Das letzte Urteil (eBook)

Ein Holocaust-Prozess im 21. Jahrhundert und die späte Suche nach Gerechtigkeit

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-30915-2 (ISBN)

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Das letzte Urteil -  Tobias Buck
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Was der Strafprozess von Bruno Dey uns über Holocaust-Erinnerung und Antisemitismus in Deutschland lehrt
Tobias Buck erzählt die packende Geschichte eines der letzten großen Holocaustverfahren: des Prozesses gegen Bruno Dey, einen ehemaligen SS-Wachmann im KZ Stutthof, der 2020 in Hamburg im Alter von 93 Jahren wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 5000 Fällen schuldig gesprochen wurde. Buck zeichnet nicht nur den Fall Dey nach, sondern untersucht auch dessen politische Bedeutung für Deutschland und den Umgang der Deutschen mit dem Holocaust. Eindrücklich schildert er den Verlauf des Prozesses - und verknüpft ihn dabei auch eng mit seiner eigenen Familiengeschichte. So lädt Buck uns dazu ein, uns ganz persönlich mit den Fragen von Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen, und hinterfragt, wie Erinnerung dazu beitragen kann, den aktuell überall zunehmenden Antisemitismus einzudämmen.

Tobias Buck ist Autor, Journalist und Managing Editor der Financial Times. Er wurde 1975 in Jugenheim, Deutschland, geboren und schloss 2001 sein Jurastudium an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Er arbeitete als Korrespondent der Financial Times in Berlin, Jerusalem und Brüssel. Von 2012 bis 2017 war er als Korrespondent in Madrid tätig. Von dort berichtete er über die Wirtschaftskrise Spaniens und die katalanische Unabhängigkeitsbewegung. Sein Buch über diese Zeit After the Fall: Crisis, Recovery and the Making of a New Spain wurde 2019 in Großbritannien von Weidenfeld & Nicolson veröffentlicht. Bucks journalistische Arbeiten wurden mit einer Vielzahl renommierter Preise ausgezeichnet, unter anderem mit dem British Press Award, dem Foreign Press Association Award und dem Harold Wincott Award. Tobias Buck lebt mit seiner Familie in London.

Kapitel 1

DER MANN HINTER DEM ROTEN AKTENDECKEL


Die Holztür schwingt auf, ein alter Mann im Rollstuhl wird in den Gerichtssaal geschoben. Mit nur einer Hand und ohne zu zittern, hält er einen roten Aktendeckel hoch, hinter dem er sein Gesicht verbirgt. Zum Schutz vor neugierigen Blicken trägt er zusätzlich eine schwarze Sonnenbrille und einen dunklen, breitkrempigen Hut. Aller Augen im Raum sind auf ihn gerichtet, aber er macht keine Anstalten, die Blicke zu erwidern. Der alte Mann sitzt schweigend da, flankiert von seiner Tochter und seinem Anwalt, und versteckt sich vor der Kamera, die vor ihm klickt. Die Sekunden verstreichen, nervöse Erwartung erfüllt den Raum.

Kurz darauf weist die Richterin den Fotografen und den Kameramann an, den Saal zu verlassen, was dem alten Mann gestattet, die rote Mappe herunterzunehmen und sein Gesicht zu zeigen. Ich sitze am anderen Ende des Gerichtssaals und neige mich vor, um einen ersten Blick auf den Angeklagten zu erhaschen. Er wirkt jünger, als seine 93 Jahre vermuten ließen, hellwach, mit dunklen Augen und ordentlich geschnittenem weißem Haar. In der Reihe vor mir beginnt eine alte Frau zu weinen, ihre zierliche Gestalt bebt vom unterdrückten Schluchzen. Der alte Mann auf der Anklagebank ist ihr Ehemann.

Anne Meier-Göring, die Vorsitzende Richterin, wendet sich an den Angeklagten und beginnt das Verfahren mit ein paar einfachen Fragen.

»Können Sie mich hören?«

»Ja«, sagt der alte Mann.

»Sind Sie Bruno Dey?«

»Ja.«[1]

Es ist der 17. Oktober 2019, der Tag des Prozessauftakts im imposanten Hamburger Strafjustizgebäude. Das Verfahren ist in mehr als einer Hinsicht historisch. Bruno Dey wird vorgeworfen, an einem Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, das mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegt: der Ermordung von mindestens 5230 Häftlingen in Stutthof, einem NS-Konzentrationslager im heutigen Polen. Er war erst 17 Jahre alt, als er in das Lager kam. Dort war er Mitglied der SS-Einheit, die das Lager bewachen und sicherstellen musste, dass keiner der verzweifelten Gefangenen fliehen konnte. Dey hat zugegeben, von August 1944 bis April 1945 als Wachmann in Stutthof gedient zu haben, bestreitet aber, an den Morden beteiligt gewesen zu sein, und sei es nur als Befehlsempfänger oder Gehilfe.

Sein Name steht auf der Anklageschrift, aber jeder im Gerichtssaal weiß, dass nicht Dey allein vor Gericht steht. Wie bei allen Prozessen, die sich mit den Verbrechen des NS-Regimes befassen, wirft auch der Hamburger Fall Fragen auf – schwierige, unbequeme Fragen –, die weit über die strafrechtliche Schuld eines Einzelnen hinausreichen. Es sind Fragen, die auf der Welt lasten, seit nach dem Krieg die ersten Bilder aus den Lagern und von den Opfern auftauchten. Für Deutsche wie mich sind sie besonders schmerzlich, aber sie sind längst für alle Nationen von großer Bedeutung: Wie konnte das geschehen? Wen trifft die Schuld? Und wie hätte ich mich verhalten?

In vielerlei Hinsicht war Bruno Dey die richtige Figur, um sich diesen Fragen zu stellen. Er hatte wenig gemein mit den in den Nürnberger Prozessen verurteilten Nazigrößen oder mit den brutalen Mördern, die später vor deutschen Gerichten für ihre Taten in Auschwitz, Sobibor und Treblinka vor Gericht standen. Er unterschied sich auch von den finsteren Schreibtischtätern wie Adolf Eichmann, der in Israel für seine zentrale Rolle bei der Planung und Umsetzung des Holocaust verurteilt und gehängt wurde. Dey spielte nirgendwo eine entscheidende Rolle, auch nicht in Stutthof. Er war ein einfacher Wachmann, der von seinem Wachturm herabschaute und inmitten von Krieg, Tod und unermesslichem Leid nicht ein einziges Mal die Notwendigkeit sah, seine Waffe abzufeuern. Er war das kleinste Rädchen in einer Maschinerie, deren mörderische Absichten er nach eigenen Angaben nie so ganz verstand. Diese Behauptung wird im Laufe des Prozesses einer intensiven Prüfung unterzogen werden, aber es besteht kein Zweifel daran, dass der Angeklagte einen der niedrigsten Ränge in der Lagerhierarchie einnahm.

Als ich den Eröffnungsworten lauschte, war ich wie gebannt. Mir wurde bewusst, dass es genau diese historische Bedeutungslosigkeit Deys war, die mich interessierte und verunsicherte. Wie es bei den meisten normalen Menschen der Fall ist, konnte ich mir mich selbst nicht als Mörder, Kommandanten eines Konzentrationslagers oder hohen Offizier in einer brutalen Organisation wie der SS vorstellen. Selbst in einer Diktatur und im Krieg hätte mich mein moralischer Kompass doch sicherlich nicht so sehr im Stich gelassen. Wenn wir die Schwarz-Weiß-Bilder der Angeklagten in Nürnberg sehen, empfinden wir Abscheu, gleichzeitig aber auch den Trost einer Distanz. Wir können selbstsicher davon ausgehen, dass wir nie so gehandelt hätten. Als ich jedoch an diesem Oktobermorgen im Gerichtssaal in Hamburg Deys teilnahmslos wirkende Gestalt vor mir sah, war ich mir nicht sicher, ob ich in seinem Fall das Gleiche behaupten könnte. Hätte ich als 17-Jähriger in Nazideutschland anders gehandelt? Hätte ich die moralische Größe und Zivilcourage gehabt, von diesem Wachturm hinunterzuklettern, mein Gewehr abzugeben und zu sagen »Schluss damit!«? Und wenn ich mir nicht sicher sein konnte, konnte es überhaupt irgendjemand in diesem Gerichtssaal? Hätten die schwarz gekleideten Anwälte, die die Überlebenden von Stutthof vertraten, Nein gesagt? Hätte Anne Meier-Göring, die gelassene, selbstbewusste Vorsitzende Richterin, Nein gesagt? Und wenn sie sich nicht sicher sein konnte, konnte das Gericht ihn trotzdem verurteilen?

Ich war nach Hamburg gekommen, um über den Prozessauftakt einen kleinen Artikel für meine Zeitung zu schreiben, doch nun beschloss ich, die Verhandlungen so oft wie möglich zu besuchen. Ich wollte sehen, wie sich dieses Drama entwickelte. Ich wollte sehen, wie das Gericht mit den moralischen und juristischen Dilemmata rang, die der Fall aufwarf, aber auch, wie Dey selbst seine Rolle verstand und wie viel Verantwortung er sich zuschrieb. Sicherlich spürte er, dass dieser Prozess für ihn, wie für alle anderen im Gerichtssaal, eine letzte Gelegenheit war: eine letzte Gelegenheit für Überlebende, ihre Geschichte vor Gericht zu erzählen; eine letzte Gelegenheit für einen alten Mann, sich vor Gericht seiner Schuld und seinem Gewissen zu stellen; und eine letzte Gelegenheit für Deutschland und seine Justiz, zu zeigen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, egal, wie viel Zeit verstrichen ist.

Auch für mich war dies so etwas wie eine letzte Gelegenheit. Der Holocaust hatte mich seit meinen frühen in Deutschland verbrachten Teenagerjahren in seinen Bann gezogen. Damals entwickelte ich ein plötzliches und tiefes Interesse für die Nazizeit, insbesondere für die Ermordung der europäischen Juden. Im Alter von 14 Jahren nahm ich an einer Fortbildungsveranstaltung in meiner Heimatstadt teil, um mich mit dem Antisemitismus und den Ursachen der Shoah zu beschäftigen. 1990, als der Eiserne Vorhang gerade gefallen war, fuhr ich nach Südpolen und besuchte Auschwitz im Rahmen einer von Überlebenden des Lagers organisierten Reise, die einen unauslöschlichen Eindruck bei mir hinterließ. Auch in meiner Heimatstadt Darmstadt machte ich Überlebende des Holocaust ausfindig und interviewte sie. Für meine Schülerzeitung schrieb ich einen bitterernsten Artikel über meine Erfahrungen in Auschwitz und reichte schließlich einen langen handgeschriebenen Beitrag bei einem Aufsatzwettbewerb des israelischen Bildungsministeriums ein. Ich erinnere mich, dass ich einen überraschend hohen Geldbetrag gewann, zusammen mit einer schweren Bronzemedaille mit hebräischen Buchstaben, die die Silhouette von Jerusalem zeigte. Die Medaille steht noch immer in einem Regal in meinem früheren Zimmer in Darmstadt, ebenso wie Dutzende ausgeblichener Exemplare des monatlichen Rundbriefs des Freundeskreises der Auschwitzer, der ich etwa zur gleichen Zeit beitrat. Aber wie die meisten jugendlichen Obsessionen verblasste auch diese in den folgenden Jahren. Mit Mitte 20 verließ ich Deutschland, um Journalist zu werden, und kehrte viele Jahre später als Auslandskorrespondent in meine Heimat zurück.

In Berlin schrieb ich über Politik und Wirtschaft, Verteidigungspolitik und Umwelt, Kunst, Gesellschaft und Fußball – aber auch immer wieder über die deutsche Geschichte und wie sie in die Gegenwart hineinwirkt. Wieder widmete ich mich dem Holocaust, Überlebenden, Tätern und einer Vergangenheit, die nie zur Ruhe gekommen ist. Ich war von der Neugier aller Journalisten auf der Suche nach einer guten Geschichte getrieben, aber auch von einem Gefühl der Dringlichkeit, denn ich wusste, dass mit jedem Monat, der verging, weitere Stimmen von Opfern und Schuldigen verstummten. Meine deutschen Großeltern waren vor vielen Jahren gestorben, und bis dahin war es mir nie in den Sinn gekommen, dass ich herausfinden könnte – oder sollte –, was sie wussten und was sie während des Krieges gemacht hatten. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr fiel mir dieses Versäumnis auf. Ich kannte viele Geschichten über das Leid am Ende des Krieges und in der Zeit danach, etwa wie mein Großvater in der Sowjetunion in Kriegsgefangenschaft gewesen und meine Großmutter im tiefsten Winter verzweifelt geflohen war, als die Rote Armee sich ihrer Heimatstadt näherte. Aber über die Zeit vor dem Zusammenbruch – darüber, was sie während der zwölf schrecklichen Jahre der Naziherrschaft getan oder nicht getan hatten – hatte ich bestenfalls vage Informationen.

Briten und...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Übersetzer Gisela Fichtl
Sprache deutsch
Original-Titel Final Verdict
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte 2024 • Antisemitismus • Antisemitismus in Deutschland • Aufarbeitung des Nationalsozialismus • Ben Ferencz • Benjamin Ferencz • bruno dey • deutsche Justizgeschichte • eBooks • Eichmann in Jerusalem • Entnazifizierung • Erinnerungskultur • Fremd • Gerechtigkeit • Geschichte • Hannah Ahrendt • Historikerstreit • Holocaust • Konzentrationslager • Kriegsverbrechen • KZ Stutthof • michel friedmann • Nationalsozialismus • Nazideutschland • Neuerscheinung • NS-Verbrechen • NS-Völkermord • Nürnberger Prozesse • Sag immer deine Wahrheit • Weltgeschichte
ISBN-10 3-641-30915-8 / 3641309158
ISBN-13 978-3-641-30915-2 / 9783641309152
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