Posttraumatische Souveränität (eBook)

Ein Essay
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2023 | 1. Auflage
184 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77686-5 (ISBN)

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Posttraumatische Souveränität -  Jaros?aw Kuisz,  Karolina Wigura
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Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die alte mitteleuropäische Angst zurück: Opfer der Großmächte zu werden. Anders als in Deutschland, von dessen Boden zwei Weltkriege ausgegangen sind, gab es in Warschau, Tallinn und anderswo kein Zögern. Nur wer selbst angegriffen und, wie Polen, sogar einmal ganz von der Landkarte getilgt wurde, versteht, dass militärische Selbstverteidigung gerechtfertigt ist. In ihrem luziden Essay beschreiben Karolina Wigura, Ideenhistorikerin, und Jaros?aw Kuisz, Politikwissenschaftler, wie der heutige Krieg historische Traumata reaktiviert; warum Warschau eine Führungsrolle in der europäischen Verteidigungspolitik übernimmt, obwohl die Regierungspartei PiS die EU als Bedrohung der eigenen Souveränität beschwört.



Jaros?aw Kuisz ist Chefredakteur des polnischen Online-Wochenblatts <em>Kultura Liberalna</em> und Assistenzprofessor an der Universit&auml;t Warschau.

11Licht und Inspiration


Viele hatten geglaubt, das inspirierende Gefühl des Aufbruchs, das von den neuen Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa ausgegangen war, gehöre der Vergangenheit an. Manche beklagten sich sogar darüber, das Leben in der Region sei »langweilig« geworden.5 Im Jahr 1989 war dort die Hoffnung erwacht. Ostmitteleuropa wurde zugetraut, das Konzept des Liberalismus mit neuer Energie zu erfüllen und der Europäischen Union einen Schub zu geben. Die Länder der Region brachten eins nach dem anderen ihre kommunistischen Regimes zu Fall und errichteten Demokratien nach westlichem Vorbild. Ungarn und vor allem Polen galten als Paradebeispiele für einen gelungenen Systemwechsel.

Doch irgendwann Mitte der 2010er Jahre häuften sich die Hinweise auf eine Trendumkehr in Ostmitteleuropa. Die Errichtung westlicher Institutionen, die Stärkung der liberalen Demokratie und der Aufbau der Zivilgesellschaft – all diese Prozesse verloren an Dynamik, und bald tauchten in Ungarn, der Tschechischen Republik und Bulgarien der Reihe nach europaskeptische und populistische Politiker auf. Besonders schmerzhaft war der Rückschlag in Polen, das lange Zeit der Musterschüler Europas und des Westens gewesen war: Nachdem die nationalistische und populistische Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) im Jahr 122015 an die Macht gekommen war, schien Mittel- und Osteuropa für den Westen nicht mehr interessant zu sein, sieht man von einigen Populisten wie Marine Le Pen ab, die nach Budapest reiste, um mehr über illiberale Politik zu lernen. Das Licht der Region ist erloschen, und sie hat die Fähigkeit zur liberalen Inspiration eingebüßt, wie die Politikwissenschaftler Ivan Krastev und Stephen Holmes in einem vieldiskutierten Buch schrieben.6 Dann kam der Februar 2022.

Als die Welt am Morgen des 24. Februar erfuhr, dass Russland eine Invasion der Ukraine begonnen hatte, reagierte sie geschockt. Viele Vorstellungen von der Geopolitik – vom Gleichgewicht der Kräfte, von den wichtigsten Regeln, die nicht gebrochen werden dürfen, von der Friedlichkeit Europas, das seit Jahrzehnten keinen Krieg mehr erlebt hat – wurden erschüttert. Natürlich weckte der Kriegsausbruch auch in Ostmitteleuropa kollektive Furcht, und es war eine besonders tief empfundene Furcht. Doch für die meisten Bürger kamen die Ereignisse im Februar 2022 nicht überraschend. Aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer Kenntnis Russlands fühlten sie sich auf sonderbare Weise bestätigt, was es ihnen ihrer Meinung nach erlaubte, richtig einzuschätzen, was dieser Krieg bedeutete und wohin er führen konnte.

Aus Sicht sowohl der westeuropäischen Länder als auch der Vereinigten Staaten war der Großangriff eine Katastrophe für das ukrainische Volk; doch die größte Gefahr sah die westliche Öffentlichkeit darin, dass der Krieg über die Grenzen der Ukraine hinaus ausgewei13tet werden könnte, was einen globalen Konflikt auslösen würde. Diese Einschätzung untermauert die Überzeugung, die NATO-Länder müssten eine Eskalation des Kriegs durch einen unbedachten Schritt unbedingt vermeiden.7

In den Länder Ostmitteleuropas sah man das ganz anders. Die Nachbarn Russlands betrachteten den Krieg in der Ukraine nicht als isoliertes Ereignis, sondern als Teil eines Prozesses, und sahen nur eine Person, die eine Eskalation vorantrieb, nämlich Wladimir Putin. Für diese postsowjetischen Staaten war die Invasion der Ukraine ein weiterer Schritt in einer Reihe beängstigender russischer Aggressionen, die mit Putins brutalem Vorgehen im zweiten Tschetschenienkrieg begonnen hatte und sich dann in anderen Ländern wie in Georgien (2008) oder Syrien (2015) fortsetzte. In den Augen der Mittel- und Osteuropäer war es töricht anzunehmen, Wladimir Putin werde sich mit der Zerstörung der Ukraine begnügen. Sie waren seit langem überzeugt, dass Russland weiter nach Westen vorrücken und die Länder, die zum sowjetischen Machtbereich gehört hatten – ehemalige Sowjetrepubliken wie die baltischen Staaten oder Satellitenstaaten wie Polen –, eins nach dem anderen attackieren würde. Ihrer Einschätzung nach drohte eine unmittelbare Gefahr. Wie die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas sagte: »Das heutige Problem unseres Nachbarn wird morgen unser Problem sein.«8

Aus der jeweiligen Definition des Kriegs wurden die entsprechenden Prognosen und Erwartungen abgelei14tet. Während der Westen die Aufgabe darin sah, einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden, glaubte der Osten, dass der Krieg gegen den Westen mit seinen internationalen Bündnissen und vertraglich garantierten Grenzen bereits begonnen hatte, ganz gleich welchen Namen man der Aggression gab. Während der Westen beobachtete, dass ein Krieg stattfand, war der Osten überzeugt, sich bereits im Krieg zu befinden, auch wenn die Bombenangriffe auf die Städte der Region noch nicht über die Grenzen der Ukraine hinausgingen.

In dieser angespannten Atmosphäre wirkte das vorsichtige Agieren des Westens auf viele Menschen in Ostmitteleuropa wie eine Wiederholung des Scheinkriegs von 1939, als Frankreich und Großbritannien nur begrenzte militärische Schritte unternahmen und ihrem Verbündeten, Polen, nicht zu Hilfe eilten. Auch zu jener Zeit wurde die Öffentlichkeit von furchtbaren Nachrichten über die Bombenangriffe auf Warschau und andere Städte in Atem gehalten. Doch die Alliierten wollten unbedingt vermeiden, zu tief in den Konflikt hineingezogen zu werden. Ihre militärische Zurückhaltung zögerte die Ausweitung des Krieges hinaus, konnte einen Weltkrieg jedoch nicht verhindern.

Ob die Analogie angebracht ist oder nicht – wichtiger ist die Tatsache, dass sie einer tiefsitzenden, intuitiven Vorstellung davon entspricht, was als Nächstes kommen könnte. Im gesamten Jahr 2022 drängten die Länder, die Russland geographisch näher sind, auf eine harte Antwort: mehr Sanktionen gegen Russland, mehr Waffen für die Ukraine, erhöhte diplomatische 15Bemühungen um eine Beendigung des Krieges. Viele dieser Initiativen sind seither in einen umfassenderen internationalen Konsens eingeflossen. Aber die mittel- und osteuropäischen Länder würden gerne noch weiter gehen: In den vergangenen Monaten haben sich einige von ihnen für die Einrichtung einer Flugverbotszone eingesetzt9 oder, wie die polnische Regierung, sogar die Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine gefordert, und sei es auch nur im Rahmen einer Friedensmission.

Schon im März 2022 erklärte die litauische Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė, die russische Invasion sei vorhersehbar gewesen.10 Sie war nicht allein mit dieser Einschätzung. Seit Kriegsausbruch rufen die Länder Ostmitteleuropas dem Westen ihre früheren Warnungen vor der aggressiven Politik Russlands in Erinnerung. Einlassungen zu diesem Thema seitens russischer und belarussischer Dissidenten, der Ukraine, der baltischen Länder, Georgiens und vieler anderer politischer Akteure wurden von der westlichen Politik im Grunde ignoriert. Die Mittel- und Osteuropäer hatten vor den negativen Auswirkungen der Nord-Stream-Pipelines und weiterer geostrategischer Vorhaben Russlands auf die Ukraine und andere ehemalige Staaten des Sowjetimperiums gewarnt. Doch besonders die Ukraine und Polen wurden mehr oder weniger offen bezichtigt, eine »Russlandphobie« zu schüren. Es überrascht nicht, dass viele angesehene westliche Russlandexperten bis zum letzten Augenblick bestritten, Präsident Putin könne einen offenen Krieg vom Zaun brechen.

16Insofern führte der 24. Februar 2022 zweifellos zu einem politischen Durchbruch. Im Lauf der Zeit entschuldigten sich viele Politiker und Intellektuelle sogar dafür, die Warnungen nicht ernst genommen zu haben. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, äußerte besonders deutliche Selbstkritik. In ihrer Rede zur Lage der Union im Jahr 2022 sagte sie: »[E]ine Lehre aus diesem Krieg ist, dass wir auf diejenigen hätten hören sollen, die Putin besser kennen. Auf Anna Politkowskaja und all die anderen russischen Journalisten, die die Verbrechen angeprangert und dies mit dem Leben bezahlt haben. Auf unsere Freunde in der Ukraine, in Moldau, in Georgien und auf die Opposition in Belarus. Wir hätten auf die Warnrufe innerhalb der Union hören sollen – in Polen, in den baltischen Staaten und in ganz Mittel- und Osteuropa. Sie warnen uns seit Jahren, dass Putin nicht aufhören...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • edition suhrkamp 2783 • ES 2783 • ES2783 • Nationalismus • Neuerscheinungen • neues Buch • Osteuropa • Polen • Populismus • Post-sowjetisch • Rechtspopulismus • Secondhand-Zeit • Sowjetunion • Staat • Trauma • Ukraine • Ungarn • Wladimir Putin
ISBN-10 3-518-77686-X / 351877686X
ISBN-13 978-3-518-77686-5 / 9783518776865
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