Tausend Aufbrüche (eBook)
400 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-25452-0 (ISBN)
»Christina Morina nutzt bisher wenig beachtete Quellen, um zu zeigen, wie unterschiedlich sich das Demokratieverständnis in Ost- und Westdeutschland seit den 1980er Jahren entwickelt hat. Morina liefert mit diesem Buch überraschende und notwendige Impulse für die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen. Ihr Buch riskiert viel, ohne zu polarisieren - Demokratie ist Prozess, kein Zustand.« (Aus dem Urteil der Jury)
Die Ost-West-Debatte der Deutschen ist oft von gegenseitigem Unverständnis und Zuspitzungen geprägt. Christina Morina vermeidet die übliche Frontenbildung und rückt - anhand vieler bisher unerforschter Selbstzeugnisse wie Bürgerbriefe, Petitionen und Flugblätter - die Demokratievorstellungen und das Selbstverständnis ganz normaler Bürgerinnen und Bürger in Ost und West seit den 1980er Jahren in den Fokus. Indem die Autorin die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik und die Demokratieanspruchsgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik miteinander verzahnt, kann sie maßgebliche Unterschiede und wechselseitige Bezüge im Staats- und Politikverständnis herausarbeiten.
Dabei entsteht ein differenziertes Bild: Viele Bewohner der DDR identifizierten sich mit ihrem Land und dessen »volksdemokratischen« Idealen, blieben dem Staat und seinen Institutionen gegenüber jedoch skeptisch. Diese Staatsferne gepaart mit einem oft provinziell-utopischen Bürgersinn, dessen Potentiale nach der Vereinigung weitgehend ungenutzt blieben, wirkt bis heute nach. Im Zusammenspiel mit einem wiedererstarkenden Nationalismus im Westen entstand so nicht zuletzt auch der Nährboden für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Christina Morinas Buch offenbart die Grenzen der westdeutschen Liberalisierung ebenso wie die Vielfalt der ostdeutschen Demokratieaneignungsversuche - ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der gegenwärtigen prekären Lage der Demokratie.
Christina Morina ist seit 2019 Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus, in der politischen Kulturgeschichte des geteilten und vereinigten Deutschlands sowie in dem Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis. Christina Morina studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik an den Universitäten Leipzig, Ohio und Maryland (USA) und wurde 2007 mit einer Arbeit über den Krieg gegen die Sowjetunion in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur promoviert. Sie war von 2008 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2017 erschien bei Siedler »Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte«. Für »Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren« erhielt sie 2024 den Deutschen Sachbuchpreis.
Zuletzt bringt mir die freundliche Archivarin noch zwei unscheinbare Pappkartons. »Aufbau demokratischer Strukturen. Initiativen und Verbände ab Herbst 1989 (Informationsmaterial)« steht darauf, und nichts deutet auf die demokratische Wucht hin, die einem entgegenschlägt, sobald man die beiden Deckel öffnet. Fein sortiert von A wie Aktion Pleiße ans Licht, Leipzig bis Z wie Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e. V., Bremen, finde ich darin Hunderte von Flugblättern, Briefen, Konzeptpapieren und Demozetteln aus den Monaten rund um den Mauerfall. Sie sind von Initiativen verfasst worden, die sich Aufbruch 90, Bewegung »Wissen für das Volk« oder Forum für direkte Demokratie nannten und diesen historischen Moment der Öffnung in ein Laboratorium des demokratischen Neuanfangs verwandeln wollten. Endlich sollte im Osten, aber keineswegs nur dort, die »wahre« Demokratie geschaffen werden. In dieser Sammlung verhandelte also eine durch und durch in Bewegung gekommene Gesellschaft Ideen für die radikale Umgestaltung ihres Alltags, ihrer Wohnviertel, Betriebe, Schulen und Kitas, ihrer Vereine, Lokalparlamente und natürlich auch der Ordnung des gesamten Landes. Ich notiere und fotografiere jedes einzelne Blatt, staune und schmunzle manchmal auch über die unbändige, demokratiehungrige Fantasie, die sich hier ausdrückt, und ich wundere mich über die vielen deutsch-deutschen Bezüge, die in der öffentlichen Verhandlung der 1989er-Revolution heute kaum mehr eine Rolle spielen. Nach dem Verschließen der Kartons steige ich die weite Treppe im Leipziger »Haus der Demokratie« hinab – ein Haus, das seinen Namen erkämpft und verdient hat und zugleich die Autorität eines altehrwürdigen Gymnasiums ausstrahlt – und denke: tausend Aufbrüche![2]
Dieses lebendige Denkmal der Revolution von 1989 steht in einem Landstrich, in dem nun ausgerechnet die in Teilen rechtsradikale Partei Alternative für Deutschland (AfD) bei der letzten Bundestagswahl vom Herbst 2021 mit 24,6 Prozent zur stärksten Kraft geworden ist. Auch in Thüringen erhielt sie die meisten Stimmen (24 Prozent), während sie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit rund 18 Prozent als zweitstärkste Partei und in Sachsen-Anhalt mit 19,6 Prozent knapp hinter der CDU als drittstärkste Kraft aus den Wahlen hervorging. Die AfD hat also in allen ostdeutschen Bundesländern jeweils mindestens ein knappes Fünftel der abgegebenen Wählerstimmen erhalten. Wie schon 2017 ist die politische Landkarte Ostdeutschlands flächendeckend blau bis tiefblau eingefärbt, während die AfD im Westen im Durchschnitt »nur« etwa 10 Prozent der Stimmen erhalten hat. Ihren niedrigsten Anteil hat sie im Wahlkreis Köln II errungen (2,9 Prozent), ihren höchsten in Görlitz in Ostsachsen mit 32,5 Prozent der Stimmen. In der politischen Farbenlehre des Landes führt diese Unwucht nach Osten hin dazu, dass auf bundesdeutschen Fernsehbildschirmen anno 2021 die Umrisse von einstiger BRD und DDR noch so klar zu erkennen sind, als wäre die Mauer niemals gefallen. Im Übrigen zeigte sich die Unwucht nicht nur mit Blick auf die AfD-Wahlergebnisse, sondern auch im Abschneiden der Partei Die Linke. Deren lila eingefärbte Wahlerfolge waren – trotz starker Verluste – auch bei der neunten gesamtdeutschen Wahl in Ostdeutschland signifikant dunkler ausgeprägt als in Westdeutschland.
Was verbindet diese beiden historischen Entwicklungen – die demokratische Revolution voller positiver Aufbrüche und die überdurchschnittlich hohe Unterstützung für Rechtspopulismus und -radikalismus im selben Landstrich? Wie konnte aus der demokratischen Mobilisierung einer sich selbst befreienden Gesellschaft der Nährboden für eine antidemokratische Revolte entstehen?
Ganz offenbar haben die tausend Aufbrüche im Herbst 1989 in der deutschen Demokratiegeschichte ein sehr zwiespältiges Nachleben. Sie haben ein ungekanntes Maß an Hoffnung und Unsicherheit, an Beherztheit und Zweideutigkeit, an politischer Emanzipation und gesellschaftlicher Polarisation entfaltet – und entfalten es noch immer. Häufig wird diese widersprüchliche Bilanz allzu schematisch betrachtet und auf die eine oder andere Seite reduziert: hier die Jahre vor, dort die Jahre nach dem Umbruch von 1989; hier die Diktaturgeschichte der DDR, dort die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik; hier die schockartige »Übernahme«-Erfahrung der Ostdeutschen, dort die unverfrorene Abwicklung dieser »Übernahme« durch die Westdeutschen – und schließlich hier die demokratieskeptische, verunsicherte Restgesellschaft, dort die gewachsene, liberalisierte Zivilgesellschaft.
Dieses Buch wählt einen anderen Blick, indem es erstmals das Wesen und den Wandel des Demokratie- und Bürgerselbstverständnisses der Deutschen in Ost und West für die Zeit sowohl vor als auch nach der Zäsur von 1989 beschreibt. Sein Interesse gilt den demokratischen Vorstellungs-, Erwartungs- und Erfahrungswelten »ganz normaler« Bürgerinnen und Bürger. Zugleich versucht es die politisch-kulturellen Folgen des Umbruchs von 1989/90 nachzuzeichnen, die das vereinte Land zweifellos beflügelt haben, es aber bis heute immer wieder auch gewaltig verunsichern.
»1989« in der deutschen Demokratiegeschichte
Welche demokratiegeschichtliche Bedeutung der Revolution von 1989 zukommt, ist nicht nur eine historiografische, sondern auch eine politische Frage. Sie wird seit geraumer Zeit sehr ernsthaft gestellt, bleibt aber meist ohne differenzierte Antwort und ist bislang von der zeithistorischen Forschung nicht systematisch behandelt worden. Aus globaler, transnationaler und noch viel zu selten historisch unterfütterter Perspektive ist sie in erster Linie Gegenstand publizistischer und sozialwissenschaftlicher Betrachtung – und damit fest eingebunden in die seit Jahren geführten innerdeutschen Selbstverständigungsdebatten.[3] Es ist an der Zeit, dass diese Frage als zeithistorische Aufgabe verstanden wird und die Transformationsforschung den Umbruch von 1989/90 in einem größeren demokratiegeschichtlichen Rahmen untersucht.
Am bislang eindrücklichsten – eminent politisch und zugleich rein akklamatorisch – hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Frage nach der Bedeutung der 1989er-Revolution in seiner Rede am Vormittag des 9. Oktober 2019 im Leipziger Gewandhaus formuliert. Dieser Tag war nicht nur mit Blick auf die Leipziger Großdemonstration gegen die SED vom 9. Oktober 1989 – eines der Schlüsselereignisse der Revolution – ein bemerkenswertes Datum. Die Feierlichkeiten wurden nämlich auf grausame Weise von der Gegenwart eingeholt, als am Mittag dieses 9. Oktober ein Rechtsradikaler in Halle auf die dortige Synagoge einen Anschlag verübte und dabei zwei Menschen tötete. Die in der Synagoge betenden Jüdinnen und Juden waren nur deshalb verschont geblieben, weil sich die schwere Tür nicht hatte öffnen lassen. Dieser Anschlag war ein Fanal, ein unabweisbarer Beleg dafür, dass die Radikalisierung in Teilen Ostdeutschlands 30 Jahre nach der »friedlichen Revolution« erschreckende Ausmaße angenommen hatte. Nur wenige Monate später sollte ein in Hanau verübtes Massaker an neun jungen Menschen mit Einwanderungsgeschichte jedoch daran erinnern, dass Rassismus und rechte Gewalt im Deutschland der 2020er Jahre eindeutig gesamtgesellschaftliche Probleme sind.[4]
Der Bundespräsident hielt seine Rede zum Leipziger Festakt, in der er eingangs auch von einem »in Teilen verunsicherten« und von »Rissen« durchzogenen Land sprach, kurz bevor sich das Attentat in Halle ereignete. Doch vor dem Hintergrund der Morde klingt Steinmeiers zentrale Aussage in der Rückschau wie ein verstimmt intonierter Lobgesang. »Ihre Geschichten«, sprach er die im Saal anwesenden »friedlichen Revolutionäre« direkt an, »haben deutsche Demokratiegeschichte geschrieben«. Sie stünden damit »in der besten Tradition unserer Geschichte, in der Tradition der deutschen Freiheitsbewegungen von 1848 und 1918. Ihre Geschichten sind außergewöhnliche Geschichten von Sternstunden unseres Landes. Sie haben unserer Demokratiegeschichte einen wichtigen Teil hinzugefügt.«[5]
Aber worin bestand nun genau dieser Beitrag? Auf welche Weise hat die Revolution von 1989 unsere Demokratiegeschichte seither geprägt? Wie haben sich die politischen Kulturen in den beiden deutschen Staaten, die nach Kriegsende den Bezug auf die gemeinsame NS-Vergangenheit teilten, sich dann aber unter entgegensetzten Vorzeichen jeweils eigenständig entwickelten, im vereinigten Deutschland aufeinander zubewegt? Wie haben sie sich verbunden, und wo unterscheiden sie sich womöglich auch heute noch? Und wie hängt diese Entwicklung schließlich mit der Geschichte nach 1989 und zugleich mit europäischen und globalen Geschehnissen zusammen?
Politikerreden geben auf all diese Fragen für gewöhnlich nur dürftige Antworten. Doch auch die zeithistorische Forschung, die sich bei ihrer Entstehung nach 1945 – zumindest im Westen – dezidiert als »Demokratiewissenschaft« verstand, hat sich bisher wenig mit der Demokratiegeschichte der Deutschen um 1989 auseinandergesetzt.[6] Nach wie vor ist das überwiegend ein Thema der Politik- und Sozialwissenschaft. Diese stützen sich dabei vor allem auf die Wähler- und Einstellungsforschung und liefern damit naturgemäß...
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | 1989 • 2023 • 75 Jahre Bundesrepublik • 75 jahre doppelte staatsgründung • Aleida Assmann • Angela Merkel • Berliner Republik • DDR • Demokratie • Demokratiegeschichte • der europäische traum • Deutsche Einheit • deutscher sachbuchpreis 2024 • Dirk Oschmann • eBooks • Geschichte • Hedwig Richter • Heinrich August Winkler • Innere Einheit • Katja Hoyer • Kulturgeschichte • Mauerfall • Neuerscheinung • Ostdeutschland • ost-west-debatte • Ost-West Geschichte • Partizipation • Politische Kulturgeschichte • Sozialgeschichte • Wende • Wiedervereinigung • wie wir wurden, was wir sind |
ISBN-10 | 3-641-25452-3 / 3641254523 |
ISBN-13 | 978-3-641-25452-0 / 9783641254520 |
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