Die Kunst zu leben (eBook)

Was wir von großen Psychologen lernen können

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
384 Seiten
btb Verlag
978-3-641-28091-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kunst zu leben - Frank Tallis
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»Eine packende und fundierte Tour durch Geschichte und Gegenwart der Psychotherapie.« Times Literary Supplement
In diesem spannenden Buch werden die herausragenden Persönlichkeiten, die mit der Praxis der Psychotherapie verbunden sind, und ihre wichtigsten Ansätze vorgestellt - von Freud bis Fromm, von Jung bis Laing. Frank Tallis, erfolgreicher Autor und klinischer Psychologe mit langjähriger Erfahrung, ist überzeugt: Das psychotherapeutische Denken ist eine immens wertvolle und zu wenig genutzte Ressource, um Antworten auf die relevanten Fragen unserer Zeit zu finden.

Frank Tallis ist Schriftsteller und praktizierender klinischer Psychologe. Für seine Romane, vor allem für seine Erfolgsserie um den Psychoanalytiker und Detektiv Max Liebermann, erhielt er zahlreiche Preise, u. a. den »Writers' Award from the Arts Council of Great Britain« und den »New London Writers' Award«. Tallis lebt in London.

1
Sprechen:


Raus aus dem Stummfilmkino


Vor einigen Jahren besuchte ich in London eine herausragende Edward-Hopper -Ausstellung. Während ich von Leinwand zu Leinwand schlenderte, wurde mir immer wieder bewusst, auf welch geniale Weise es der Künstler verstanden hatte, private Augenblicke festzuhalten. Hoppers Werke zeigen oft gewöhnliche Männer und Frauen in spärlich eingerichteten Innenräumen, die aus dem Fenster starren oder ausdruckslos ins Leere blicken. Selbst wenn er mehrere Figuren darstellt, sind sie voneinander getrennt und leben in unterschiedlichen Welten.

Eine von Hoppers eindrucksvollsten Erkundungen des Alleinseins ist das Gemälde Automat. Der Bildtitel bezieht sich auf eine frühe Kette von Selbstbedienungsrestaurants, in denen die Mahlzeiten nicht von Menschen serviert, sondern von Automaten ausgegeben wurden. Hoppers Gemälde zeigt eine junge Frau, die in einem solchen Lokal an einem Tisch sitzt und gerade im Begriff ist, eine Tasse Kaffee an die Lippen zu führen. Das Selbstbedienungsrestaurant hebt ihre Einsamkeit unmittelbar hervor. Obwohl ihr Mantel mit Pelzbesatz versehen ist und sie in der Nähe eines Heizkörpers sitzt, braucht sie noch mehr Wärme. Sie hat einen ihrer Handschuhe ausgezogen, um die heiße Kaffeetasse zu spüren. Das Bild ist äußerst realistisch, aber ein Detail wirkt unpassend: Auf einem Regal hinter der jungen Frau steht eine Schale voller Früchte. Woher kommt das Obst? Wir befinden uns in New York, es herrscht eine kalte Jahreszeit, und es sind die 1920er Jahre. Damals war Obst außerhalb der Saison nicht erhältlich. Solche Früchte gehören eigentlich nicht dorthin. Hopper will dies symbolisch verstanden wissen. Er fordert uns auf, darüber nachzudenken, inwiefern die üppigen, gerundeten Formen in der Schale mit dem korrespondieren, was Freud »die größeren Hemisphären des weiblichen Körpers« nannte.

Der Mantel der jungen Frau ist grün (die Farbe der Unschuld), aufgeknöpft und offen, und man sieht, dass sie darunter ein rotes Kleidungsstück (die Farbe der Leidenschaft) trägt. Ihr Ausschnitt ist tief, ihr Rock ist nach oben gerutscht und gibt den Blick auf ein Paar wohlgeformte Beine frei. Diese erotischen Elemente lassen erahnen, woran sie möglicherweise gerade denkt. Über ihrem Kopf verschwinden die im Fensterglas reflektierten Deckenlichter des Schnellrestaurants in der Dunkelheit; sie ähneln den »Gedankenblasen« eines Comics. Es gibt zwei Reihen solcher Blasen, was bedeutet, dass sie mit zwei Gedanken beschäftigt sein muss. Soll sie? Soll sie nicht? Der Stuhl, den sie vor sich hat, ist augenfällig leer. Sie kämpft mit einem Dilemma, das sie ohne Begleitung oder Unterstützung lösen muss. Ihre Einsamkeit wird durch das unendliche Nichts draußen noch verstärkt, welches die Doppelreihe reflektierter Lichter nur begrenzt mildern kann. Ein gerade noch sichtbares Stückchen Geländer deutet eine absteigende Treppe an. Es scheint der einzige Weg für sie nach draußen zu sein. Wie wir alle hat sie nur begrenzte Optionen.

Edward Hopper Automat © Heirs of Josephine Hopper/Licensed by Artis’s Rights Society (ARS)NY/DCS London 2019/Bridgeman Images

Die Männer und Frauen in Hoppers Gemälden sind fast immer stumm; selbst, wenn sie im Gespräch dargestellt werden, sind sie in sich zurückgezogen, durch eine zusätzliche Barriere von uns getrennt, wie durch das Glas eines Fensters. Die Lautlosigkeit in Hoppers Gemälden (und insbesondere das Fehlen gedachter Stimmen) ist beunruhigend. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und wir sehnen uns nach Konversation. Wenn wir miteinander reden, fühlen wir uns nicht mehr so allein, und das schwarze Nichts hinter dem Fenster des Automat wirkt nicht mehr ganz so bedrohlich.

Ich würde gern behaupten, diese Beobachtungen selbst gemacht zu haben, aber ich zitiere hier Professor Walter Wells, einen amerikanischen Wissenschaftler, der ein bemerkenswertes Buch mit dem Titel Silent Theater: The Art of Edward Hopper geschrieben hat. Ich lernte Walter bei einer Dinnerparty in London kennen, und wir wurden Freunde. Wir trafen uns gelegentlich, nur um zu plaudern. Er war ein hervorragender Gesprächspartner, unersättlich neugierig, und er verfügte über ein beeindruckendes Wissen zu einer Vielzahl von Themen, wie der Sprache der Geschäftswelt, Aspekten der Medizin, Mark Twain oder dem Hollywood-Roman, um nur einige zu nennen. Wir konnten über so ziemlich alles reden. Ich erinnere mich an die Frage, ob die Superhelden von Marvel und DC das amerikanische Äquivalent zu den griechischen Göttern seien. Walter bemerkte höflich, dass, wenn ich Amerika psychologisch auf den Grund gehen wolle, Genreliteratur vermutlich erhellender wäre. Amerika habe seine Vergangenheit mit Hilfe des Westerns aufgearbeitet, setze sich mit der Gegenwart mittels Kriminalromanen auseinander und erforsche eine mögliche Zukunft anhand von Science-Fiction. Wie so viele scharfsinnige Beobachtungen ist auch diese völlig offensichtlich – aber nur im Nachhinein, wenn sie einmal ausgesprochen wurde. Walter und ich schwiegen nie, nicht einmal ein paar Sekunden lang.

Das letzte Mal, dass ich mich mit Walter zum Mittagessen traf, war zu einem traurigen Anlass. Seine Frau, einige Jahre jünger als er, lag im Sterben. Ich tat mein Bestes, um Plattitüden zu vermeiden, denn er war kein Mensch, der vor harten Wahrheiten zurückschreckte. In seiner intellektuellen Aufrichtigkeit war er unerschütterlich, und er besaß das, was ein existenzialistischer Schriftsteller einmal als die Bereitschaft bezeichnet hat, »nackt im tobenden Ungewitter des Lebens [zu] stehen«.[1] Da er bereits eine Frau durch Krebs verloren hatte, wusste er, dass schlimme Dinge passieren und dass wir ihnen, wenn sie passieren, nicht entkommen können. Als die Rechnung kam, griff Walter nach seiner Brieftasche und sagte: »Nächstes Mal zahlst du.« Aber es gab kein nächstes Mal. Ein paar Monate später starb seine Frau, er reiste eine Weile, dann starb auch er. Seine Krebsdiagnose konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Ende durch den persönlichen Verlust beschleunigt worden war. Emotionaler Schmerz bricht tatsächlich Herzen. Die sogenannte »Takotsubo-« oder »Stress-Kardiomyopathie« (auch bekannt als »Broken-Heart-Syndrom«) ist ein anerkannter Krankheitszustand.

Wenn Walter und ich uns trafen, sprachen wir eher über bestimmte Themen als über persönliche Erlebnisse. Daher war ich zum Teil etwas überrascht, vielleicht sogar erstaunt, als ich hörte, was bei seiner Gedenkfeier alles über ihn gesagt wurde. Dieser witzige, charmante, stilvolle Mann war in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, und gelegentlich zeigten sich die Spuren seiner bewegten Jugend. Einmal schlug er einen französischen Restaurantbesitzer nieder, dessen unangemessenes Verhalten (und es war unangemessen) Walters Fähigkeit, Provokationen hinzunehmen, auf eine harte Probe gestellt hatte. Jemand sagte: »Man kann den Jungen aus Queens herausholen, aber man kann Queens nicht aus dem Jungen herausholen.« Ich musste lachen, als ich mir vorstellte, wie sich mein sanftmütiger Freund durch Südfrankreich prügelte.

Ich vermisse Walter. Mehr, als ich je erwartet hätte. Ich bedaure zutiefst, dass ich nicht mehr Zeit mit ihm verbracht habe. Natürlich hatte ich meine Gründe. Es gab immer irgendetwas, das zuerst erledigt werden musste. Jetzt kann ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, was diese dringenden Angelegenheiten waren. Ich möchte unsere Gespräche fortsetzen. Wir waren noch nicht fertig, es gab noch so viel zu sagen.

Vor ein paar Jahren besuchte ich das Whitney Museum of American Art in New York City, Walters Heimatstadt. Ich wollte unbedingt die Arbeiten von Hopper sehen. Beim Stöbern in der Museumsbuchhandlung stieß ich auf ein Exemplar von Silent Theater. Ich nahm es aus dem Regal und seufzte. Hätte ein vorbeigehender Fremder in diesem Augenblick ein Foto von mir gemacht, hätte es einem Bild von Edward Hopper geglichen: ein Mann, der abseits steht, isoliert und den Blick nach innen gerichtet. Ich stellte das Buch zurück an seinen Platz und ging zu meiner Frau und meinem Sohn.

»Ich habe gerade Walters Buch gefunden.« Mit diesen Worten brach ich das Schweigen, und dadurch knüpfte ich wieder Kontakt. Manche Kritiker haben Hoppers Schweigen als tödlich bezeichnet. Das ist keine Übertreibung. Es ist eine wissenschaftliche Tatsache.

*

Bertha Pappenheim, die als Anna O. in die Annalen der Psychiatrie einging, litt an Hysterie. In den 1880er Jahren wurde sie von Josef Breuer mit einer Methode behandelt, die später von Breuers jüngerem Kollegen, Sigmund Freud, weiterentwickelt wurde. Die endgültige Form dieser Therapie wird heute als Psychoanalyse bezeichnet und ist das erste wichtige Beispiel für eine formalisierte Psychotherapie. Die Behandlung von Anna O. wird in Studien über Hysterie beschrieben, einem Pionierwerk, das Breuer und Freud 1895 veröffentlichten. Wenn die Psychoanalyse die erste Form der Psychotherapie im modernen Sinne ist, dann war Pappenheim wohl die erste Psychotherapie-Patientin. Sie erfand einen Begriff, um ihre Behandlung zu beschreiben: die »Redekur«. Damit hat sie den wichtigsten Bestandteil der Psychotherapie benannt, das entscheidende Mittel, durch das die Psychotherapie ihre positiven Wirkungen erzielt.

Der Evolutionspsychologe Robin Dunbar vermutet, dass sich das Sprechen aus der gegenseitigen Fellpflege entwickelt hat, die unsere affenähnlichen Vorfahren praktizierten. Diese Theorie hat in der Wissenschaft zwar wenig Anklang gefunden, aber sie besitzt einen gewissen...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2024
Übersetzer Henning Dedekind
Sprache deutsch
Original-Titel The Act of Living: What the Great Psychologists Can Teach Us about Surviving Discontent in the Age of Anxiety
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Schlagworte 2024 • C.G.Jung • eBooks • Erich Fromm • max liebermann krimis • Neuerscheinung • Psychoanalyse • Psychologie • R.D. Laing • Sigmund Freud • Vienna Blood • "wiener blut"
ISBN-10 3-641-28091-5 / 3641280915
ISBN-13 978-3-641-28091-8 / 9783641280918
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