Zeiten der Auflehnung (eBook)
464 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12142-1 (ISBN)
Aram Mattioli, geboren 1961, lehrt als Professor für Neueste Geschichte an der Universität Luzern. Er studierte an der Universität Basel Geschichte und Philosophie. International bekannt wurde er durch seine Forschungen zum faschistischen Italien. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte des indigenen Nordamerika. Er schreibt u.a. für DIE ZEIT.
Aram Mattioli, geboren 1961, lehrt als Professor für Neueste Geschichte an der Universität Luzern. Er studierte an der Universität Basel Geschichte und Philosophie. International bekannt wurde er durch seine Forschungen zum faschistischen Italien. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte des indigenen Nordamerika. Er schreibt u.a. für DIE ZEIT.
1.
Einleitung
In Albuquerque taten sich 1970 fünf junge American Indians zu der Rockband XIT zusammen, der es erfolgreich gelang, zeitgenössischen Rock mit Elementen traditioneller indigener Musik zu verschmelzen. Ihre Fans feierten XIT bald als »indianische Beatles«. Allerdings trat die Band von Anfang an weit politischer auf als die »Fab Four« aus Liverpool.[1] Schon auf ihrem fulminanten Debütalbum The Plight of the Redman (1972) paarte sich der Stolz auf die jahrtausendealte Präsenz der First Peoples auf der »Schildkröteninsel« mit beißender Kritik am Unrecht, das diesen widerfuhr, als der »weiße Mann« die »Neue Welt« in Besitz nahm. Der äußeren Form nach handelte es sich bei der Platte um ein Konzeptalbum, das die Geschichte Nordamerikas von der Vorkontaktzeit bis in die Gegenwart aus indigener Perspektive erzählte. Die Songtexte – von Tom Bee, einem Dakota, verfasst – kreisten alle um die große Lebenslüge, mit der Amerika sich im Kalten Krieg seine Staatswerdung schönredete. Schonungslos hieß es im letzten Stück: »Your America has not been a land of your / proclaimed equality and justice for all, / may your god forgive you. / The treatment of our people has been / a national tragedy and disgrace, / the time has come to put an / end to that disgrace.«[2] (»Euer Amerika ist kein Land gewesen der von euch / proklamierten Gleichheit und Gerechtigkeit für alle, / möge euer Gott euch vergeben. / Die Behandlung unseres Volkes war / eine nationale Tragödie und Schande, / die Zeit ist gekommen, dieser Schande / ein Ende zu setzen.«)
Kein Zweifel, das Debüt von XIT kündete von neu erwachtem Widerstandsgeist.[3] Immerhin verstanden sich die Bandmitglieder als musikalische Botschafter des American Indian Movement (AIM), der wohl bekanntesten indigenen Organisation in der Red Power-Ära. Eine unverhohlene Protesthaltung war XITs Markenzeichen; sie bildete den Hauptgrund dafür, dass etliche Radiostationen ihre Songs über Jahre boykottierten. Unter dem Titel Silent Warrior veröffentlichte die Protestband[4] schon ein Jahr später ihre zweite Langspielplatte, just 1973, als Dutzende Mitglieder des AIM den Weiler Wounded Knee in der Pine Ridge-Reservation in South Dakota besetzten. Programmatisch hob der erste Song mit den Worten an: »They took away our pride / so many years ago, / they left so many scars / burning in our soul. / Through Indian ways / the Indian lives / his Indian days. / We live. / We live. / We live. / We live.«[5] (»Sie haben uns unseren Stolz genommen / vor so vielen Jahren, / sie haben so viele Narben hinterlassen, / die in unserer Seele brennen. / Durch indianische Wege / leben die Indianer / ihre indianischen Tage. / Wir leben. / Wir leben. / Wir leben. / Wir leben.«)
Das Stück schrie gleichsam in die Welt hinaus, dass die First Peoples alle Anschläge auf ihre Existenz überlebt hatten. Damit traf XIT in den frühen 1970er Jahren eine unter American Indians verbreitete Stimmung – eine Mischung aus neu erwachtem Stolz, Trotz und Protest gegen die amerikanische Geschichtsvergessenheit. Zu dieser Zeit litten die Nachfahren von Tecumseh, Crazy Horse und Geronimo überall in den USA unter den Spätfolgen von Eroberung, kolonialer Unterdrückung und Zwangsassimilation und blickten auf eine bleierne Zeit der »kulturellen Zerstörung«[6] zurück. Doch hatten sie über das ganze 20. Jahrhundert hinweg auch eine erstaunliche, bislang wenig beachtete Widerständigkeit an den Tag gelegt. Zu keinem Zeitpunkt stellten sie bloß »unglückselige Opfer«[7] von historischen Prozessen dar, die machtvoll über sie hinwegrollten. Im Gegenteil. Seit dem Ersten Weltkrieg war die Geschichte der First Peoples in den USA durch drei große Entwicklungen geprägt: durch ihre demografische Erholung und ihr schieres Überleben; durch kulturelle Metamorphosen; und schließlich dadurch, dass sie inner- und außerhalb der Reservationen immer stärker zu Protagonisten ihres eigenen Schicksals aufstiegen und ihre Leben zunehmend aktiver gestalteten.[8]
Von der frühen Reservationszeit an hatten sie unfreiwillig erhebliche Anpassungsleistungen an die US-Gesellschaft erbringen müssen. Im Zeichen eines systematischen Assimilationsprogramms waren sie fast ausnahmslos alphabetisiert und christianisiert, später urbanisiert und durch all dies ein Stück weit auch »amerikanisiert« worden.[9] Schließlich waren die Reservationen vom weißen Amerika umschlossen, den Einflüssen der hegemonialen Kultur konnten sie sich daher kaum entziehen.[10] Aber die englische Sprache wurde, indem sie das Tor zu fremden Wissenswelten aufstieß, vermehrt auch zum Türöffner für neue Lebensentwürfe. Seit dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das Leben der American Indians von Grund auf.[11] Wenn sie im Nachkriegsamerika bestehen wollten, mussten sie lernen, sich in zwei Welten zu bewegen – in der weißen und in der indigenen. Für die »new Indians« (Stan Steiner) war denn auch nichts so charakteristisch wie ihre kulturelle Hybridität, verschmolzen in ihren Lebensstilen doch immer stärker Elemente der indigenen Tradition mit solchen der amerikanischen Massenkultur.[12] So meinte der bekannte Filmemacher Chris Eyre (* 1968) unlängst über sich selbst: »Als Native American, der in einer weißen Umgebung aufwuchs, habe ich die Dinge nie in schwarz und weiß gesehen, sondern immer in vielen Farben und Grauschattierungen. Ich liebe es, bei Karaoke-Veranstaltungen Country- und Westernsongs zu singen, aber ich liebe auch ein gutes Powwow und Fry bread.«[13]
Frühere Historiker neigten stark dazu, die American Indians lediglich als willenlose Opfer der in Washington gemachten Indianerpolitik zu sehen und sie als machtlose Spielbälle der von Beamten des Office of Indian Affairs (OIA) ausgeübten Verwaltungsmacht darzustellen.[14] Gewiss blieb diese Fremdbestimmung bis 1975, als die beiden Kammern des Kongresses ihnen eine Beteiligung in der Verwaltung ihrer Reservationen einräumten, hoch. Bei rechtem Licht besehen lebten sie bis zu diesem Zeitpunkt in internen Kolonien der USA, wie der Anthropologe Robert K. Thomas, ein Cherokee, ihr Abhängigkeitsverhältnis 1966 konzeptionell fasste.[15] Doch selbst in den Fängen dieses »vollständigsten kolonialen Systems der Welt«[16], selbst unter widrigsten Bedingungen büßten sie ihre Handlungsmacht nie ganz ein.
Nirgends trat ihre »Agency«[17] jedoch augenfälliger in Erscheinung als in Protest- und Widerstandsaktionen. Für diese Form des Sich-Widersetzens bürgerte sich in der amerikanischen Forschungslandschaft der Begriff »political activism« ein. Politischer Aktivismus zielt stets auf gesellschaftlichen Wandel; er versucht, Veränderungen durch persönliches Engagement und direktes Handeln auf den Weg zu bringen, und zwar im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Politischer Aktivismus kann sich in einer Vielzahl von Formen vollziehen: Er kann sich friedlich oder gewalttätig in Szene setzen, gesetzeskonform oder strafrechtlich relevant vorgehen, konkrete Forderungen stellen oder durch Besetzungen und Sit-ins nur symbolisch auf ein bestehendes Unrecht aufmerksam machen.[18] Stets dient er dem »Empowerment«, also der Selbstermächtigung von indigenen Gemeinschaften.
Die Zeit des bewaffneten Widerstands gehörte im 20. Jahrhundert der Vergangenheit an. In der modernen Welt eigneten sich die indigenen Aktivisten eine neue »Sprache des sozialen Protests«[19] an, das, was in der Forschung »Talking back to Civilization«[20] genannt wird. Selbst sahen sich die Aktivisten oft als »Krieger einer neuen Art«[21], die ihre Ziele mit Mitteln zu erreichen versuchten, die ihnen Verfassung, Demokratie und Rechtsstaat der USA boten. Resolutionen, Petitionen und das inszenierte massenhafte Überschreiten der kanadisch-amerikanischen Grenze, um auf alten Vertragszusagen zu bestehen, gehörten ebenso zu ihrem Instrumentarium wie Lobbying im Kongress, Teilnahme an Hearings und ...
Erscheint lt. Verlag | 18.2.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Amerika • Christoph Kolumbus • Erinnerungskultur • Erinnerungspolitik • First Peoples • Freiheitsbewegungen • Imperialismus • Indigene Völker • Kolonialismus • Native Americans • Protestbewegung • Rassismus • Red Power • Reservate • Reservationszeit • Selbsbestimmung • Six Nations • Umweltbewegung • Umweltselbstbestimmung • USA • Wounded Knee |
ISBN-10 | 3-608-12142-0 / 3608121420 |
ISBN-13 | 978-3-608-12142-1 / 9783608121421 |
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