Enneagramm - Der Schlüssel zum Erwachen (eBook)

EINFÜHRUNG

Im Westen wurde das Enneagramm ursprünglich durch G. I. Gurdjieff bekannt gemacht, der meinte, er habe seine Einsichten während einer Reise in den Hindukusch von der Sarmoun-Bruderschaft erhalten – einer geheimnisvollen mystischen Schule, deren Existenz er auf 2500 v. Chr. datierte. Auf ihn folgte Oscar Ichazo, der angab, seine Quelle für die Enneatypen (das Enneagramm der Typen) seien die Sarmoun- und/oder Sufiquellen. Ichazo entwickelte dieses anfängliche Wissen mithilfe visionärer Einsichten weiter und konnte so unterschiedliche Ebenen des Enneagramms beschreiben, die er auf verschiedene Bereiche menschlicher Erfahrung anwendete. Dieser ungeheure Wissensschatz wurde für die spirituelle Lehre der von ihm gegründeten Arica-Schule wichtig und stellte ihr zentrales, organisierendes Element dar.

Dr. Claudio Naranjo empfing sein Wissen über das Enneagramm, während er bei Ichazo in Bolivien lernte, und ergänzte es durch seine umfangreichen psychologischen Kenntnisse, insbesondere aus der Merkmals- oder Eigenschaftstheorie. Von ihm ging es auf einige seiner Schüler und andere Personen über. Mittlerweile ist das Enneagrammfeld auf zahllose menschliche Aktivitäten und Interessen angewendet worden und es gibt viel Literatur dazu. Das ergibt Sinn, denn die ursprüngliche Lehre wurde als Landkarte der Realität vorgestellt, die jeden Lebens- und Studienbereich erhellen kann. Die Enneagramm-Gemeinde ist zu einem weltweiten Netzwerk von Autoren, Lehrern und Suchenden geworden, die es als nützliches Werkzeug für ihr Leben, ihre Arbeit und ihre spirituelle Reifung empfinden.

Ich war Mitglied von Naranjos erster SAT-Gruppe (aus Seekers after Truth abgeleitet) und habe viele der Enneagramm-Ebenen von ihm gelernt. Im Wesentlichen ist das Enneagramm ein dynamischer Fluss, der neun Punkte um einen Kreis herum durch einen nicht-linearen Pfad verbindet. Gurdjieff war einer der Ersten, der diesen Fluss für diverse Erfahrungsbereiche in der Welt des Menschen (und der Natur) anwandte. Ichazo nutzte es vorwiegend als psychologisches Werkzeug, um die Ich-Persönlichkeit zu untersuchen, die unsere essenzielle beziehungsweise spirituelle Natur verborgen und unzugänglich hält. Basierend auf Naranjos Arbeit und der anderer Ichazo-Anhänger ist das Enneagramm fast ausschließlich durch seine Anwendung auf psychologische Muster und die spirituelle Entwicklung des Menschen bekannt geworden. In diesem Rahmen sind die neun Punkte stärker in den Fokus gerückt, während der Fluss zwischen ihnen weniger gut verstanden und häufig vergessen wird.

Naranjo war auch Schüler von Karen Horney, von der er Selbstanalyse lernte, die er als Methode an seine Schüler weitergab. Aus diesem Grund waren wir mehrere Jahre lang in dieses Selbststudium vertieft. Für jeden in der Gruppe war es eine intensive Zeit, denn wir lernten etwas über die Funktionsweise unserer psychischen Verfassung. Doch auch wenn wir uns viel um die psychische Verarbeitung von Erlebtem kümmerten, war unsere Orientierung immer spirituell und wurde durch kontinuierliche Meditationspraxis gestützt.

Wir beschäftigten uns in erster Linie mit dem Enneagramm der Fixierungen und nahmen auch Bezug auf die Enneagramme der Leidenschaften und der Tugenden, der heiligen Ideen und der Triebe. Die Fixierungen beziehen sich auf neun Persönlichkeitstypen, bei denen die Sichtweisen und Eigenschaften jedes Einzelnen zu Fixierungen in der durchschnittlichen menschlichen Psyche geworden sind. Die Leidenschaften sind die neun Möglichkeiten, wie die emotionale Herzenergie von Menschen feststecken kann; die Tugenden sind die neun spirituellen Haltungen, die den Leidenschaften entgegenwirken. Die heiligen Ideen sind neun erleuchtete Sichtweisen der Realität, die den Persönlichkeitsfixierungen zugrunde liegen, auch wenn sie durch diese verzerrt und verdeckt werden. Und die Triebe sind neun Möglichkeiten, wie sich die drei grundlegenden Triebe (Selbsterhaltungstrieb, Geschlechtstrieb und Sozialtrieb) in den neun Fixierungen niederschlagen.

Gegen Ende jener Zeit im Jahre 1973 wurde uns eine Praxis namens „Drei-Tage-Gebet“ gegeben, die man allein praktizierte. Zu einer bestimmten Tageszeit betete ich jeden Tag intensiv stundenlang. Am dritten Tag machte ich, nachdem die Gebete die Vorspiegelungen des Ichs aufgedeckt hatten, eine tiefgreifende und vollständige Erfahrung von Ich-Auflösung beziehungsweise Ego-Tod. Doch es war nicht nur eine Ich-Todeserfahrung oder ein Erwachen in dem Sinne, wie der Begriff heutzutage verwendet wird. Es war eine bestimmte Art von Ego-Tod, die ich als Sarmoun-Variante des Ego-Todes bezeichne, um sie von anderen Arten zu unterscheiden, die sich zu späteren Zeitpunkten ereigneten. Auch wenn ich die Vorspiegelungen des Egos klar erkannte, fühlte ich mich ziemlich machtlos, mich von ihnen zu befreien, denn sie vollzogen sich unglaublich schnell hintereinander, wie ein unaufhaltsamer Strom von Eindrücken, Gedanken und Überzeugungen. An diesem Punkt – als ich sah, dass es nichts gab, was ich tun konnte, um mich zu befreien, da ich zu tief im Ego versunken war – ereignete sich ein Abstieg spiritueller Gnade und Energie. Ich fühlte, wie eine flüssige Substanz reinen Bewusstseins auf mich niederregnete, wie ich in sie eintauchte und von ihr umhüllt wurde. Sie fühlte sich schwer und zähflüssig an und schmeckte süß – wie ein geschmacksintensiver goldener Honig spiritueller Fülle – transparent, himmlisch und ekstatisch.

Erst später, als sich gegen Ende der siebziger Jahre und danach der Diamond Approach entwickelte, erkannte ich, dass die süße Fülle, die mein Bewusstsein durchdrungen hatte, eine Art Präsenz war. Es war die Präsenz des Bewusstseins, die Gegenwart der spirituellen Natur in der Eigenschaft des Honigs, einer Eigenschaft, die die Fülle und den Reichtum der wahren Natur auf die deutlichste und konkreteste Weise offenbart.

Doch diese Fülle war nicht nur eine Erfahrung göttlichen Honigs. Sie war eine Kraft, die meinen gesamten Körper, meinen Geist und mein Bewusstsein so vollkommen durchdrang und beeinflusste, dass nichts davon übrigblieb. Während ich von dieser wunderbaren, ekstatischen Liebe aufs Köstlichste überflutet wurde, konnte ich die Laute von Bienen überall um mich herum hören. Ich schmolz in den Honig dahin, inmitten des sanften und entspannenden Summens von scheinbar Tausenden von Bienen. Doch natürlich befanden sich keine Bienen im Raum. Vielmehr wird dieser innere Klang mit dem Aspekt Honig in Verbindung gebracht. Ich bezeichne diesen Ego-Tod als Sarmoun-Typ, da eine Bedeutung von Sarmoun Darq „Gemeinschaft der Bienen“ ist und ihre Arbeit darin besteht, spirituellen Nektar und Weisheit zu sammeln und sie so lange zu bewahren, bis die Menschheit sie braucht. Die Sarmoun-Mitglieder sind wie Bienen, die den Honig unserer kostbaren Natur sammeln und ihn für Zeiten aufbewahren, in denen spirituelle Lehren einer Erneuerung und einer Infusion spiritueller Gnade bedürfen.

Ich nenne dieses Phänomen Ego-Tod, da es sich ganz wörtlich um ein Ende des Egos oder Ichs handelte. Der Honig überflutete und durchdrang mein Bewusstsein so sehr, dass er es vollkommen zum Schmelzen brachte. Doch er tat dies in Liebe und Ekstase. Er ließ alles schmelzen, bis hin zur vollständigen Auslöschung der bewussten Erfahrung. Ich existierte nicht mehr, es gab kein Ich mehr, ja, nicht einmal das Wissen von einem „Nicht-Ich“. Es war das vollständige Aufhören des individuellen Bewusstseins, bis zu dem Punkt, wo überhaupt keine Erfahrung mehr da war. Die liebevolle Präsenz war so stark und dominant, dass sich weder Angst noch Beklemmung einstellte, weder Widerstand noch Zögern. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem göttlichen Koma verharrte, doch als ich aufwachte, war alles kristallklar, und da war die Erkenntnis, dass Erleuchtung passiert war. Sie hielt nicht an, denn es gab viele Dinge, die noch erarbeitet werden mussten. Das passierte in den folgenden Jahren durch die Entwicklung des Diamond Approach, der viele weitere Ego-Tode brachte und viele weitere Erwachenserfahrungen.

Der springende Punkt hier ist nicht, dass ich eine Ego-Tod-Erfahrung machte beziehungsweise das, was man als völliges Ende jeglicher Wahrnehmung oder Empfindung bezeichnet. Was sich als wichtig und dauerhaft herausstellte, war, dass es ausdrücklich ein Tod in Honig inmitten des Summens von Bienen war. Es war ein Sarmoun-Tod, der eine tiefe Verbindung mit den Sarmoun und ihrem Strom von Segnungen, ihrem Lehrstil und ihrer spirituellen Mission anzeigte. Dies wurde zu einer grundlegenden Strömung in der Entwicklung des Diamond Approach und ebnete den Weg für eine dauerhafte Verbindung mit dem Sarmoun-Bewusstsein und dessen Auftrag. Meine Erkenntnisse über das Enneagramm sind lediglich ein Teil dieser Verbindung.

Ich bin der Überzeugung, dass es diese Verbindung war, die es mir neben vielfältigen Offenbarungen im Diamond Approach ermöglicht hat, die Inspiration für das Verständnis der heiligen Ideen zu empfangen. Das geschah Anfang der neunziger Jahre, und dieses Verständnis wurde zu einem Teil des Lehrkanons des Diamond Approach. Ich habe über jenes Wissen um die heiligen Ideen in meinem Werk Facetten der Einheit geschrieben, das eine erfahrungsorientierte Einschätzung der heiligen Ideen als Facetten einer reifen und vollständigen nicht-dualen Verwirklichung bietet. Es erklärt auch, was zum Verlust des Zugangs zu diesem Verständnis führt und was aus dem Verlust folgt: die Entstehung des Kerns jeder Fixierung.

Die Fixierung jedes Typs, so fand ich heraus, setzt sich...