Erfahrungen für die Zukunft (eBook)
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3226-0 (ISBN)
Ludwig Wilhelm Erhard (1897 bis 1977) war von 1957 bis 1963 Vizekanzler und von 1963 bis 1966 der zweite Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er gilt als Vater des 'deutschen Wirtschaftswunders' und der Erfinder des als Soziale Marktwirtschaft bezeichneten Wirtschaftssystems der Bundesrepublik.
Ulrich Schlie, geboren 1965 in Nürnberg, ist Politologe, unterrichtet als Historiker und hat seit 2020 die Henry-Kissinger-Professur für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn inne. Zuvor gehörte er 27 Jahre dem deutschen Auswärtigen Dienst an.
Liebe Freunde!
Erkenntnisse und Erfahrungen meiner Kanzlerzeit: Ich lege sie Ihnen vor, weil ich die Lehren aus Geschehenem und Gewolltem, Erreichtem und Verhindertem weitergeben will. Die Distanz von bald zehn Jahren, aus der ich schreibe, verschärft die Konturen des objektiv Wichtigen. Was mich im Herbst 1966, in den Wochen vor und nach meinem Rücktritt als Bundeskanzler, subjektiv bewegt hat, ist dagegen inzwischen eher verblaßt.
Keine Rechtfertigung also und keine Enthüllung, auch nicht die des eigenen Denkmals.
Das Gerüst meiner Darlegungen bildet der Ereignisablauf vom 16. Oktober 1963 bis zum 30. November 1966. Doch um bestimmte Verwicklungen zu entschlüsseln, skizziere ich - zumindest mit einigen Strichen - jeweils ihre Ursachen und ihren historischen Weg. Um die teilweise dramatische Aktualität des Berichteten zu verdeutlichen, führe ich auch Daten, Zahlen und Fakten aus der allerjüngsten Vergangenheit an.
Niemand kann aus seiner persönlichen Gleichung heraus springen. Diese Aufzeichnung, die als Appell an Sie gemeint ist, enträt der Emotion35, aber nicht des Engagements. Sie ist aus dem Bemühen um chronistische Nüchternheit entstanden, aber sie soll einen Beitrag leisten zu der großen geistig-politischen Auseinandersetzung unserer Zeit. Zu der Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Sozialismus.36
Der Kanzlerwechsel
Die Welt war keineswegs in Ordnung, als ich am 18. Oktober 1963, zwei Tage nach meiner Wahl zum Bundeskanzler, im Deutschen Bundestag meine Regierungserklärung abgab. Aber die Kräfte in der Welt, die für eine freiheitlich demokratische Ordnung eintraten, waren noch nicht in den lebensgefährlichen Strudel lustvoller Selbsterniedrigung geraten. Der Sozialismus in all seinen Erscheinungsformen und mit all seinen internationalen Querverbindungen glaubte selber noch nicht an die Sprüche von der geschichtlichen Erfolgsautomatik seiner Ideologie. Auf die damalige Situation in der Bundesrepublik Deutschland verkürzt, bedeutete dies jedenfalls noch weit gehende Übereinstimmung der drei Bundestags-Parteien in den Schicksalsfragen der Nation. In welchem Maße sich dabei die SPD lediglich in politischer Mimikri übte, in wahltaktischer Anpassung an eine kraftvolle Mehrheitshaltung, das sollte allerdings schon bald erkennbar werden. Eine unscheinbare statistische Angabe kennzeichnet die intellektuelle Manövrierfähigkeit demokratischer Sozialisten ebenso wie die undoktrinäre Vernunft sozialer Demokraten: Meine Regierungserklärung wurde von 112 Beifallsbekundungen unterbrochen. 45 davon gaben allein oder gemeinsam mit den Regierungsparteien Mitglieder der SPD-Fraktion ab.
Unter ihnen Herbert Wehner ebenso wie Fritz Erler.
Das befreundete, der Bundesrepublik Deutschland wohlgesonnene Ausland beobachtete den Kanzlerwechsel mit einer gewissen Spannung. Galt er doch vielen als erste Bewährungsprobe der jungen deutschen Demokratie. So laut auch über die Unterschiede, ja Gegensätzlichkeiten im Persönlichkeitsbild von Konrad Adenauer und mir nachgedacht wurde, in dem Übergang lag nichts Abruptes. Schließlich war ich als Bundeswirtschaftsminister und später auch als Vizekanzler Adenauers engster Mitarbeiter. Schließlich war die "Soziale Marktwirtschaft" wesentlicher Bestandteil, wenn nicht sogar Voraussetzung der Errungenschaften der „Ära Adenauer·". Schließlich war ich in der Nachfolge Adenauers als Bundeskanzler von einer breiten Mehrheit der Unionsparteien und der FDP, deren Bundestagsfraktionen, aber auch der öffentlichen Meinung getragen. Und schließlich hatte meine politische Nachkriegskarriere - genau wie die Adenauers - bereits 1945 begonnen. Nur: Im Gegensatz zu meinem Vorgänger konnte ich auf keine politische Vorkriegskarriere zurückblicken. Ein Umstand, dessen Bedeutung ich in meinen Kanzlerjahren noch zu bewerten lernte.
Der Übergang vom ersten deutschen Bundeskanzler zum zweiten verlief - abgesehen von einer eindrucksvollen weltweiten Publizität - geräuschlos und nach einer fast selbstverständlich-plausiblen Logik. Dem oberflächlichen Beobachter fielen vielleicht einige Stiländerungen auf, einige neue semantische Nuancen. Aber die erwartete, aus den unterschiedlichen Erfahrungsbereichen "hochgerechnete" Gewichtsverlagerung von der Außenpolitik auf die Wirtschaftspolitik unterblieb. Im Gegenteil. Während Konrad Adenauer in seiner letzten Regierungserklärung am 29. November 1961 deutlich innenpolitische Schwerpunkte gesetzt hatte, stellte ich zwei Jahre später die Deutschland- und Außenpolitik erkennbar in den Vordergrund.37 Daß ich, ganz im außenpolitischen Koordinatensystem Adenauers, dabei die unvermindert aggressive Haltung der Sowjetunion anprangerte, die Deutschlandfrage als Kern der Ost-West-Beziehungen heraushob, unsere NATO Mitgliedschaft als Fundament der Sicherheit bezeichnete, die enge Zusammenarbeit mit den USA unmittelbar neben den angestrebten Ausbau der Freundschaft mit Frankreich stellte und unsere guten Beziehungen zu den befreundeten Völkern des Nahen und Fernen Ostens, Afrikas und Südamerikas betonte - das war jedoch nicht nur Reverenz vor den Erfolgen kluger und beharrlicher diplomatischer Aufbauarbeit meines Vorgängers. Es spiegelte die Grundzüge unserer bis heute gültigen außenpolitischen Position, in der das wohlverstandene deutsche Nationalinteresse seinen in der Vergangenheit realistischen, für die Zukunft aussichtsreichen Platz gefunden hat. An der Richtigkeit dieser Position haben weder die gefährlich unsolide "Ostpolitik" der SPD/FDP-Bundesregierungen etwas geändert noch das von den Sowjets und ihren kommunistischen Verbündeten schamlos und zielbewußt ausgebeutete weltweite Bedürfnis nach Entspannung.
Doch selbst meine Anregungen und Impulse für weitere Erleichterungen der Situation Berlins, für eine den beiderseitigen Interessen nützliche Verbesserung unseres Verhältnisses zum Ostblock und für eine Intensivierung des europäischen Einigungsprozesses, bauten auf in Gang befindlichen Entwicklungen auf.
Niemand zeigte sich auch überrascht davon, daß ich in einigen Fragen mehr Aufgeschlossenheit zu erkennen gab und praktisch-wirtschaftliche Möglichkeiten zuungunsten formal-juristischer Gegebenheiten stärker betonte. So habe ich den osteuropäischen Staaten in meiner Regierungserklärung beispielsweise die Bereitschaft der Bundesregierung signalisiert, den Wirtschaftsaustausch mit ihnen zu verstärken. Dabei ging ich von einer sehr präzisen Kenntnis der immensen Bedürfnisse dieser Länder aus. Und ich dachte keinen Augenblick an· einseitige Vorleistungen, weil die Russen - hierbei scheinen sie die marxistisch/leninistische Ideologie lediglich als ein brauchbares Vehikel zu benützen - bisher jede erfüllte Forderung mit einer neuen Forderung quittiert haben. Meine außenpolitischen Vorstellungen, meine vor dem Parlament und damit vor der Weltöffentlichkeit bekannt gegebenen Richtlinien für die Wahrnehmung der deutschen Interessen nach außen, ermangelten mithin weder der Prinzipientreue noch der Flexibilität. Wenn es trotzdem Kreise innerhalb der CDU/CSU gab, die eine zu große Konzessionsbereitschaft aus meiner Regierungserklärung herauszuhören glaubten, so waren sie weitgehend identisch mit jenen, die schon bald darauf das außenpolitische Bundesressort dem SPD-Parteivorsitzenden antrugen.
Die Regierungskunst
Ein krasser Unterschied zwischen Konrad Adenauer und mir wurde allerdings sehr bald nach meiner Wahl zum Bundeskanzler sichtbar: Die von Veranlagung, Bildungsweg und allgemeiner Lebenserfahrung geprägte, geradezu gegensätzliche Auffassung von der Kunst zu regieren oder zeitgemäßer ausgedrückt, von den Methoden, Mehrheiten zu schaffen und mit ihrer Hilfe eine bestimmte Politik durchzusetzen. Konrad Adenauer, patriarchalisch veranlagt, juristisch gebildet und politisch in langen Jahren als Oberbürgermeister Kölns und Präsident des Preußischen Staatsrats erfahren, handhabte das zur Verfügung stehende politische Instrumentarium virtuos. Er dachte in HausmachtBegriffen, spielte widerstreitende Interessenten-Gruppierungen geschickt gegeneinander aus, bediente sich fast aller denkbaren Mittel der Personalpolitik und war - obwohl auf den Ruf des autoritären Mannes der einsamen Beschlüsse bedacht - stets bis an die Grenze des Vertretbaren, manchmal sogar ein Stückchen darüber hinaus zu Kompromissen bereit. Dabei zögerte er nie, die Vorrechte seines hohen Alters in die Waagschale zu werfen.
Und mit rheinischem Charme überspielte er negative Reaktionen auf den häufigen Gebrauch von List und die gelegentlich starke Stilisierung der wahren Sachverhalte.
Konrad Adenauer, in vielen Fragen durch den großen Erfolg seiner Leistung gerechtfertigt, bekräftigte damit aber zugleich eine Vorstellung vom Politiker, dessen Wertmaßstäbe etwa zwischen Pragmatismus und Machiavellismus zu orten sind. Ein Politiker-Bild, das nach meiner Überzeugung das Spektrum demokratischer Verhaltensmöglichkeiten nur noch bedingt abdeckte. Damit Sie, meine verehrten Freunde, mich nicht mißverstehen: Die christlich-abendländischen...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
Schlagworte | Autobiographie • CDU • Kapitalismus • Memoiren • Soziale Marktwirtschaft • Wettbewerb • Wirtschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-8437-3226-4 / 3843732264 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3226-0 / 9783843732260 |
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Größe: 4,2 MB
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