Der begehbare Affe -  Oliver Ruppel

Der begehbare Affe (eBook)

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2024 | 1. Auflage
342 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7584-9567-0 (ISBN)
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'Wir müssen es zudem als eine der drängenden Fragen unserer Zeit sehen: Wie können wir uns vor den Rettern retten? Es gilt ja jedweder Disziplin zu misstrauen, die antritt, um den jeweilig anderen zu verändern. Es hat sich ein unüberschaubares Heer von Tätern formiert, sie erscheinen in den Masken der Coaches, der Therapeu­ten, der Politiker und Aktivisten, der gläubigen Technokraten und Kaufleute, der Bürokraten und Verwalter, der Lehrer und Karitativen, die unsere Wahrnehmung, unser Verhalten und unsere Verhältnisse manipulieren wollen, damit wir ihrer Gesinnung entsprechen. Sie dringen in unsere Körper und unsere Seelen und operieren in ihnen herum.'

Oliver Ruppel, geboren 1967 in Wuppertal, Autor, therapeutischer Ausbilder, führt seit 34 Jahren eine Praxis für Psychotherapie.

Kapitel 1


 

Wuppertal, 1964 - 1973

 

Womit fängt man an, wenn man eine Geschichte zu erzählen hat, die einen so dermaßen in die Interesselosigkeit bringt, dass man am besten eigentlich überhaupt gar nichts erzählen sollte? Vielleicht mit einem Zitat. Da gibt es ein schönes aus Ben Wheatleys Film „A Field in England“, und das geht so: „Er hat dich weder mit der Welt bekannt gemacht, noch mit dir selbst.“{1} Und dieses Zitat ist vielleicht das schönste, das ich seit langer Zeit gehört habe, weil es so eindeutig in die richtige Richtung zeigt: auf den Vorgang der Erziehung. Alles beginnt mit der Idee, dass der weiße Mann aus Europa der eigentliche Mensch sei. Jedenfalls hat dieser seit dem 16. Jahrhundert die exzeptionelle Rolle für die Weltbevölkerung übernommen. Er, der Mensch, der Rest: die anderen Homo sapiens, auch was an Leben und Objekten in der Welt so sei, der untergeordnete Rest. Georg wird geboren. Wir sind in Deutschland, es ist etwa 1964. Die Gruppe, die seine Eltern und zwei weitere Kinder, Zwillinge, bilden, ist als das organisiert, was wir eine „Familie“ nennen. Die Stadt heißt Wuppertal, sie hat damals etwas über 400.000 Einwohner und ist ein Zusammenschluss inhomogener Städte, die kaum zusammen wollen. Die Städte haben die industrielle Revolution mit der Textilindustrie hinter sich. Der größte Zusammenschluss besteht zwischen Barmen, der damals Anfang des 20. Jahrhunderts ärmsten Stadt Deutschlands, und Elberfeld, der Stadt der Bleicher am Wupperufer. Mit dem Reichtum seiner Familie hatte der Barmer Friedrich Engels Karl Marx finanziert. Während in Wuppertal die verrückte Dichterin Else Lasker-Schüler am Bürgerlichen litt und „Meinwärts“{2} wollte. Die Eltern von Georg erlebten die Nazizeit als Jugendliche. Sie folgten. 1964 lebten sie im Mietshaus von Georgs Opa, der einem fliehenden reichen Juden kurz vor dessen Flucht zwei Häuser „für einen Appel und ein Ei“, so sagte meine Mutter, abgeluchst hatte. Später beschwerte sich “der Dicke Fritz“, wie mein Vater seinen Vater nannte, darüber, dass er die Häuser, nach geleisteten Reparaturzahlungen, zweimal habe bezahlen müssen. Das zweite Haus, gleich neben dem Mietshaus gelegen, war ein Kutscherhaus, dort betrieb „der Dicke Fritz“ eine Klempnerei mit einigen Angestellten. Er selbst wohnte mit seiner Frau, für mich Oma Änne, in der Kutscherwohnung. Beide Häuser hatten im Wuppertal, das beidseitig der Wupper steil ansteigt, interessante große Terrassengärten, die bis hoch in den nahen Wald, die Kaiserhöhe, führten. Das Kutscherhaus „Nützenberger Straße, Ecke Bismarckstrasse“ in Elberfeld gelegen, stellte die Übergangszone von Proletariat zum Großbürgertum dar, das im Briller Viertel lag: ein Bereich prachtvoller Villen und Häuser ehemaliger Textilunternehmer. Übrigens wuchs auf einer anderen Seite dieses Viertels, ebenfalls in einer solchen Wechselzone, Jahrzehnte zuvor die schon erwähnte Else Lasker-Schüler auf. Der Dicke Fritz betonte gerne, welche guten Autobahnen Hitler gebaut habe und dass, ob man ihn mochte oder nicht, Heino eine sehr gute Stimme habe. Zur gleichen Zeit fanden die ersten Prä-Fluxus-Veranstaltungen mit Beuys et al. unweit von ihm im Briller Viertel in der Galerie Parnaß statt. Joseph Beuys stellte nun eindeutig einen Gegenpart zum Dicken Fritz dar, dessen Sohn, mein Vater Rolf, Künstler hatte werden wollen, aber dann eine kaufmännische Ausbildung einschlug. Wenn man solche Fakten beschreibt, dann sind das natürlich gar keine Fakten. Ich erzähle einfach, was mir in den Sinn kommt, um mir meine eigene Existenz verständlich zu machen, von der ich aber gar nicht reden will. Deshalb ist auch die Geschichte von Georg, der später Bademeister wurde und stets von seinen Zwillingsbrüdern exkludiert war, ohne weitere Bedeutung. Georg und ich sind Teil eines größeren Organismus, dessen unterschiedliche strukturelle Ebenen mich interessieren. Der Mensch als Person, im Sinne der Begriffsbedeutung von „Maske, Bühnenrolle“, als Narr und Bademeister in seiner gesellschaftlichen Funktion und der Mensch als Mensch, wobei es zu erforschen gilt, was das bedeuten kann und könnte. Die 1960er Jahre konnte man auch in Wuppertal als eine Wechselzone von Autoritarismus („Der Muff von tausend Jahren unter den Talaren“ sollte gelüftet werden) zu echtem Demokratieversuch erleben. Die äußerst angepassten 50er Jahre, die „das Land wieder aufbauten“, waren in ihrer Enge erdrückend spürbar, die nach Ausbruch suchte.

Meine Eltern versuchten den Ausbruch noch vor meiner Geburt, sie wanderten aus nach Südafrika. Zur gleichen Zeit zog Dr. Ronald Laing mit schizophrenen Patienten in London in eine Wohngemeinschaft und sagte: „Wenn eine Position der primären ontologischen Sicherheit erreicht wurde, stellen die gewöhnlichen Lebensumstände keine fortwährende Bedrohung der eigenen Existenz dar. Wenn eine solche Lebensgrundlage nicht erreicht wurde, bilden die gewöhnlichen Situationen des tagtäglichen Lebens eine kontinuierliche und tödliche Bedrohung. Nur wenn man sich das klarmacht, ist es möglich zu verstehen, wie bestimmte Psychosen sich entwickeln können.“{3} Mit dem Konzept der sogenannten ontologischen Sicherheit wollte Laing einfach ausdrücken, dass Lebewesen ein Vertrautheitsgefühl zu ihrer Umwelt derart empfinden können, dass sie sich als sicher innerhalb dieser wahrnehmen. Dieser Zustand stellt den Normalzustand dar. Notlagen gibt es, jedoch als Ausnahmen. Wenn ein Mensch nun versucht, in einen anderen Teil der Erde zu gelangen, lässt sich dies deutlich als Indikator für eine Verunsicherung ontologischer Art nehmen. Er sucht nach anderen Lebensgrundlagen. Materiell prekär war die Lebensgrundlage Mitte der sechziger Jahre nicht, insofern finde ich es äußerst spannend herauszufinden, welche andere Form der Prekarität hier vorgelegen haben muss. Sicher, alle Nazis waren noch da, die Nürnberger Prozesse, von denen ich später als großem Aufräumprozess hörte, hatten ganze acht Menschen verurteilt. Das war’s, die anderen machten weiter im Namen einer oktroyierten Demokratie amerikanischen Vorbilds. Der führende amerikanische Politologe Sheldon Wolin schrieb 1960: „Während die durch Nationalsozialismus und Faschismus repräsentierten Versionen des Totalitarismus ihre Macht durch die Unterdrückung liberaler politischer Praktiken festigten, die nur oberflächliche kulturelle Wurzeln geschlagen hatten, stellt Supermacht einen Drang zur Totalität dar, der aus dem Umfeld stammt, in dem Liberalismus und Demokratie seit mehr als zwei Jahrhunderten etabliert sind.“{4} Es handelt sich um einen auf den Kopf gestellten Nationalsozialismus, einen „umgekehrten Totalitarismus“. Obwohl es sich um ein System handelt, das nach Totalität strebt, wird es von einer Ideologie des Kostengünstigen und nicht von einer „Herrenvolk“-Ideologie, vom Materiellen und nicht vom „Idealen“ angetrieben“. Wolin stellt also fest, der Totalitarismus wurde letztlich einfach umgestülpt und eine Volksherrschaft liege nicht vor, sie sei Fassade. Der Dicke Fritz war nun recht deutlich ein bestimmender Signifikant, ein kleiner dicker Klempnerkönig mit einem Prinzen, meinem Vater, der an dieser symbolischen Ordnung nicht beteiligt werden wollte und sich davon machte. Wollte er ein eigenes Königreich gründen, als er auszog? Die sogenannte westliche Welt wollte eindeutig ja auch etwas anders haben als bislang, die 68er-Bewegung der Hippies nahm langsam Fahrt auf, während Heino sang: „Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich.“ Ich frage mich heute natürlich, was meine Eltern wohl erwartet hatten, in Südafrika zu finden: weniger Totalitarismus? Und meiner Auffassung nach kennzeichnet den Totalitarismus eine alle Lebensbereiche der Menschen durchdringende Ideologie von Unterwerfung, Verdrängung, Angst, Projektion und Entlebendigungsversuchen mit dem Zweck, trotz monströser Bedrohung existieren zu können. Vielleicht weisen wir in diesem Buch die vielen Gesichter des Totalitarismus nach und kommen seinem Beginn und seiner Verbreitung auf die Spur. Meine Eltern zumindest hätten sich denken können, dass das Südafrika der 1960er ein rassistisches...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
ISBN-10 3-7584-9567-9 / 3758495679
ISBN-13 978-3-7584-9567-0 / 9783758495670
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