Rote Sirenen (eBook)
343 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3224-3 (ISBN)
Ein Buch über die ergreifende Spurensuche einer jungen Frau und eine emotionale autobiographische Familiengeschichte.
Während Russland 2014 die Krim annektiert, kehrt Victoria in die Heimat ihrer Familie, die Ukraine, zurück. Dort ist sie geboren und aufgewachsen. Sie will verstehen, woher sie kommt. Wieso ist ihr Urgroßonkel Nikodim in den 1930er Jahren spurlos verschwunden, und warum spricht in der Familie seit fast einem Jahrhundert niemand über ihn? Valentina, ihre Großmutter, will ihr verbieten, weiter Fragen zu stellen und kümmert sich lieber um ihren Obstgarten. Aber Victoria gibt sich nicht länger mit Ausflüchten zufrieden. Sie reist zum Haus mit den roten Sirenen, dem früheren Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes, und zeichnet die Konturen vom Leben ihres Urgroßonkels nach. Die Vergangenheit wird dabei zu einem Schlüssel, ihre Herkunft und sich selbst zu verstehen.
»Eine Hymne auf Hoffnung und Heimat, so sanft geschrieben und von so tiefer emotionaler Wahrheit, dass die Worte zu einer Kraft werden, die ich gegen Not und Schmerz einsetze. Ich liebe dieses Buch, und es wird mich noch lange begleiten.« Helen MacDonald, Autorin von »H wie Habicht«.
»Eine hochaktuelle ukrainische Familiengeschichte.« Die Zeit.?
Victoria Belim ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen, emigrierte als Teenager in die USA, studierte dort Politikwissenschaften und lebt heute in Belgien. Sie arbeitet als Autorin, Journalistin und Übersetzerin aus dem Persischen und spricht 18 Sprachen. Auf ihrem Blog boisdejasmin.com schreibt sie über Kultur und Kunst. »Rote Sirenen« ist ihr erstes Buch. Es erscheint in 15 Ländern. Ekaterina Pavlova, geboren 1985, hat Literaturübersetzen in Düsseldorf studiert, lebt und arbeitet ebenda. Sie übersetzt aus dem Englischen, Italienischen und Französischen.
Eins
Onkel Wladimir und ich haben uns einen Monat, nachdem die Krim von seinem Namensvetter annektiert worden war, zerstritten. In seiner letzten Nachricht schrieb er mir um drei Uhr nachts Tel Aviver Zeit, dass unsere Familie der Sowjetunion zu Dank verpflichtet sei. Als ich die E‑Mail um acht Uhr morgens in Brüssel las, bemerkte ich zuerst nicht, dass sein Skype-Avatar grau hinterlegt und sein Profilfoto bei Viber, das ihn im Lotussitz zeigte, verschwunden war. Die unerhörten Dinge, die in der E‑Mail standen, wühlten mich auf: Amerika hätte mein Gehirn gewaschen, der amerikanische Kapitalismus hätte meinen Vater umgebracht, aber was mich wirklich auf die Palme brachte, war die Aussage, dass wir der Sowjetunion dankbar sein müssten. Allein der Gedanke, sich nach einem Regime zu sehnen, das den Totalitarismus verkörperte, erschien mir obszön. Ich konnte nicht glauben, dass mein Onkel, ein begeisterter Yogi und leidenschaftlicher Fotograf, die Gräueltaten der Sowjetunion rechtfertigte. Die Verluste, die meine Familie in der UdSSR durch Kriege, Hungersnöte und Säuberungen erlitten hatte, waren ein hoher Preis für sieben Jahrzehnte sowjetischen Sozialismus. Je mehr ich mich an meine Kindheit in der Ukraine und das elende Leben in den achtziger Jahren erinnerte, desto mehr schnürte sich mir die Kehle zu, und mir pochten die Schläfen. Ich klappte den Laptop zu, trat ans Fenster und drückte meine Stirn gegen die kalte Scheibe. Die Giebeldächer von Brüssel glänzten vom Regen und über den Bäumen am Horizont, wo die Stadt endete, hingen noch immer dunkle Wolken. Ich hauchte auf die Fensterscheibe und beobachtete, wie das satte Rot der Dächer verblasste. Nach einigen Sekunden war die Scheibe nicht mehr beschlagen. Die Welt tauchte wieder auf und wirkte lebendiger als zuvor. Nur meine Gedanken blieben verworren.
Wladimir war der ältere Bruder meines Vaters. Er war meine einzige Verbindung zur Familie väterlicherseits, nachdem ich meinen Vater vor drei Jahren verloren hatte. Wir wurden beide in der Ukraine geboren. Wir sprachen beide Russisch. Wir lebten beide an Orten, wo uns niemand von Kind auf kannte, wie Wladimir stets zu sagen pflegte. Aber wenn wir uns stritten, hätte man meinen können, wir stammten von verschiedenen Planeten.
Als ich mit fünfzehn nach Chicago gegangen bin, war Wladimir fünfundfünfzig und ist nach Tel Aviv ausgewandert. Er lebte aber immer noch in seiner sowjetischen Blase und sah die Sowjetunion mit völlig anderen Augen als ich. Für mich bedeutete sie Entbehrungen und leere Supermarktregale. Für ihn verkörperte sie eine Atommacht mit starker Armee. Ich dachte an den Zusammenbruch in den achtziger Jahren und die Katastrophe von Tschernobyl. Er dachte an den Aufschwung in den fünfziger Jahren und an Juri Gagarin, den ersten Menschen im All. Es war mir ein Rätsel, wofür Wladimir Dankbarkeit von uns erwartete.
In meiner Familie gab es mehrere eingetragene Kommunisten, und mein Urgroßvater mütterlicherseits war sogar stolzer Bolschewik. Trotzdem stimmten genau diese Kommunisten 1991 alle für die Unabhängigkeit der Ukraine, auch mein bolschewistischer Urgroßvater. Sie hatten die Nase voll von der Sowjetunion. Ich habe Nostalgie schon immer für eine Krankheit gehalten, und die Sowjetnostalgie, unter der Wladimir litt, fand ich besonders besorgniserregend. Niemand steht gerne für Lebensmittel an oder vermisst Armut und Stromausfälle. Kein gesunder Mensch würde sich ein mörderisches Regime zurückwünschen, das Millionen seiner Bürger getötet und eingesperrt hatte. Wladimir war selbst im Gefängnis gewesen, weil er Beatles-Kassetten überspielt hatte. Wenn hier jemand gehirngewaschen war, dann er.
Hätte das Gespräch mit Wladimir zu einem anderen Zeitpunkt stattgefunden, hätte ich über seine Bemerkungen hinwegsehen können. Er war Ende siebzig und viele Menschen seiner Generation hatten Ansichten und Vorstellungen, die ich nicht nachvollziehen konnte. Ich ärgerte mich über seine antiamerikanischen Tiraden, aber das russische Fernsehen hatte ihn dazu gebracht, an abwegige Verschwörungstheorien zu glauben und überall Landesverräter zu wittern. Für gewöhnlich lenkte ich das Gespräch von Politik auf Yoga, wofür wir uns beide interessierten. Oder ich bat ihn, mir die Filme vorzuspielen, die er als junger Mann, noch ohne Ton, gedreht hatte und nun nach und nach digitalisierte. In seinem aktuellen Projekt kam ich auch vor; ich existierte schon, war aber noch nicht geboren. Wladimir hatte die Aufnahmen während eines Campingurlaubs mit der Familie gemacht: Meine schwangere Mutter mit der Hand auf dem Bauch taucht ihre Zehen in einen Fluss und blickt schüchtern in die Kamera. Mein Vater zieht einen großen, glitzernden Fisch aus dem Wasser. Die Kamera schwenkt zu meiner Mutter, als mein Vater ihr den Fisch zum Putzen reicht. Eine Nahaufnahme zeigt, wie sie mit ihrem blassen, von einem schwarzen Bob umrahmten Gesicht eine Grimasse schneidet. Wladimir arbeitete gerade am zweiten Teil des Films, der meine Kindheit bis 1986 dokumentierte, dem Jahr der Katastrophe von Tschernobyl und der Scheidung meiner Eltern. Und während er noch der Sowjetunion hinterhertrauerte, wurde die Ukraine zerschlagen, damit der Eiserne Vorhang wieder errichtet werden konnte. Genau wie Putin hielt Wladimir den Untergang der Sowjetunion für die »schlimmste Katastrophe des Jahrhunderts«.
Hätte Onkel Wladimir die USA nicht längst zum Sündenbock erkoren, hätte er meine neue Heimatstadt Brüssel verfluchen können. Denn alles hatte mit einem Dokument begonnen, das im EU‑Hauptsitz in der Nähe meiner Wohnung ausgeheckt worden war. Er hätte die Tragödie auf ein Handelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine zurückführen können, das eine wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit und eine finanzielle Unterstützung durch die EU, einen bevorzugten Zugang zu den Märkten und schließlich eine Angleichung der Rechtsnormen und der Verteidigungspolitik vorsah. Die ertragreiche Landwirtschaft und die strategische Lage an der Ostgrenze der EU machten die Ukraine zu einem attraktiven Partner. Die Annäherung seines Nachbarn an den Westen empfand Russland allerdings als Bedrohung und Provokation, da es fürchtete, seinen Einfluss und seine Kontrolle über die Ukraine zu verlieren, die seit der Zarenzeit eine wichtige Rolle in der russischen Politik gespielt hatte. Wäre es zur Unterzeichnung gekommen, hätte sich wahrscheinlich nicht viel geändert, am wenigsten für die Ukraine selbst. Nur der größte Optimist konnte glauben, dass dieses Stück Papier einem gebeutelten Ex‑Sowjetstaat die Tür zur EU öffnen würde.
Aber es kam nicht zur Unterzeichnung. Bei den Treffen mit EU‑Vertretern machte der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch gute Miene zum bösen Spiel und faselte etwas von Freiheit und Demokratie. Dann, im November 2013, nahm er einen Rettungskredit von Russland an und verzichtete auf das Abkommen. Als das ukrainische Volk davon erfuhr, waren viele empört. So nichtig das Abkommen auch gewesen wäre, man hatte sich eine Hinwendung zum Westen und ein Leben ohne allgegenwärtige Korruption und den ständigen Druck von Russland erhofft. »Jetzt wird sich erst recht nichts ändern«, sagte meine Mutter, als sie mich aus Chicago anrief. Sie schluckte schwer und seufzte. Im Fernsehen verfolgten wir, wie sich Studierende auf dem Maidan Nesaleschnosti, dem Hauptplatz von Kiew, versammelten, um gegen Janukowitschs plötzlichen Rückzieher zu protestieren. »In der Ukraine wird sich nie etwas ändern«, wiederholte meine Mutter bei jedem Gespräch, und ihre Stimme zitterte vor Verzweiflung. Dann stand Weihnachten vor der Tür und selbst während des kalten ukrainischen Winters wurde die Mahnwache auf dem Maidan fortgesetzt. »Wohin wird das führen?«, fragte meine Mutter, aber auch ich hatte keine Antwort.
Die Maidan-Proteste erinnerten mich an die Orange Revolution von 2004, die durch Janukowitschs Wahlbetrug ausgelöst wurde. Aber auch diese Revolution ging in der Reihe der üblichen Korruptionsvorwürfe unter, mit der sich noch jede ukrainische Präsidentschaft herumplagen musste. Ich wollte mich nicht in eine weitere Revolution...
Erscheint lt. Verlag | 16.1.2023 |
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Übersetzer | Ekaterina Pavlova |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Rooster House. A Ukrainian Family Secret |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung | |
Schlagworte | Akte • Autobiografisch • Autobiographisch • autofiktional • Bereh • Berig • Blutland • Emotionen • Exil • Familie • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Familienroman • Geheimdienst • Großer Terror • Großmutter • Hähne • Hahnenhaus • Hase mit den Bernsteinaugen • historisch • Holodomor • Isidor • KGB • Kiew • kirschgarten • Kommunismus • Lebensmut • Memoir • Migration • politisch • Poltawa • Rot • Russland • Säuberungen • Schlüssel • Schweigen • Shelly Kupferberg • Sirenen • Sowjetischer Geheimdienst • Sowjetunion • Spurensuche • Stalin • Stalinismus • Ukraine • Unterdrückung • Urgroßonkel • Verfolgung • Vergangenheit • Verschwinden • Wurzeln |
ISBN-10 | 3-8412-3224-8 / 3841232248 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3224-3 / 9783841232243 |
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