Der stärkste Stoff (eBook)
272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30362-9 (ISBN)
Norman Ohler, 1970 geboren, ist der Autor von vier von der Presse gefeierten Romanen und zwei Sachbüchern. Sein erster Roman »Die Quotenmaschine« erschien 1995 zunächst als Hypertext im Netz und gilt als weltweit erster Internet-Roman. »Mitte« (2001) und »Stadt des Goldes« (2002) komplettieren seine Metropolentriologie. 2015 erschien »Der totale Rausch« über die kaum aufgearbeitete Rolle von Drogen im Dritten Reich. Es wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und stand auf der Bestsellerliste der New York Times. Paramount hat eine Option auf die Filmrechte erworben. 2017 erschien Ohlers historischer Kriminalroman »Die Gleichung des Lebens«, der mit lebendigem Zeitkolorit das 18. Jahrhundert wiederauferstehen lässt.
Norman Ohler, 1970 geboren, ist der Autor von vier von der Presse gefeierten Romanen und zwei Sachbüchern. Sein erster Roman »Die Quotenmaschine« erschien 1995 zunächst als Hypertext im Netz und gilt als weltweit erster Internet-Roman. »Mitte« (2001) und »Stadt des Goldes« (2002) komplettieren seine Metropolentriologie. 2015 erschien »Der totale Rausch« über die kaum aufgearbeitete Rolle von Drogen im Dritten Reich. Es wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und stand auf der Bestsellerliste der New York Times. Paramount hat eine Option auf die Filmrechte erworben. 2017 erschien Ohlers historischer Kriminalroman »Die Gleichung des Lebens«, der mit lebendigem Zeitkolorit das 18. Jahrhundert wiederauferstehen lässt.
Von der Farbe zur Medizin
Die Auseinandersetzung zwischen Ost und West um die Drogen verschärfte sich, als eine neue Art von Substanzen in das Bewusstsein der Menschen trat. Waren es vorher entweder stimulierende oder betäubende Mittel gewesen, deren Nutzung und Regulierung die Gesellschaft vor Probleme stellten und Giuliani durch die Trümmer Berlins hasten ließen, entstand eine dritte Klasse, deren Handhabung noch schwieriger war – und im Laufe der Jahre immer umstrittener. Anders als Amphetamine oder Opiat-haltige Mittel, bei denen das Verhältnis zwischen medizinischer Nutzung versus gesundheitlicher Gefahren wie Abhängigkeit oder körperlichem Verschleiß begriffen scheint, hält diese neue Gattung ungekannte Herausforderungen für Ärzte, Therapeuten, Medikamentenentwickler, den Gesetzgeber – und nicht zuletzt für ihre Konsumenten parat. Es handelt sich um die sogenannten psychedelischen Mittel wie LSD oder Psilocybin, die in unserer Gegenwart eine Renaissance erleben und die Aktienkurse der Firmen, die sich damit beschäftigen, ebenso steigen lassen wie die Hoffnungen jener, die sich Linderung versprechen für bislang kaum heilbare Krankheiten wie Demenz, Depression oder Angststörungen. Auch diese Substanzen, um deren Umgang bis heute in steigendem Maße gerungen wird, fallen unter jene Jurisdiktion, die Giuliani und sein Boss Anslinger vorbereiteten. Anders als der Hanf, dessen weltweite Legalisierung bevorsteht, sind jene stark auf den menschlichen Geist wirkenden Stoffe noch immer von Tabus umrankt, der Diskurs von Furcht und Desinformation bestimmt. Dabei liegen gerade in ihnen die größten Heilpotenziale.
So stieß ich auf ein White Paper des amerikanischen Start-ups Eleusis, das es sich zur Aufgabe macht, »Psychedelika in Medizin zu verwandeln«.[35] Klinische Anfangsstudien des Imperial College in London zeigen, dass LSD jene Rezeptoren im Gehirn aktiviert (die sogenannten 5HT2A-Rezeptoren), die durch die Alzheimer-Krankheit verkümmern. Als ich dies las, wurde ich hellhörig, denn es ging mich auch persönlich an, da meine Mutter an dieser verschärften Form der Demenz leidet. Das Gehirn, das Alzheimer in einen allmählichen Todesschlaf versetzt, so behauptet der 2020 erschienene Bericht, wird möglicherweise durch kontinuierlich verabreichtes LSD in niedrigen Dosierungen wieder wach geküsst. Auch wenn umfangreiche Testreihen noch ausstehen, gebe es Hinweise, dass die Substanz »ein vielversprechendes krankheitsveränderndes Therapeutikum« für Alzheimer darstelle.[36] Nachweislich wird das neuroplastische Wachstum (die Vernetzung des Gehirns) gefördert und die Neuro-Entzündlichkeit reduziert, die für Demenzerkrankungen mitverantwortlich gemacht wird.
Der Ursprung für die potenteste Spielart dieser neuen Stoffklasse, ebenjenes LSD, lag kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs. Damals kam es beim Wiederaufbau Europas zu einem gesteigerten Hunger nach Farben: All das, was in Schutt und Asche lag, sollte wieder hergerichtet und frisch angepinselt werden. Neu erstrahlen sollte die Welt, bunt sein, und die Uhren standen günstig für die chemische Industrie in Basel, einer zentral positionierten Stadt, die vom Krieg verschont geblieben war, da sich die Schweiz neutral verhalten hatte. Sandoz, ein Farbenhersteller in französisch-schweizerischem Familienbesitz, verdiente an der verstärkten Nachfrage gut und investierte in einen pharmazeutischen Strang, da man dort noch größere Wachstumschancen sah. Tatsächlich war die Entwicklung von der Farben- zur Medikamentenherstellung eine progressive. Um die Jahrhundertwende hatten Firmen in Deutschland chemische Farbstoffe entwickelt, die auch medizinisch Verwendung fanden, sogenannte Thiazine, Verbindungen aus Kohlenstoff, Stickstoff und Schwefel, die sedierend wirkten. Manche Farben hatten auch antibiotische Effekte, das sogenannte Trypanrot wurde gegen die Schlafkrankheit eingesetzt, Methylenblau gegen Malaria.
Ökonomisch sinnvoll schien der Entschluss in jedem Fall, von Farben zu Arzneimitteln zu expandieren: Krank würden die Menschen immer werden, zumal nach einem Weltkrieg mit seinen mannigfaltigen Spätfolgen. Auch würde es immer mehr Menschen geben, denen Geld für Arzneimittel zur Verfügung stand. Die goldenen Jahre der pharmazeutischen Industrie brachen an, und einer ihrer Pioniere und unfreiwilliger Urvater der bewusstseinsverändernden Substanzen hieß Arthur Stoll, eine schillernde Figur, die manche als »Monster« bezeichneten, andere als Wohltäter und Mann mit »Gemeinschaftssinn«.[37]
Arthur Stoll kam 1887 in einem Schweizer Weindorf namens Schinznach zur Welt. Mit 22 Jahren traf er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich auf den Wissenschaftler Richard Willstätter, einen Begründer der Biochemie, der für seine Arbeiten über Pflanzenfarbstoffe den Nobelpreis für Chemie erhielt – ein Glücksfall für den talentierten jungen Stoll. 1912 folgte er seinem Mentor an das neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie nach Berlin, wo auch Otto Hahn forschte, dem später dort die erste Kernspaltung gelang. 1916 zogen Willstätter und Stoll an die Ludwig-Maximilians-Universität München weiter, wo der 30-jährige Stoll von König Ludwig III. zum Königlich-Bayrischen Professor auf Lebenszeit berufen wurde. Aber den Überflieger interessierten Lehre und Grundlagenforschung weniger als die praktische Entwicklung von Medikamenten, die akademischen Weihen nicht so sehr wie der Profit in der boomenden Arzneimittelindustrie. Zu Willstätters Überraschung verließ ihn sein bester Schüler im Triumphmoment der frühen Professur und kehrte in die Schweizer Heimat zurück, wo er bei Sandoz die neue Pharmasparte aufbauen sollte – eine einzigartige, herausfordernde Aufgabe.[38] »Das Laboratorium, das ich am 1. Oktober 1917 als leeren Raum ohne irgendwelche Installationen und Möblierung übernahm, war mit Glaswaren und anderen Apparaten aufs denkbar einfachste eingerichtet«, beschrieb Stoll die bescheidenen Anfänge seines Start-ups.[39]
Im Labor von Richard Willstätter in Berlin 1913 – links Assistent Arthur Stoll
Wie würde er die Firma ausrichten, um rasch ein erfolgreiches Medikament auf den Markt zu werfen, die Investoren zufriedenzustellen und das ihm entgegengebrachte Vertrauen zu rechtfertigen? Stoll beschloss, ungewöhnliche Wege zu gehen, alles auf eine Karte zu setzen. Er war der Überzeugung, dass sich der Farbenhersteller Sandoz auf dem »neuen Gebiet auf die Dauer nur werde einführen und durchsetzen können, wenn wir Pionierarbeit leisten und uns nicht einfach damit begnügen, Präparate der Konkurrenz nachzuahmen«.[40] Während andere Firmen in der synthetischen Chemie die Zukunft sahen, baute Stoll auf die Naturstoffforschung, die Entschlüsselung der Pflanzenwelt, um aus natürlichen Verbindungen innovative Medikamente zu gewinnen – eine Art Bioansatz, den er bei Willstätter gelernt hatte – und der dem auf Künstlichkeit setzenden Fortschrittsglauben des frühen 20. Jahrhunderts konträr lief. Stoll aber liebte mutige Entscheidungen.
Welche noch weitgehend unerforschte Pflanze versprach binnen kürzester Zeit ein Return-on-Investment? Sein Augenmerk galt einer als heikel bekannten Substanz, an der andere Naturchemiker gescheitert waren: »Aus manchen Drogen pflanzlicher Herkunft waren die reinen Wirkstoffe wie Morphin, Strychnin, Chinin, Coffein und viele andere bereits bekannt. Noch unklar, ja völlig in Dunkel gehüllt, waren die Kenntnisse über die Natur und die chemische Beschaffenheit der Wirkstoffe des Mutterkorns, das schon durch seine eigenartige Herkunft als Produkt eines Fadenpilzes unter den Arzneidrogen eine Sonderstellung einnimmt«, wie Stoll es beschrieb.[41]
Mutterkorn ist ein merkwürdiges Gewächs, ein purpurner, parasitärer Getreidepilz, auch als Roter Keulenkopf bekannt. Im Mittelalter waren die Sklerotien des claviceps purpurea gefürchtet: harte Geflechte aus Pilzfäden, die bevorzugt Roggen befallen. Wurden jene leicht gekrümmten, keulenförmigen »Wolfszähne« von bis zu sechs Zentimetern Länge, die sich anstelle eines Korns entwickelten, nicht vor dem Getreidemahlen weggesiebt, konnte dies zu Brotvergiftungen führen, die in apokalyptischen Szenarien ausarteten, Massenpsychosen hervorriefen, ganze Landstriche in Schrecken versetzten. Der Konsum von Mutterkorn löste eine Krankheit aus, die als Antoniusfeuer bekannt wurde, zum Zusammenziehen der Blutgefäße führte, mit dem Resultat des Abfallens von Gliedmaßen wie Fingern und Zehen.[d] Mitunter wurde das Leiden sogar mit der Pest verwechselt. »Es wütete eine große Plage mit Anschwellungen und Blasen unter dem Volke und raffte es durch eine entsetzliche Fäulnis hinweg, sodass Körperglieder sich ablösten und vor dem Tode abfielen«, heißt es in einem überlieferten Bericht zu einer Massenvergiftung durch Mutterkorn, die sich im Jahr 857 am Niederrhein zugetragen hatte.[42] Auch fürchterliche Halluzinationen rief das Gewächs hervor. Die Gemälde von Hieronymus Bosch oder Joes van Craesbeecks »Die Versuchung des Heiligen Antonius« zeugen von solchen Ausbrüchen: explodierende Schädel, aus denen Albträume entweichen, kurios mutierte Insekten, die in Münder kriechen, laszive nackte Mischwesen in bizarren Landschaften, abgetrennte Füße und bizarr...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2023 |
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Zusatzinfo | 10 s/w-Fotografien und -Dokumente |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Acid • Bewusstseinskontrolle • depression therapie • Der totale Rausch • Deutschland • Drogen • Drogenmissbrauch • Drogenpolitik • Europa • Fakten-Recherche • Halluzinogene • LSD • Psilocybin • psychedelische Substanzen • Recherche • staatliche Behörden • USA |
ISBN-10 | 3-462-30362-7 / 3462303627 |
ISBN-13 | 978-3-462-30362-9 / 9783462303629 |
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Größe: 8,5 MB
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