Für Sorge (eBook)
288 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46831-9 (ISBN)
Jo Lücke, geboren 1983, ist freiberufliche Trainerin und Speakerin im Bereich Equal Care und Mental Load. Sie ist Leitungsmitglied der »Initiative Equal Care Day«, die sich für eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit einsetzt. In Zusammenarbeit mit der Initiative erschien 2019 der erster Mental-Load-Selbsttest, den sie entwickelte. Zuvor studierte Jo Lücke Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Mannheim und Baltimore und war u.a. bereits als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Texterin und Wissenschaftslektorin tätig. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Mehr zu ihrer Arbeit auf: www.joluecke.de
Jo Lücke, geboren 1983, ist freiberufliche Trainerin und Speakerin im Bereich Equal Care und Mental Load. Sie ist Leitungsmitglied der »Initiative Equal Care Day«, die sich für eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit einsetzt. In Zusammenarbeit mit der Initiative erschien 2019 der erster Mental-Load-Selbsttest, den sie entwickelte. Zuvor studierte Jo Lücke Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Mannheim und Baltimore und war u.a. bereits als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Texterin und Wissenschaftslektorin tätig. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Mehr zu ihrer Arbeit auf: www.joluecke.de
Einleitung
Wenn ein Kind in das Leben zuvor kinderloser Menschen tritt – sei es durch Geburt, Adoption, Pflege oder Leihelternschaft –, verändert sich einiges. Doch während werdende Eltern sich intensiv mit Babypflege, Windelfragen, unbedenklicher Wandfarbe und moderner Erziehung befassen, sind sie in den allermeisten Fällen nicht darauf vorbereitet, was der plötzliche Anstieg an zu erledigender Care-Arbeit mit ihnen als Paar macht und welche Herausforderungen ihnen dabei heute begegnen.2
Das Elternsein ist der Philosophin L.A. Paul zufolge eine »transformative Erfahrung«.3 Das bedeutet, man muss es erlebt haben, um es zu verstehen. Es verändert die Lebenswelt einer Person so radikal, dass empathisches Einfühlen und der Verstand nicht ausreichen, um es begreiflich zu machen. Deswegen ist (noch) kinderlosen oder kinderfreien Menschen auch so schwer zu vermitteln, was es heißt, einige Jahre lang nicht durchzuschlafen, und wie angespannt die Nerven manchmal sein und wie sehr Kinder ihre Eltern mit Problemen aus der eigenen Kindheit konfrontieren können, von deren Existenz sie zuvor gar nicht wussten.
Auch sonst haben Eltern plötzlich sehr viel weniger unter Kontrolle als vorher. Kitakinder haben zwischen November und März eine Erkältung nach der anderen und Magen-Darm-Infekte und Scharlach machen keinen Halt vor Mama oder Papa. Kaum sind die Kleinen dann wieder gesund, reißt aufgrund von Erkrankungen der Erzieher*innen die viel zu dünne Personaldecke der Kitas und die Öffnungszeiten werden eingeschränkt. Und wer denkt schon im Voraus daran, dass diese Schließzeiten in manchen Fällen eine wochenlange Abwesenheit eines Elternteils vom Arbeitsplatz bedeuten und so Karrieren den Bach runtergehen können? Oder dass Arbeitgeber*innen genau solche Fehlzeiten prognostizieren und den aus der Elternzeit Zurückkehrenden keine wichtigen Projekte mehr geben. Oder dass der Erwartungsdruck im Job so groß werden kann, dass man freiwillig auf Karriereschritte oder Positionen verzichtet, weil sonst die Care-Arbeit zu Hause nicht mehr zu schaffen wäre. Oder dass einem der geistige Freiraum fehlt, weil die Belastung durch die Familienorganisation alle vorhandenen Kapazitäten belegt. Es wird auch wenig daran gedacht, dass rund vierzig Prozent der Ehen in Deutschland wieder geschieden werden.
Zweifelsohne: Kinder beim Aufwachsen zu begleiten macht unheimlich viel Freude und erweitert den eigenen Horizont in einzigartiger Weise. Auch das ist Teil der transformativen Erfahrung, die vorher unmöglich zu erklären ist. Hier eine Balance zu finden zwischen berechtigter Vorfreude und berechtigter Skepsis ist eine schwierige Übung in Ambiguitätstoleranz.
Kinder zu haben ist wunderschön und Kinder zu haben ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. Dabei ist verständlich, dass man über Letzteres weniger gerne nachdenken möchte und dass in einer Situation, aus der es kein gesellschaftlich akzeptables Zurück mehr gibt, der Fokus eher auf die positiven Aspekte gerichtet und die Wahrnehmung optimistisch verzerrt wird.
Wer den Filter rausnimmt und äußert, dass er oder sie schon Respekt hat vor den Herausforderungen, wird schnell verdächtigt, sich nicht ausreichend zu freuen. Der soziale Druck, Elternschaft unvoreingenommen zu begrüßen, ist groß. Dabei sollten wir alle stärker differenzieren. Es ist möglich, sich unvoreingenommen auf ein Kind zu freuen und Elternschaft dennoch mit einem gewissen Argwohn zu betrachten. Das Gefühl im Hinblick auf das Kind muss nicht das Gleiche sein wie im Hinblick auf die Situation von Eltern und Familien in unserer Gesellschaft. Zu erwarten, dass sich beide Gefühle niemals überlagern dürfen, ist Teil des Problems.
Denn die Care-Arbeit, die mit dem Kinderhaben notwendigerweise einhergeht, fordert einen Tribut, und es ist niemandem geholfen, dies zu verschweigen oder zu beschönigen. Im Gegenteil: Sich der strukturellen Nachteile und Kosten bei der Übernahme von Care-Verantwortung bewusst zu werden ist der erste Schritt, um innerhalb einer Beziehung auf Augenhöhe gleichberechtigte Elternschaft – Equal Care – zu verhandeln. Dabei zu erfahren, wo die Grenzen des eigenen Wirkungsbereichs sind und wo äußere Bedingungen dazu führen, dass jede noch so große Anstrengung im Sande verlaufen wird, entlastet unsere Beziehungen.
Denn wir haben uns das alles eben nicht selbst ausgesucht.
Freiheit, Autonomie und Eigenverantwortung sind als politische Schlagworte Nebelkerzen, die verschleiern, dass wir uns in einer Realität bewegen, in der soziale Praktiken so verfestigt sind, dass diese sich als Strukturen etabliert haben. Obwohl unsere Wirklichkeit, unser Blick auf die Welt und unser gesellschaftliches Zusammenleben das Ergebnis menschlichen Handelns sind, liegen die geschaffenen Strukturen nicht mehr in unserem unmittelbaren Einflussbereich.
Gleichzeitig müssen wir Normen und Werte als konstruiert und damit wandelbar begreifen, um daran glauben zu können, dass wir unsere Realität verändern können. Diese Annahme ganz oder zumindest weitgehend zu teilen, ist die Voraussetzung dafür, aus dem vorliegenden Buch etwas mitnehmen zu können. Gleichzeitig wäre es ein Fehler, diese Übereinkunft so zu verstehen, als könne jede und jeder sich die Welt machen, was ihr oder ihm gefällt. Dass wir jederzeit und in jeder Hinsicht freie Entscheidungen treffen, die unseren persönlichen Präferenzen entsprechen, ist ein Mythos.
Denn wie frei sind Entscheidungen in einer Welt, in der beispielsweise kinderfreie Frauen4 als Sonderlinge wahrgenommen werden und einen gesellschaftlichen Abstieg erleben? Wie frei ist die Entscheidung eines Mannes, der für die Übernahme von Care-Arbeit von Freund*innen und Kolleg*innen beschämt wird, und deshalb nach der Geburt des Kindes doch lieber keine Elternzeit nimmt? Mütter werden überproportional häufig als Verantwortliche für Haushalt und Ordnung wahrgenommen. Ist es also eine freie Entscheidung, wenn sie unbedingt noch putzen müssen, bevor der Besuch kommt? Mit kleinen Jungen wird weniger über Gefühle geredet und sie kennen weniger Worte für Emotionen als Mädchen. Sind sie also selber schuld, wenn sie später in der Partnerschaft emotional nicht erreichbar sind?
Besonders wenn wir unter Druck stehen und schnell reagieren müssen, greift das Gehirn auf Verhaltensweisen zurück, die unmittelbar verfügbar sind. Anstelle reflektierter, bewusster Entscheidungen bestimmt der am stärksten ausgeprägte Trampelpfad im neuronalen Netzwerk, welcher Weg eingeschlagen wird. Zwischen Schlafmangel und Windeleimer bleibt keine Zeit für große Überlegungen: »Was hat meine Mutter damals gemacht? Sie war Tag und Nacht für das Kind da und ist später in Teilzeit gegangen, um alles zu schaffen. Ja, das war in allen Kinderbüchern genauso, alle Mütter machen das, auch die in der Werbung, jetzt bin ich Mutter, jetzt mach ich das auch, so macht man das, wenn man Mutter ist!« Oder: »Was hat mein Vater damals gemacht? Er hat sich auf die Beförderung beworben und noch mehr gearbeitet, um seinen Teil beizutragen. Ja, das war in allen Kinderbüchern genauso, alle Väter machen das, auch die in der Werbung, jetzt bin ich Vater, jetzt mach ich das auch, so macht man das, wenn man Vater ist!«
Diese Bilder sitzen in den meisten Köpfen fest. Selbst wenn das Elternhaus nicht vollständig dem Klischee entsprach, hinterlassen Großeltern, Nachbar*innen oder Freund*innen, Schulen, Kinderbücher und Werbestrategien immense Spuren. Wer gegen den Strom schwimmt, muss Durchhaltevermögen mitbringen – nicht zuletzt auch aufgrund eines Systems, das mit dem Ehegattensplitting ungleich verteiltes Einkommen honoriert, das eine »Mütterrente« kennt, aber keine »Väterrente«, und das die 40-Stunden-Woche als Normalarbeitszeit ansetzt. Ein System, in dem die rentenrelevante Kindererziehungszeit lediglich drei Jahre beträgt und das seit Jahren im professionellen Care-Bereich wie Pflege und Pädagogik kürzt und spart und spart und kürzt. Es braucht eine bewusste Investition von Zeit und Kapazitäten, um dagegen anzugehen.
Die Interpretation struktureller Zwänge und Differenzen zwischen den Geschlechtern als natürlich und damit unveränderlich oder aber als das Ergebnis individueller Präferenzen ist da einfacher. Genau diese widersprüchlichen Interpretationen sind es, die sich niederschlagen in einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das eine Hierarchie zwischen Lohnarbeit und Care-Arbeit und zwischen Männern und Frauen beinhaltet. Dieses System wird auch »Patriarchat« genannt, was sich aus dem Griechischen ableitet und »Herrschaft der Väter« bedeutet.
Wir alle sind das Patriarchat, weil wir darin sozialisiert wurden, und zugleich ist es außerhalb von uns, weil es tatsächlich nicht in unseren Genen liegt. Soziale Praktiken sind so etabliert, dass sie den Eindruck unveränderlicher Gesetzmäßigkeiten vermitteln, obwohl in Wirklichkeit jede Generation neu lernt, was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau, ein Vater oder eine Mutter zu sein.5 Daher der feministische Slogan »Unlearn patriarchy« statt »Smash the patriarchy«:6 Wir müssen alte Praktiken verlernen und neue einüben, um die Gesellschaft zu verändern. Die gute Nachricht ist: Das ist möglich. Indem wir uns in der Wahrnehmung internalisierter Bilder üben und immer wieder an die soziale Konstruktion und damit die Veränderlichkeit der Bilder erinnern, kann es gelingen, sich davon zu befreien. Die schlechte Nachricht ist: Die inneren und äußeren Herausforderungen und Hürden dabei sind größer, als die meisten von uns erwarten würden.
Eine solche Hürde ist, dass die...
Erscheint lt. Verlag | 12.1.2024 |
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Zusatzinfo | evtl. Grafike, Statistiken, info-Boxen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | Alltags-Stress • Altersvorsorge • Arbeitsaufteilung • Arbeitsteilung • Arbeitsteilung Eltern • Arbeitsteilung in der Familie • Beziehung • Care-Arbeit • Chancengleichheit • Ehevertrag • Eltern Arbeiten Aufteilung • Elternführerschein • Elterngeld • Eltern nach der Geburt • Elternratgeber • Elternrolle • Elternschaft • Elternzeit • Equal Care • Familie • Familienalltag • Familienarbeit • familienfreundlich • Familienleben • Familienorganisation • Geburt • Gender care gap • Gender Pay Gap • geschlechterklischees • gleichberechtigte Elternschaft • Gleichberechtigt Eltern sein • gleichberechtigte Partnerschaft • Gleichberechtigung • Haushalt • Kinder • kind und karriere • Lohnarbeit • mentale Last • Mental Load • Mütter • Mutterrolle • Paar • Paarvertrag • Partnerschaft • Ratgeber • Ratgeber Familie • Ratgeber für Eltern • Rollenklischees • Selbstmanagement • Sorgearbeit • Sorge-Arbeit • Stress • unbezahlte Arbeit • Väter • Vaterrolle • Vereinbarkeit • Vereinbarkeit Familie und Beruf • Vereinbarkeitslüge • Zeitmanagement |
ISBN-10 | 3-426-46831-X / 342646831X |
ISBN-13 | 978-3-426-46831-9 / 9783426468319 |
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Größe: 1,4 MB
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