Mensch sein (eBook)

Von der Evolution für die Zukunft lernen | Das neue Buch der Spiegel-Bestsellerautoren
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2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01516-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mensch sein -  Carel van Schaik,  Kai Michel
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Endlich das Leben verstehen! Die Bestsellerautoren Kai Michel und Carel van Schaik erklären, warum die Menschheit eine Existenz im Ausnahmezustand führt. Der Anthropologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel räumen mit Missverständnissen über die Evolution und die menschliche Natur auf und zeigen, welche Macht die Kultur über uns besitzt. Die Autoren liefern das Wissen, um die Welt so zu gestalten, dass in Zukunft wirkliches Menschsein möglich ist und erklären, wie es dazu kommen konnte, dass wir eine Existenz im Ausnahmezustand führen. Denn etwas stimmt mit dem Leben nicht. Jeder kennt das Gefühl. Depressionen und Angststörungen grassieren. Krisen, Kriege und Katastrophen dominieren die Nachrichten. Die längste Zeit redete die Kirche uns ein, es läge an der menschlichen Sündhaftigkeit. Heute hält uns eine ganze Ratgeberindustrie auf der Anklagebank und verordnet Selbstoptimierung, Achtsamkeit und Resilienztraining. Höchste Zeit für eine evolutionäre Aufklärung. Wir sind nicht schuld. Wir müssen uns nur endlich selbst verstehen! 

CAREL VAN SCHAIK, geboren 1953 in Rotterdam, ist Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz bei Menschenaffen. Er war Professor an der Duke University in den USA und Professor für biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropologischen Institut und Museum vorstand. Carel van Schaik ist korrespondierendes Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften und Fellow der Max-Planck-Gesellschaft. Er lebt in Zürich.  

CAREL VAN SCHAIK, geboren 1953 in Rotterdam, ist Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz bei Menschenaffen. Er war Professor an der Duke University in den USA und Professor für biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropologischen Institut und Museum vorstand. Carel van Schaik ist korrespondierendes Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften und Fellow der Max-Planck-Gesellschaft. Er lebt in Zürich.   Kai Michel, geboren 1967 in Hamburg, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Mit Carel van Schaik las er die Bibel als «Tagebuch der Menschheit»; zusammen legten sie mit «Die Wahrheit über Eva» eine preisgekrönte Analyse über die Erfindung der Ungleichheit der Geschlechter vor. Mit dem Archäologen Harald Meller schrieb Michel die Bestseller «Die Himmelsscheibe von Nebra» und «Das Rätsel der Schamanin». Er lebt als Buchautor in Zürich und im Schwarzwald.  

Wir sind nicht schuld


Mit dem Leben stimmt etwas nicht. Die meisten kennen das Gefühl. Die Welt scheint nicht so, wie sie sein sollte. Nicht selten regt sich die Sehnsucht, dass da doch mehr im Leben sein müsste als das, was der Alltag zu bieten hat. In der Regel schieben wir solche Empfindungen beiseite und kehren zu dem zurück, was wir für die Normalität halten. Ein Fehler.

Wir müssen unseren Gefühlen vertrauen. Philosophen klagen seit jeher über die «Absurdität des Lebens» (Camus) und die «Entfremdung des Menschen» (Marx), diagnostizieren ein «Unbehagen in der Kultur» (Freud) und fragen, ob nicht vielleicht ein «ursprünglicher Fluch» auf dem Heute laste (de Beauvoir). Im Kern meinen sie alle dasselbe: Die Menschen und ihr Leben passen nicht zueinander. Doch eine allgemein akzeptierte Erklärung, woraus das existenzielle Ungenügen resultiert, fehlt bisher.

Das ist fatal. Es ist ja nicht nur, dass uns das eigene Leben fremd erscheint und sich immer mehr Menschen zu Depressionen und Angststörungen bekennen. Nein, die Welt selbst ist aus den Fugen. Aktuell stellt sie das besonders dramatisch unter Beweis: Kriege, Klima, Flüchtlinge, Pandemien – es herrscht Krise in Permanenz. Doch während die Erde dem Kollaps entgegentaumelt, flüchten wir in unsere kleine Alltagswelt. Ratlos sehen wir zu, wie die Reichen immer reicher werden und die Ungerechtigkeit in schwindelerregende Höhen schießt.

Sicher werden einzelne Aspekte der Misere diskutiert. Der grassierende Konsumwahn, die Schieflage der sozialen Verhältnisse und Geschlechterrollen, die katastrophalen Folgen für die Umwelt, die Klimakrise. Das große Ganze indes kommt kaum in den Blick. Die Grundsatzfrage, ob am Anbeginn des 21. Jahrhunderts etwas grundverkehrt mit dem Menschsein sein könnte, steht nicht zur Debatte. Mit verhängnisvollen Folgen.

Wenn es nicht am Leben selbst liegt, muss der Fehler ja bei uns zu finden sein. Was angesichts der existenziellen Zumutungen als berechtigter Weltschmerz durchgehen könnte, wird zunehmend als Hypersensibilität oder Depression diagnostiziert und zu behandlungswürdigen Krankheiten erklärt. Die Frage, ob es sich nicht schlicht um normale Reaktionen auf merk-, wenn nicht sogar unwürdige Lebensbedingungen handeln könnte, wird selten gestellt, geschweige denn beantwortet. «Lebensekel» ist ein Wort, das sich nur noch im Lexikon verschwundener Wörter findet. Vergessen auch die Gräfin Orsina, die noch in Lessings Emilia Galotti seufzen konnte: «Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.»

Stattdessen feiert ein altes Phantasma sein Comeback, das uns zu Sündenböcken macht. Jahrhundertelang hatte die Kirche gepredigt, die existenzielle Unzufriedenheit wie alles andere irdische Übel auch wurzelten in der sündhaften Natur der Menschen. Heute sitzen wir wieder als Schuldige auf der Armesünderbank. Quält uns der Verdacht, die Welt sei nicht bei Sinnen, verlangt eine ganze Industrie, wir müssten uns optimieren – und alles werde gut. Therapien, Coachings und Selbsthilfeseminare boomen, Ratgeber dominieren die Bestsellerlisten. Gehorchten wir nur brav ihren Anweisungen, lösten sich alle Probleme wie von selbst. Das ist das Heilsversprechen des 21. Jahrhunderts.

Die Vorwürfe sind vielfältig: Wir seien undiszipliniert, fehlerhaft, schwach oder einfach zu empfindlich, um glückliche Menschen zu werden. Entsprechend trichtert man uns ein, wacher und achtsamer zu werden, Resilienz zu trainieren oder auf das Kind in uns zu hören. Wir sollen uns selbst ermächtigen und endlich herausfinden, was der Sinn des Lebens, das Zentrum unseres Seins, unser Zweck der Existenz oder der uns gemäße Platz im Kosmos sei. Dann erkennen wir das Licht in uns. Längst ist «Mental Health» zum Multimilliarden-Markt geworden, dessen gebetsmühlenartig vorgetragenes Mantra lautet: «Gib alles, um die beste Version deiner Selbst zu werden.»

Wir sind Lost in Perfection, um den Titel eines aktuellen soziologischen Sammelbands zu zitieren. «Wer in der zeitgenössischen, von Beschleunigung und Wettbewerb geprägten Welt nicht abgehängt werden will, hat kaum eine andere Wahl, als Leistung und Produktivität unaufhörlich zu steigern», heißt es in der Einleitung. «Sich um Selbstverbesserung und Effizienzsteigerung zu bemühen, erscheint den meisten als selbstverständlich. Optimierungsimperative in sämtlichen Lebensbereichen sind habituell und normativ mehr oder weniger verinnerlicht.» Die Optimierung kennt jedoch kein Ziel, sondern immer nur ein Mehr. Während der Mythos des ewigen Wachstums dank technischen Fortschritts kultische Züge annimmt, taumelt die Welt dem Abgrund entgegen. Was läuft da schief? Vor allem: Warum fallen wir darauf herein?

Die Zeit drängt, wir wollen gar nicht viele Worte verlieren. Die These dieses Buchs lautet: Es liegt nicht an uns. Wir sind nicht schuld! Camus und Co. hatten recht. Mit dem Menschsein stimmt etwas nicht – und zwar grundsätzlich. Doch sie kamen zu früh, ihnen fehlte das nötige Wissen, sie stocherten im Nebel. Heute haben wir das Glück, erstmals in der Menschheitsgeschichte auf wissenschaftlicher Basis erklären zu können, was mit dem Menschsein schiefläuft. Wir führen eine Existenz im Ausnahmezustand.

Wir werden zeigen, wie die Menschen in eine Situation geraten konnten, deren Brisanz nicht hoch genug einzuschätzen ist. Dafür stützen wir uns auf ein breites Feld moderner anthropologischer Forschungen, aber auch auf eine Reihe eigener Vorarbeiten. Gemeinsam analysierten wir die Bibel aus einer evolutionären Perspektive, um zu zeigen, dass ihre Schriften einem Tagebuch der Menschheit gleich die Versuche der Menschen dokumentieren, in einer Welt zu überleben, für deren Herausforderungen sie nur ungenügend gerüstet waren. In Die Wahrheit über Eva rekonstruierten wir, wie es über Jahrtausende gelang, eine solche Ungerechtigkeit wie die Unterdrückung von Frauen als Normalität erscheinen zu lassen, und welche evolutionären Strategien diesen unwürdigen Zustand ins Wanken brachten.

Carel hat zudem die Wurzeln menschlichen Verhaltens bei Affen erforscht und als Erster durch seine jahrelangen Beobachtungen im Dschungel Indonesiens nachgewiesen, dass auch Orang-Utans Kultur besitzen. Mit The Primate Origins of Human Nature legte er eine Bibel der menschlichen Natur vor. Kai spürte in seinen Büchern mit dem Archäologen Harald Meller menschheitsgeschichtlichen Umbrüchen nach, sei es dem Entstehen von Herrschaft und Despotie in den Werken zur Himmelsscheibe von Nebra, sei es dem Auftauchen erster religiös-spiritueller Spezialisten in Das Rätsel der Schamanin.

Unser Ziel ist immer dasselbe: Wir möchten ergründen, was Menschen wirklich sind und wie sie in die Bredouille geraten konnten, in der wir uns alle befinden. Dazu müssen wir der angeblichen Wirklichkeit den Schein der Normalität nehmen. Insofern ist dieses Buch auch eine Quintessenz unserer bisherigen Analysen. Doch das ist längst nicht alles. Wir werden das moderne Leben evolutionär sezieren und einen Kompass liefern, der uns durch die Fährnisse des menschlichen Alltags navigieren kann. Mehr noch: Wir hoffen dabei, Wege zu entdecken, die zu einem Menschsein führen, das sich durch mehr auszeichnet, als Ungerechtigkeiten zu produzieren und die Erde zu ruinieren.

Bringen wir es auf den Punkt: Wir leben in einer Welt, für die wir nicht gemacht sind. Unsere Evolution vollzog sich unter gänzlich anderen Bedingungen als den heutigen. Das erst vor wenigen Jahrtausenden erfolgte Sesshaftwerden des Homo sapiens, das mit der Erfindung der Landwirtschaft einherging, stellt einen noch viel zu wenig verstandenen Gamechanger dar. Es revolutionierte die Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens. Die Folge war jener kulturelle Urknall, der zur modernen Welt mit all ihren technischen Wunderwerken führte, die aber immer wieder im offenen Widerspruch zu unseren evolutionär erworbenen Intuitionen steht.

Wer herausfinden möchte, was mit dem Leben nicht stimmt, muss in die Tiefen unserer Vergangenheit eintauchen. Wenn auch gewiss ist, dass kein Weg zum ursprünglichen Dasein zurückführt (das in vielerlei Hinsicht auch gar nicht erstrebenswert erscheint), müssen wir dieses vergangene Menschsein kennen, um wirklich Mensch zu sein.

Dafür ist wichtig, das raffinierte Zusammenspiel von biologischer und kultureller Evolution zu verstehen, um herauszufinden, wo etwas grundsätzlich schiefläuft. Tatsächlich leiden wir alle an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Goethes Faust hatte es leicht: Nur zwei Seelen stritten in seiner Brust. Bei uns sind es derer gleich drei. Unterschiedlicher Herkunft, vertragen sie sich eher selten gut.

Wir wollen keine Lektionen erteilen. Wir überlassen es jedem selbst, die nötigen Schlüsse zu ziehen. Und schon gar nicht treffen wir essenzielle Aussagen über das Wesen des Menschen oder darüber, wie richtiges Leben auszusehen hat. Das sind antiquierte Konzepte, wie sie typisch waren für den Biologismus und Evolutionismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Ebenso wenig betreiben wir genetischen Determinismus, möchten die wahre Natur des Menschen enthüllen oder das romantische Ideal einer idyllischen Urzeit beschwören, in der unsere Vorfahren als Jäger und Sammler durchs Paradies flanierten.

Was wir dann tun? Wir betreiben evolutionäre Aufklärung. Viele der Schwierigkeiten, die wir traditionell als persönliche wahrnehmen, liegen nicht in unserer individuellen Verantwortung. Sie sind unser evolutionäres Erbe. Wir alle haben mit ihnen zu...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte Anthropologie • Archäologie • Biologie • Bücher zum nachdenken • Demokratie • Depression • Entfremdung • Evolution • Evolutions-Geschichte • Evolutionspsychologie • Geschichte • Gesellschaftsentwürfe • Historische Bücher • Historisches Sachbuch • inspirierende bücher • Kulturgeschichte • Lebenshilfe • Lebenspraxis • Lebenssinn • Menschheitsgeschichte • Noah Yuval Harari • Religion • Soziologie • Weltgeschichte • Zukunftsvisionen
ISBN-10 3-644-01516-3 / 3644015163
ISBN-13 978-3-644-01516-6 / 9783644015166
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