Not, Angst, Ehrgeiz oder aufgrund von Vorurteilen, sogar unter Berufung auf das Übernatürliche. So entstand und entsteht Krieg, von den frühesten Anzeichen gewalttätiger Auseinandersetzungen bis zu den Kriegen und Bürgerkriegen des 21. Jahrhunderts.
In diesem Buch soll untersucht werden, wie das Phänomen Krieg seit dem ergebnislosen Austausch zwischen Einstein und Freud in den wichtigsten wissenschaftlichen Disziplinen erklärt wird. Auf dem Prüfstand steht vor allem die Plausibilität dieser Erklärungen. Unter vielen verschiedenen Ansätzen kann man zwei grundlegende unterscheiden: Die wichtigsten Humanwissenschaften – Biologie, Psychologie, Anthropologie und Ökologie – widmen sich mit ihren je eigenen Methoden der Erklärung des Krieges als evolutionäre Anpassung, als kulturell bestimmte Handlungsweise oder als Ergebnis von Umweltzwängen. In dieser deterministischen Sicht werden Menschen zum Objekt natürlicher oder kultureller Kräfte, die erklären können, warum es in der evolutionären Vergangenheit zu Kriegen gekommen ist.[6] Diese Erklärungsweisen für Krieg sind Gegenstand der ersten Hälfte des vorliegenden Buchs, und sie werden – anders als bei den meisten Forschungsbeiträgen in diesem Bereich – auch auf moderne Kriege angewandt, nicht nur auf Kriege aus vergangenen Jahrtausenden.
Der zweite grundlegende Ansatz – in der zweiten Buchhälfte – betrifft die Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaften. Diese verfolgen nichtdeterministische Erklärungsansätze und Theorien, die auf menschlichen Erkenntnissen basieren. Hier gelten Menschen als Schöpfer von Kulturen, die den Krieg stützen und Menschen zu bewussten Akteuren machen, die Ziele verfolgen, die je nach Ort und Zeit eine große Variationsbreite aufweisen können. Solche «proaktiven» Erklärungsmuster lassen sich nach vier Kategorien von Beweggründen für einen Krieg unterteilen: Ressourcen, Glaube, Macht und Sicherheit. Erklärungen, die auf einem solchen Kausalnexus beruhen, passen besser zur Kriegführung in modernen Zeiten, als Fähigkeiten entwickelt worden waren, Krieg auch zwischen Großmächten zu führen. Doch Glaubensauseinandersetzungen, Machtstreben, Sicherheitsbedürfnisse und der Kampf um Ressourcen waren schon in weit früheren...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2024 |
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Übersetzer | Henning Thies |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Biologie • Frieden • Geopolitik • Geschichte • Geschichte der Menschheit • Krieg • Kriegsgeschichte • Menschheitsgeschichte • Nahostkonflikt • Napoleon • Philosophie • Politik • Politische Ökonomie • Religion und Ideologie • Römisches Imperium • Sachbuch Geschichte • Sozialwissenschaft • Staatliche Sicherheit • Ukraine Konflikt • Ukrainekrieg • Ursachen für Krieg • Wirtschaftswissenschaft • Zeithistorie • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-644-02134-1 / 3644021341 |
ISBN-13 | 978-3-644-02134-1 / 9783644021341 |
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