Zucker, Vagus, Bulimie (eBook)
228 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-3890-8 (ISBN)
Inke Jochims, Jahrgang 1963, lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Berlin. Sie hat viele Jahre als Coach und Therapeutin gearbeitet und gibt nun ihr Wissen in Form von Online-Kursen und Büchern weiter. Zudem ist sie auf YouTube mit ihrem Kanal "Jochims-Methode" aktiv. www.inke-jochims.de
EINFÜHRUNG
Ein Mythos und seine Folgen
Sie war erst 19 Jahre alt.
Die Bulimie hatte mit zwölf Jahren begonnen. Nach zwei Krankenhausaufenthalten und einem Schulabbruch kam sie zu einer Einzelstunde in meine Praxis.
Nach all den Jahren war sie fast bulimiefrei, hatte ihre Essstörung fast überwunden. In den letzten Wochen aß sie keinen Zucker mehr. Es war ihr gelungen, alle „Triggerfoods“ wegzulassen. In der Folge hatte sie keine Attacke mehr erlebt.
Wie gesagt, in den Wochen, in denen sie auf die „gefährlichen“ Lebensmittel verzichtete, hatte sie keinen Anfall mehr. Sie fühlte sich so frei und gesund wie schon lange nicht.
Doch dann traf sie auf einen wohlmeinenden Mitmenschen, der an die gängige Theorie glaubte, dass eine Bulimikerin erst dann wirklich von ihrem Problem geheilt ist, wenn sie sich erlauben könne, alles zu essen, was auf dem Markt angeboten wird. Auch „gefährliche“ Lebensmittel wie Schokolade.
Diese Theorie heißt: „Restraint-Eating-Theorie“, es ist die Theorie vom gezügelten Essverhalten, das angeblich die Attacken auslösen soll.
Also aß meine Klientin doch ein Stück Schokolade. Unter Aufsicht. Ganz langsam und vorsichtig, schließlich wollte man ihr zeigen, wie harmlos Schokolade ist. Sie erlaubte sich, was wir uns alle erlauben. Und das hatte Folgen.
Ich glaube nicht, dass dieser Mensch ihr etwas Böses wollte.
Aber er hatte gelernt und als Wahrheit verinnerlicht, was auch mir beigebracht wurde und was die Norm in der Behandlung von Bulimie und Binge Eating ist:
Bulimikerinnen gelten als geheilt, wenn sie sich wieder erlauben können, alles zu essen. Alles, was im Lebensmittelgeschäft verkauft wird. Ob es sich dabei um naturbelassene Lebensmittel oder um kunstvolle Kompositionen aus Chemikalien, künstlichen Fetten und viel Zucker handelt, spielt angeblich keine Rolle.
Alles meint alles.
Die Ursache der Bulimie wird in der kognitiven Kontrolle über das eigene Essverhalten gesehen, und die Heilung beginnt, wenn diese Kontrolle aufgegeben wird.
Wir würden einem Alkoholiker nie raten, noch einmal einen Schluck Alkohol zu trinken, weil wir wissen, dass genau das zum Rückfall führt.
Einige von uns können mäßig Alkohol trinken, andere nicht. Manche trinken nach dem ersten Schluck weiter, bis sie völlig betrunken sind. Wenn sie geheilt werden wollen, müssen sie lebenslang auf Alkohol verzichten. Die 12-Schritte-Programme helfen ihnen dabei.
Meine neunzehnjährige Klientin brach in meiner Gegenwart völlig zusammen, als sie mir erzählte, was passiert war, nachdem sie ein Stück Schokolade gegessen hatte. Drei Tage später hatte sie vier Essattacken am Tag. Vierzehn Tage später wurde sie als akuter Notfall in ein Krankenhaus gebracht.
Sie hatte nur Geld für eine Einzelstunde, und ich versuchte, diese so gut wie möglich zu nutzen. Aber ich wusste, dass ich nicht weit kommen würde. Als sie ging, sah ich eine zerstörte Biografie vor mir, denn die Essstörung hatte ihr Selbstwertgefühl bereits weitgehend zerstört.
Sie sah sich, wie man ihr immer wieder beigebracht hatte, als die eigentliche Versagerin. Sie suchte die Schuld, wie ihr so oft gesagt worden war, bei sich selbst und nicht bei den möglicherweise falschen Behandlungsansätzen. Sie sah das Problem nicht in den falschen Anweisungen und auch nicht in der Ernährungsumgebung, in der sie lebte.
Das war der Tag, an dem ich mir unweigerlich eingestehen musste, dass die derzeitige Behandlung von Bulimie und Binge Eating falsch ist. Denn sie basiert auf einer Theorie, die sich „restraint eating theory“ (die Theorie vom gezügelten Essverhalten) nennt.
Die Restraint-Eating-Theorie ist eine Theorie, die, wie ich in diesem Band der vierbändigen Reihe zeigen werde, auf biologisch falschen Annahmen beruht und deshalb Frauen und Männer kränker macht, als sie sind, und nicht gesünder.
Ich glaubte schon damals, dass die Behandlung der Bulimie, die eine langwierige und oft sehr schmerzhafte Erkrankung ist, durch einen Mythos behindert wird. Und ich glaube auch heute noch, dass die Behandlungsdauer der Betroffenen erheblich verkürzt werden kann, wenn dieser Mythos aufgegeben wird.
Diesem Ziel ist diese Buchreihe gewidmet. Die alte Theorie des „restraint eating“ als falsch zu widerlegen und eine neue, heilsamere Sichtweise der Entstehung von Bulimie und Binge Eating vorzuschlagen, die eine Heilung der Krankheit in wesentlich kürzerer Zeit ermöglicht.
Abb. 1: Manche Mythen halten sich hartnäckig. Zum Beispiel gibt es keine Einhörner, aber viele Menschen glauben gerne daran. Die Restraint-Eating-Theorie ist so ein Einhorn.
Die Symptome
Weltweit sind Millionen von Menschen von Bulimie und Binge Eating betroffen.
Eine typische Beschreibung der Symptome lautet:
Menschen, die an Bulimie oder Binge Eating leiden, erleben so genannte „Heißhungerattacken“, bei denen sie sich „überessen“. Sie essen in kurzer Zeit viel mehr vor allem aber auch viel kalorienreichere Nahrung, als ein sogenannter normaler Mensch in einer vergleichbaren Zeiteinheit zu sich nehmen würde.
Wahrend der Attacken haben die Betroffenen das Gefühl, die Kontrolle über ihr Verhalten und über die Art und Menge dessen, was sie essen, völlig verloren zu haben. Durch Kompensationsmaßnahmen wird die Kontrolle zurückgewonnen.
Die Attacken werden häufig im Zustand der Raserei praktiziert, die Geschwindigkeit des Handelns ist sehr hoch. Diese Raserei wird als das Resultat extremen Hungers gedeutet.
Wahrend der Anfälle verlieren sich die Betroffenen in einem inneren Dialog, in dem sie sich „erlauben“, noch mehr Zucker in den Quark zu geben und noch eine Pizza in den Ofen zu schieben. Das Argument, mit dem sie sich diese Handlungen „erlauben“, ist, dass sie dieses Verhalten nur noch heute praktizieren, dass es jetzt sowieso egal ist und dass sie morgen sicher mit ihrem Verhalten aufhören werden.
Offensichtliches Symptom beider Formen von Essstörungen ist also, dass die Betroffenen während dieser Attacken anfallsartig sehr viel und auch sehr hochkalorische Nahrung zu sich nehmen.
Während dieser Attacken sind sie dissoziiert, das heißt, sie stehen neben sich. Sie beobachten sich selbst, während ein Teil ihres Gehirns und Nervensystems ihren Körper dazu bringt, etwas zu tun, was schmerzhaft und ungesund ist. Sie handeln wie auf Autopilot.
Sie zeigen wie „auf Befehl“ eines ihnen unbekannten Teils ihres Selbst ein Verhalten, das sie in anfallsfreien Zeiten niemals bewusst und vorsätzlich zeigen würden. Sie wären nicht einmal dazu in der Lage, selbst wenn sie dazu aufgefordert würden und es selbst auch wollten.
Das ist einer der Gründe, warum die wenigsten Behandler:innen jemals eine echte sogenannte Heißhungerattacke von außen beobachtet haben. Sie haben davon gehört, im Krankenhaus, in ihrer eigenen Praxis. Aber sie haben es nie wirklich gesehen.
Gerade weil dieses Verhalten nur gelegentlich, unkontrolliert und damit für die Betroffenen nicht vorhersehbar auftritt, erleben sie diese Attacken als „Episoden“ in ihrem Leben.
Da sie mit ihrem Essverhalten während dieser Episoden offensichtlich gegen die gesellschaftliche Forderung nach maßvollem Essen und einer entsprechenden Figur verstoßen, versuchen sie in einem zweiten Schritt, dieses „Fehlverhalten“ nach dem Ende der Attacke zu korrigieren. Es kommt zu kompensatorischen Handlungen.
Mit diesen Kompensationshandlungen versuchen die Betroffenen, den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.
Kompensatorische Maßnahmen, um den Folgen der Essattacken zu entgehen, sind bei Bulimie Erbrechen, Abführmittel, exzessiver Sport oder Fastenphasen. Beim Binge Eating bleiben diese kompensatorischen Maßnahmen weitgehend aus. Die Betroffenen nehmen das aus den Essattacken resultierende Übergewicht hin, nehmen sich aber häufig vor, bald eine Diät zu beginnen.
Es gibt also zwei Phasen im Zyklus: eine Phase, in der die Betroffenen die Kontrolle verlieren, und eine Phase, in der versucht wird, durch kompensatorische Maßnahmen die Kontrolle wiederzuerlangen.
Ich sehe das Problem in der ersten Phase des Zyklus, dem Kontrollverlust, in der Attacke und nicht - wie viele andere Autoren - in der zweiten Phase, der kompensatorischen Handlung. Ich bin also der Meinung, dass die Entstehung der Attacken neu beschrieben werden muss. Die Frage nach den kompensatorischen Handlungen erübrigt sich, wenn die Attacken nicht mehr auftreten.
Ich werde in dieser Buchreihe zeigen, dass es sich bei Essanfallen nicht oder nicht nur um physische Hungeranfalle handelt, sondern um das, was auch als „food addiction"1 bezeichnet wird, d.h. die Sucht nach Essen.
Nicht irgendeine Nahrung, sondern vom Menschen hergestellte Lebensmittel, vor allem solche, die eine in der Natur nicht vorkommende Mischung aus isolierten Zuckern und gepressten Ölen enthalten. Diese Lebensmittel werden heute in der...
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Psychologie |
ISBN-10 | 3-7583-3890-5 / 3758338905 |
ISBN-13 | 978-3-7583-3890-8 / 9783758338908 |
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