1924 (eBook)

Eine Reise durch die deutsche Republik - und andere Reportagen aus der Epoche der Weltrevolution | Mit einem Vorwort von Steffen Kopetzky
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2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02000-9 (ISBN)

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1924 -  Larissa Reissner
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Mit einem Vorwort von Steffen Kopetzky. Larissa Reissners Deutschlandreise 1924 zeigt ein faszinierendes, farbiges Kaleidoskop des Lebens vor hundert Jahren. Aufgewachsen in Berlin-Zehlendorf, war die Revolutionärin eine einzigartige Beobachterin: Reissner ist schon 1923 beim heute vergessenen Hamburger Aufstand dabei, sie beschreibt die dramatischen Geschehnisse wie die Situation der Arbeiter, dann reist sie ins Ruhrgebiet und nach Berlin, die Motoren und Moloche der Moderne. Sie beleuchtet das kleine Leben und seine Tragödien, die die Mächtigen ignorieren. Auch von diesen erzählt sie. Sie besucht das Verlagshaus Ullstein, erkennt den Geist der neuen Massenmedien. Die Junkers-Werke und Krupp, die mächtige Industrie, beschreibt sie so kritisch wie fasziniert als die «nationalen deutschen Heiligtümer». So entsteht ein hellsichtiges Bild der fünf Jahre alten Republik, durch die sich bereits Risse ziehen. Und, ergänzt durch Reportagen aus anderen Teilen der Welt, das Panorama einer aufgewühlten, so hoffnungsvollen wie zerrissenen Zeit, die uns näher ist, als wir denken. Reissners fulminante Reportagen aus der Epoche der Weltrevolution, ediert und begleitet durch ein Vorwort von Steffen Kopetzky - eine Wiederentdeckung.

Larissa Reissner, geboren 1895, war schon jung beru?hmt, als Reporterin, Schriftstellerin, Revolutionärin. Trotzki und Gorki bewunderten sie, Pasternak nahm sie zum Vorbild seiner Lara in «Doktor Schiwago». Reissners fru?her Tod 1926 beflu?gelte die Legende. Fulminant und unmittelbar schrieb sie u?ber den Russischen Bu?rgerkrieg, an dem sie selbst als Kommissarin der Wolga-Flotte teilnahm, oder u?ber Afghanistan, wobei sie die klassische Reisereportage mit Weltpolitik kombinierte. Im Herbst 1923 kam sie in die junge Weimarer Republik. Ihre Texte gehören zum Besten, was u?ber das Deutschland der fru?hen Zwanziger geschrieben wurde.

Larissa Reissner, geboren 1895, war schon jung berühmt, als Reporterin, Schriftstellerin, Revolutionärin. Trotzki und Gorki bewunderten sie, Pasternak nahm sie zum Vorbild seiner Lara in «Doktor Schiwago». Reissners früher Tod 1926 beflügelte die Legende. Fulminant und unmittelbar schrieb sie über den Russischen Bürgerkrieg, an dem sie selbst als Kommissarin der Wolga-Flotte teilnahm, oder über Afghanistan, wobei sie die klassische Reisereportage mit Weltpolitik kombinierte. Im Herbst 1923 kam sie in die junge Weimarer Republik. Ihre Texte gehören zum Besten, was über das Deutschland der frühen Zwanziger geschrieben wurde. Steffen Kopetzky, geboren 1971, ist Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. Sein Roman «Monschau» (2021) stand monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste, ebenso wie «Risiko» (2015, Longlist Deutscher Buchpreis). «Propaganda» (2019) war für den Bayerischen Buchpreis nominiert, zuletzt erschien «Damenopfer» (2023). Von 2002 bis 2008 war Kopetzky künstlerischer Leiter der Theater-Biennale Bonn. Er lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Pfaffenhofen an der Ilm.

Das Haus der Maschinen


Gleich zusammengewachsenen Augenbrauen berührten sich einstmals die uralten Festungsmauern über dem schmalen Ausgang des Kabultals. Dann schlugen die Zeit, die großen Eroberer und der Handel weite Breschen in die Mauern. Eines Tages entstand dort, wo an beiden Seiten des Weges die verkrümmte zerrissene Schlange der Mauer liegt, die erste Fabrik in Afghanistan.

Gar viele Steine der alten Festung liegen jetzt wohl verwahrt im Fundament des neuen Bauwerks – es sind jene Steine, die einst Sklavenhände steile Abhänge hinaufgewälzt und mit rotem Lebenssaft in die Rippen des Gebirges gemauert haben.

Und obwohl die Fabrik von den Engländern erbaut ist und ihre nächtlich-funkelnden Fenster das Gespenst einer anderen Zivilisation in diese Finsternis ausstrahlen, blinzeln die Irrlichter der alten Friedhöfe des Landes und die Flämmchen in stillen Gebirgshöhlen insgeheim den neuen elektrischen Gestirnen zu, und die brüchige Kette der Mauer ist ebenso fest durch dieses Haus der Maschinen gesichert wie ehedem durch die Patrouillen der Festung und jene, die mit dem Dolch in den Zähnen die Mauern erklommen und mit blutenden Knien und zertrümmerten Lederschildern hinabstürzten. Das Fundament der Fabrik ist mit Sklavenschweiß gebaut; die alten ergrauten, das Gift der Urzeiten tragenden Steine sind dieselben.

Tagsüber erbleicht das ganze Tal des Hauses der Maschinen in sengender Glut. Soldaten, Wanderer, Handwerker und nomadisierende Stämme ziehen vorüber. Esel und Kamele wirbeln einen dichten Staub auf, und der Wind, der durch das schmale Kabultor zügellos hineinschießt, bläht den Staub zu grauen Segeln auf. Umsonst spritzen Gemüsebauern Wasser mit hölzernen Schaufeln unter die Füße der Passanten; der Geruch des nassen Staubes und der frische Zwiebelgeruch der Gemüsebeete machen das heiße Atmen der Landstraße noch dicker, noch unerträglicher. Gemüsegärten und Getreidefelder ziehen sich bis dicht an die bewachten Fabrikmauern hin. Mittelalterlicher Ackerbau und Maschinengeruch. Das Wasser umspült Gerste und Kleie, Mais und Aprikosengärten und ergießt sich noch kühl, noch sauber und duftend in die Kanäle der Fabrik, in Kessel und Turbinen.

In den Wollabteilungen herrscht ein fetter Geruch von Schafen, Ställen, frischer Milch und Dünger. Müde und lässig auf seinen Hirtenstab gestützt, steht an der Maschine ein uralter Jakob, ein biblischer Hirte mit offener Brust und weißem Turban; ebenso nackt, schlicht und in sein Schicksal ergeben steht er an seinem Dynamo, wie der alttestamentarische Patriarch bei seinen Herden gestanden haben mag.

Der Osten ist ja im Großen und Ganzen ein stummes Land. Die Geschäftigkeit der Bazare, die Bewegung auf den großen Landstraßen und auch die Friedhöfe mit den flachen spitzen Steinen an den Gräbern, die wie schartige Messer vorhistorischer Menschen sind, alles das ist farbenkeimende Stille, Ballen von Licht und warmer Energie, Staubgewirbel in Sonnenstrahlen.

Alles ist visuell und flüchtig, veränderlich und unbeweglich in der Bewegung, ja, regungslos wie der Tod. Und plötzlich ertönt aus dem Herzen des heißen Tages, aus der östlichen Stummheit, aus den mit uralten Steinen gefügten Gebäuden, aus den nackten und heißen Mauern, wo kein lebender Schatten die Sklavenarbeit erträglich macht, wo es keine Feuchtigkeit und kein weiches Grün gibt, wo nur eine gefangene Wachtel in einem Weidenkäfig über der Werkstatt hängt und verzweifelt und bittend um Kühle schreit – aus diesem Komplex von Fabrikgebäuden und Schafställen und niedrigen Türen, die Viehgeruch und Arbeitsschweiß ausströmen, ertönt ein betäubendes Gewirr von Hammerschlägen und Maschinenkreischen, und in das hölzerne Joch des primitiven Landwirts gezwungen, schleppt die Elektrizität wutschnaubend den furchenziehenden Pflug.

Dieser Lärm, dieses lebendige Atmen der Maschinen in der Mittagsträgheit der heißen Felder macht einen erschütternden Eindruck: es ist eine Verschwörung gegen die alten Berge, gegen die Moscheen, den mohammedanischen Himmel, gegen das Nichtstun, die Demut und lässige Armut.

So lange schon hat man diesen Ruß nicht mehr gespürt, diese warmen lebendigen Maschinen nicht gehört. Eine graue Backsteinfront, ein geschwärzter Türrahmen – ist’s ein Wunder? Man wähnt sich in Petrograd, in Kronstadt, in den Betrieben der Wyborger Vorstadt.

Es wird einem unheimlich zumute, eine brennende Freude steigt auf: gleich wird aus diesen niedrigen Toren die vertraute Menge herausströmen und vielleicht – auch der große Verschwörer selbst, der in diesem staubigen Kabultal die Zukunft schmiedet …

Nach den afghanischen Beamten, nach den überaus freundlichen Ausländern, nach den korrekten Engländern, die für uns stets das korrekteste Lächeln in Bereitschaft haben, jenes Lächeln, das die Gesichter wie die Spitzen von Gewehrgeschossen durchschneidet, möchte man wieder Fabrikluft atmen, den reinen proletarischen Hass einsaugen. Ich kann den dicken Fettwanst nicht begreifen, der schon lange vor uns steht, Verbeugungen macht und die Hand an jene Stelle drückt, wo unter Fettwülsten und Flanellschichten das Herz sein müsste.

Es ist der Direktor der Fabrik. Man begrüßt sich, verneigt sich, erkundigt sich zuvorkommend nach dem gegenseitigen Gesundheitszustand: wie geht es Ihnen, fällt Ihnen die Fleisch- und Fettmasse nicht zur Last, die zu tragen Sie verurteilt sind. Nein, nein, Gott sei Dank. Ein Aufseher vertreibt ein Häuflein von Arbeitern mit einem Stock aus unserer Nähe.

In den ersten Lagerräumen herrscht noch das Dorf, der Viehhof. Burschen sitzen auf dem Lehmboden und verteilen die Wolle in schwarze, braune und weiße Häuflein. Das sind keine Arbeiter, es sind Tagelöhner, die heute in der Fabrik sind, morgen bei der Ernte und übermorgen bei den Wegebauarbeiten mitmachen. Kinder landloser Bauern, die die Fabrik einige Wochen verwerten und dann wie Schlacke hinauswerfen wird, ohne ihnen ein professionelles Gepräge aufzudrücken, höchstens die gelbe Blässe und die Krätze.

Im Haus der Maschinen (das ist nämlich die genaue Übersetzung des afghanischen Wortes «Maschin-Chane») werden sie nicht über den Vorhof und die Säuberungsarbeiten hinauskommen. Der Aufseher peitscht ihre nackten Rücken, als wären es Esel, die unter einem Baldachin von Gemüsegrün auf ihrem Rücken phlegmatisch einhertrotten.

Aber schon die Berührung der ersten Maschine vernichtet das patriarchalische Lebensgepräge. Die Zinken der Maschinen durchkämmen die zerzauste Wolle und mit dieser auch die Nerven, die Muskeln und die Form des Bauernlebens. Das heiße Atmen des Dampfes hetzt die weichen weißen Wollflocken durch die Luft. Wie Morgentau und winterliches Spitzengewebe hängen sie an Dachsparren und Mauern. Schwalben tragen diese Flocken, die ihren Feldgeruch schon verloren haben, in ihre Nester. Ein Staub von kurzen weißen Härchen, der Wollstaub, verschüttet die Lungen der Arbeiter. Blutleere Gesichter, schweißüberströmt, in den Kreislauf der Transmissionsriemen sinnlos eingeschlossen. Menschen, die von der ersten Maschine verschluckt und verdaut werden. Und je komplizierter die Apparate, die die Wolle bearbeiten, sie zu Fäden spinnen und dann zu weichen breiten Bändern, desto furchtsamer werden die Gesichter der Bauern und Hirten, die diesen unverständlichen Alpdruck von Maschinen bedienen müssen.

Eine beißende Karikatur dieses Bild: ein bis zum Gürtel nackter, von tropischer Hitze und künstlichem Flug der Maschinen verdorrter, ergrauter Arbeiter reinigt mit seiner Sichel die große Weberspule von den Resten der Fäden. Über ihm steht der dicke Direktor, der unwahrscheinlich, unanständig dick und so falten- und fettreich ist, dass in den Wülsten seines Bauches einmal beim Baden ein Frosch stecken geblieben und erstickt ist, dessen Anwesenheit erst einige Tage später sich durch den unangenehmen Geruch bemerkbar machte. Wie viele Generationen von Arbeitern werden noch in den Wülsten des östlichen Fetts lebendig verwesen müssen, bis dieser Fettklumpen seinerseits als Düngemittel seine Bestimmung erfüllen wird.

Ein anderes Bild. An der Wand steht ein Apparat, der die Festigkeit des Gespinstes misst. Die Fäden werden unter stetig zunehmender Belastung zerrissen. Ein großes Ziffernblatt zeigt mit sachlichen englischen Buchstaben das Wort «Manchester» an, und gleich daneben ist der Kopf eines Alten, in weißem Turban, dessen Augen so dunkel und tief sind wie die Löcher, die manches Getier in die dürre Erde der Gräber bohrt. Er beobachtet die Fäden, die sich strecken, zittern und reißen; man hat ihn gelehrt, Ziffern zu unterscheiden, die Bewegung des sich im Kreise drehenden Pfeiles zu verfolgen. Aber wann werden diese durch den Wollstaub geröteten Augen das magische Wort, den Namen der großen Industriestadt verstehen, wann werden sie den geheimnisvollen Gruß erfassen, den diese Maschine von dort, aus der Metropole des Maschinenreichs und der Ausbeutung in diese Wüste sendet – einen Gruß aus jenem Lande, wo Arbeit und Kapital auf Tod und Leben ringen!

«Manchester» – das bedeutet: wir werden siegen. «Manchester» – das heißt: verzweifle nicht, wir, deine Brüder, werden dir zu Hilfe kommen, nach fünfzig, hundert, vielleicht nach zweihundert Jahren – aber unsere Hände werden sich begegnen. Und die Maschine flüstert tückisch: «Nun ja, nun ja», obwohl sie niemand hört und niemand ihre Sprache hier verstehen kann.

Die Maschine ist eine grausame Erzieherin. Aus hundert sie bedienenden...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2024
Vorwort Steffen Kopetzky
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte 20er Jahre • 20. Jahrhundert • Arbeiterkampf • Berichterstattung • Deutsche Geschichte • Deutschland • erste deutsche Republik • Geschichte • Gesellschaft • Goldene Zwanziger • Hamburger Aufstand • Harald Jähner • Hindenburg • Historische Bücher • Klassenkampf • Kommunismus • Kulturgeschichte • Larissa Reissner • Linke • Rechte • Reportage • Sachbuch Geschichte • Sowjetunion • Sozialismus • Weimarer Republik • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-644-02000-0 / 3644020000
ISBN-13 978-3-644-02000-9 / 9783644020009
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