Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen -  Franz-Josef Wagner,  Cornelia Schäfer

Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen (eBook)

Recovery durch Selbsthilfe
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
144 Seiten
Psychiatrie-Verlag
978-3-96605-270-2 (ISBN)
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Selbsthilfe als Selbstfindung »Es tat mir wohl, dass meine Psychiatrie-Erfahrung jetzt nicht mehr nur Makel und ohnmächtig ertragenes Schicksal war, sondern auch Quelle von Kompetenz und politischer Teilhabe. Ich war zwar immer noch ein kleines Licht, aber immerhin, ich leuchtete.« Gemeinsam mit der Journalistin Cornelia Schäfer zeichnet der Selbsthilfeaktivist Franz-Josef Wagner nach, was ihn auf seinem Genesungsweg beflügelte und wie er in der Selbsthilfe der Betroffenen eine neue Lebensaufgabe fand. Neben der eindrucksvollen Erzählung ergänzen Stimmen von Weggefährt*innen den Blick auf einen ganz und gar ungewöhnlichen Lebensweg. Die Geschichte der Selbsthilfe in Deutschland ist auch eine Geschichte von prägenden Persönlichkeiten und Vorbildern. Franz-Josef Wagner, langjähriger Vorsitzender des Landesverbandes der Psychiatrie Erfahrenen Rheinland-Pfalz und Mitbegründer der bundesweiten Selbsthilfeorganisation NetzG, gehört dazu. Seine Geschichte als Psychiatrie-Patient beginnt mit dem Verlust seines Jobs, dem Absturz in eine Manie. Lange gilt er als chronisch psychisch krank. Er schafft es, wieder auf die Beine zu kommen, fällt erneut und steht wieder auf. So geht das über Jahre. Aber der engagierte Selbsthilfe-Aktivist gewinnt kontinuierlich an Lebensqualität, sagt am Ende gar: Ich lebe jetzt 120%.

Franz-Josef Wagner ist Ingenieur, Kaufmann, Lebenskünstler und Aktivist für die Selbsthilfe seelische Gesundheit. Er ist Initiator von NetzG und hat sich für die Gründung des Deutschen Zentrums für psychische Gesundheit engagiert.

Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen


Franz-Josef Wagner

Woher, wohin


Vielleicht habe ich einen Hang zum Höheren. In meinen Manien war ich manchmal überzeugt davon, aus einem Adelsgeschlecht zu stammen. Oder ich glaubte, kurz vor der Ernennung zum UN-Generalsekretär zu stehen. Tatsächlich ging es auch in meinem wirklichen Leben eine Zeit lang steil bergauf. Ich war gerade im Begriff, beruflich so richtig Karriere zu machen, als ich in die Krankheit abstürzte.

Ursprünglich komme ich aus einfachen Verhältnissen. Meine Eltern waren Bauern. Sie hatten im Hochwalddorf Mandern einen kleinen Hof mit Vieh- und Landwirtschaft. Mein Vater war außerdem eine Zeit lang Gemeindediener. »Dorfschütz« hießen diese in alten Zeiten, sie zogen durch den Ort, läuteten eine Glocke und verkündeten Neuigkeiten.

Meine Familie lebte schon lange dort. Unser Haus, von dessen Außenwänden der Putz bröckelte, war alt. Wir hatten nichts, mit dem man hätte angeben können. Allerdings gehörte meinen Eltern ein Anteil am Gehöferschaftswald, und mein Vater war der Vorsitzende der Gehöferschaft, in dem die Nachfahren derjenigen zusammengeschlossen waren, die sich einstmals an der Rodung des Waldes beteiligt hatten.

Wir waren fünf Kinder. Ich bin der Älteste, 1955 geboren, und war nach allgemeiner Einschätzung der Liebling meiner Mutter. Vor mir hatte sie ein Kind tot zur Welt gebracht. Eine Schwester folgte 1957, ein Bruder 1960, meine jüngste Schwester wurde 1964 geboren und mein »kleiner« Bruder 1974 – Johannes war ein Nachzügler. Meine Geschwister und ich, meine Cousinen und Cousins sowie andere Kinder aus unserem Dorf spielten gern im Freien miteinander. Wir kickten auf der Wiese, spielten Verstecken in den offenen Schuppen und Scheunen des Dorfes oder Räuber und Gendarm im nahe gelegenen Wald Wiebelschied. Da auf einem Bauernhof immer viel zu tun ist, mussten wir aber auch schon früh mit anpacken. Bereits als Vierjähriger bin ich mit meinem Vater auf dem Traktor mitgefahren und habe ihm geholfen, Kartoffeln von Hand und mit der Maschine auszugraben. Manchmal rief er laut meinen Namen durchs Dorf, und dann musste ich mein Spiel abbrechen und mit ihm in den Stall oder aufs Feld. Ich erinnere mich an einen Tag, da war ich schon etwas älter und spielte in der C-Jugend des Dorfvereins Fußball. Mein Vater hatte mich zur Feldarbeit verpflichtet, obwohl ein wichtiges Spiel anstand. Ungeduldig wartete ich darauf, in meine Freizeit entlassen zu werden. Als mein Vater mich endlich ziehen ließ, flitzte ich zum Fußballplatz, wo das Spiel schon begonnen hatte, und schoss noch drei Tore.

Ich denke gern an meine Kindheit in diesem Dorf zurück, wo jeder jeden kannte und viele Familien miteinander verwandt waren. Da spürte man Zusammenhalt. Wenn eine Kuh kalbte oder ein Schwein geschlachtet wurde, half man einander.

Was mir auch gefiel, waren die Rituale der katholischen Kirche. Ich war Messdiener und mochte es, wenn wir am Palmsonntag den Einzug von Jesus in Jerusalem nachspielten oder uns, begleitet vom Kirchenchor, in der feierlichen Fronleichnamsprozession durch das Dorf bewegten. Wir wurden dafür besonders schön angezogen und streuten im Wald und auf den Wiesen gepflückte Blumen auf den Weg.

Trotzdem können diese Jahre nicht vollkommen unbeschwert gewesen sein. Ich war noch klein, vielleicht zwei, drei, höchstens vier Jahre alt, als ich an Kinderlähmung erkrankte, die in den 1950er-Jahren in Deutschland epidemisch auftrat. Über Nacht konnte ich damals meine Arme und Beine nicht mehr richtig bewegen. Meine Eltern erschraken, als ich mich plötzlich auf allen vieren eine Treppe hinaufschleppte. Sofort brachten sie mich mit dem Motorrad ins 35 km entfernte Trier, wo ich mehrere Monate im Krankenhaus der Borromäerinnen bleiben musste.

Die Kinderlähmung ist eine Virusinfektion. Sie geht mit Fieber, Schmerzen und Krämpfen einher, kann bleibende Lähmungen hervorrufen und sogar zum Tode führen. Manche Kinder mussten damals Tage oder sogar Wochen in der sogenannten Eisernen Lunge zubringen, um sie vor dem Ersticken zu bewahren. Vielleicht zu meinem Glück erinnere ich mich nicht mehr daran, wie es mir ging und welche Behandlung ich bekam. Ich weiß nur noch, dass ich auf der Isolierstation auf meinem Bett saß und von meinen Eltern, die zu Besuch gekommen waren, durch eine Glasscheibe getrennt war. Auch daran, dass ich Durst hatte, erinnere ich mich, und dass ich in meiner Not von dem abgestandenen Weihwasser trank, das regelmäßig zu unserer Segnung versprengt wurde.

Meine Eltern erzählten mir später, dass ich immer geschrien habe, wenn sie mir von der anderen Seite der Glasscheibe aus zuwinkten. Auch wenn man damals über die Bedeutung einer sicheren frühkindlichen Bindung noch wenig wusste, muss das für sie quälend gewesen sein. Wie ich selbst diese monatelange Trennung von meinen Eltern verkraftet habe, habe ich vergessen. Auch wie ich dann zu Hause wieder laufen lernte, kann ich heute nicht mehr sagen. Die Tochter einer Cousine meines Vaters soll mich damals zeitweise betreut haben.

Ebenfalls aus dieser Zeit stammt wahrscheinlich die Erinnerung, dass ich in meinem Bettchen liege, während meine Eltern auf dem Feld sind. Ich fühle mich allein und schaffe es irgendwie, aus dem Bett und über den Hühnerstall auf den Hof zu kommen, wo mich die Nachbarn in ihre Obhut nahmen. Sie fütterten mich und zogen mir etwas von ihren Söhnen an. Ich kann noch das Geborgenheitsgefühl in mir wachrufen, das mit dieser liebevollen Geste verbunden war.

Wenn ich überlege, dass ich später ein ziemlich guter Fußballspieler wurde und sogar ein Sportstudium ins Auge fasste, habe ich vielleicht schon an diesem frühen Punkt in meinem Leben die Zielstrebigkeit und Ausdauer entwickelt, von denen ich noch heute profitiere. Leicht kann das alles aber nicht gewesen sein. Ich war ein schüchterner Junge, der zuweilen von seiner jüngeren Schwester verteidigt werden musste. Auch war ich lange Zeit sehr dünn, da halfen selbst zahlreiche Klimmzüge am Reck nicht. Und während meine Schulkameraden schon in der Pubertät Freundinnen fanden, musste ich erst 19 Jahre alt werden, bis das bei mir auch klappte.

In der Schule konnte ich gut mithalten, nicht etwa, weil wir zu Hause beim Lernen unterstützt worden wären. Nein, meine Mutter, die von der luxemburgischen Grenze stammte, war als Kind während des Zweiten Weltkrieges mehrmals nach Kassel evakuiert worden, sodass sie kaum zur Schule gegangen war. Und mein Vater hatte, weil seine Eltern früh gestorben waren, schon als Teenager viel Verantwortung auf dem Hof seiner Eltern übernehmen müssen. Er war intelligent, aber schulisch nicht sehr gebildet. Bei uns zu Hause gab es auch keine Bücher. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Lesen, der Umgang mit Sprache überhaupt, nie meine Stärken wurden. Ich hatte aber eine rasche Auffassungsgabe: Was der Lehrer in unserer jahrgangsgemischten Klasse erzählte, konnte ich mir leicht merken und bei Klassenarbeiten wieder abrufen. Vielleicht deswegen setzte der Lehrer einen Schüler neben mich, der körperlich und wohl auch leicht geistig behindert war. Ich sollte ihm helfen und tat das auch gern.

Mit meinem etwas älteren Cousin Hermann* verband mich eine besondere Kameradschaft, aber auch Rivalität. Ich weiß noch, dass ich bei der Feldarbeit am Tage des wichtigen Fußballspiels mit ein bisschen Neid daran dachte, dass er sich ganz in Ruhe auf das Spiel vorbereiten konnte. Er war auch das erste Kind aus unserem Dorf, das eine Empfehlung für das Gymnasium im 25 km entfernten Hermeskeil bekam. Als ich ein Jahr später ebenfalls für gymnasiumstauglich befunden wurde, lehnte ich ab. Warum, weiß ich nicht mehr. Vielleicht mochte ich den Gedanken nicht, dass ich dann die abgelegten Bücher meines Cousins aus wohlhabenderem Hause erben würde. Ich wollte lieber etwas Eigenes machen. Allerdings hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht die geringste Idee, was das mal sein sollte. Mein Vater hingegen konnte sich gut vorstellen, mir als ältestem Sohn eines Tages den Hof zu übergeben. Er hatte sogar die Vision, außerhalb der Dorfgrenzen einen größeren sogenannten Aussiedlerhof zu bauen, den ich dann irgendwann hätte übernehmen können. Auf jeden Fall musste ich mich dafür gut mit dem Fuhrpark auskennen. So steuerte ich nach dem Volksschulabschluss mit gerade 15 Jahren eine Lehre zum Landmaschinenmechaniker an.

Bildungswege


Während meiner Lehre im Maschinenlager Raiffeisen LHG in Hermeskeil wohnte ich noch zu Hause. Ich ging zur Berufsschule und spielte weiter leidenschaftlich gern Fußball. Ich bin ein Mannschaftstyp. Etwas für die Gemeinschaft zu leisten, war mir immer sehr wichtig. Ich erinnere mich, wie wir in Mandern eine Flutlichtanlage für den Sportplatz bekommen haben. Da habe ich den Trecker von meinem Vater geholt, der hinten eine Schaufel hatte. Damit habe ich über Hunderte Meter den Sand herbeigeschafft, mit dem die Flutlichtmasten befestigt wurden. Darauf war sonst keiner gekommen, alle waren nur mit Schaufeln und Schubkarren an die Arbeit gegangen.

Ich weiß heute, dass das eine Begabung von mir ist: Abläufe analysieren und optimieren. Vielleicht ist es sogar so, dass ich manche – man könnte sagen: emotionaleren – Ebenen einer Sache gar nicht so wahrnehme, dafür aber ganz stark das Drumherum. Beim Karneval zum Beispiel hat mich viel mehr als der Umzug mit seinen bunten Gestalten und der Musik interessiert, wie viel Abfall da jedes Mal zurückbleibt. Und in Bundesligastadien habe ich immer besonders drauf geachtet, wie alles organisiert ist, wo die Getränke verkauft werden, wie die Ordner eingesetzt sind, welche Absperrungen Sinn machen und ob die...

Erscheint lt. Verlag 23.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
ISBN-10 3-96605-270-9 / 3966052709
ISBN-13 978-3-96605-270-2 / 9783966052702
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