Es gibt keine unerreichbaren Jugendlichen! (eBook)

Wie wir mit unseren Kindern in Beziehung bleiben. Unterstützung während der Pubertät

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
160 Seiten
Kösel-Verlag
978-3-641-30003-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Es gibt keine unerreichbaren Jugendlichen! - Jesper Juul
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Stürmische Zeiten gemeinsam meistern
Was tun, wenn Kinder nicht mehr mitmachen? Wenn es nicht einmal mehr heftige Auseinandersetzungen gibt, weil sie sich vollständig entziehen und man das Gefühl hat, sie überhaupt nicht mehr erreichen zu können?

Jesper Juul empfiehlt in solchen Fällen, die eigene Haltung zu überdenken. Er argumentiert leidenschaftlich dafür, kein Kind »schwierig« zu machen oder es gar aufzugeben. Selbst mit Heranwachsenden, die komplett aus der Norm ausscheren, ist immer noch ein echter Dialog möglich.

Eltern, Schulen und alle, die mit ihnen zu tun haben, müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, statt diese an die Kinder abzugeben. Schon vor der Pubertät ist eine Beziehung auf Augenhöhe gefragt: Wenn sich Erwachsene als gelassene Sparringspartner anbieten, können sie Kinder und Jugendliche wieder erreichen und vertrauensvoll und einfühlsam ins Leben begleiten.

Jesper Juul (1948-2019) war einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas, Konfliktberater und Gründer des Elternberatungsprojekts familylab international. Durch zahlreiche Seminare, Vorträge, Medienauftritte und erfolgreiche Elternbücher wurde er international bekannt. Seine respektvolle, gleichwürdige Art, mit Menschen umzugehen, beeindruckt Fachleute wie Eltern auch heute noch immer wieder neu.

Begegnungen auf Augenhöhe

Bevor ich als Familientherapeut tätig wurde, habe ich mit verhaltensauffälligen Jugendlichen und ihren Familien gearbeitet. Und in unserer klinischen Praxis habe ich erlebt, dass alles, was ich als Vater und als Lehrer über Entwicklungspsychologie gelernt hatte, falsch war. Das war kaum zu glauben, aber in meinem Umkreis gab es damals fünfzig, sechzig Personen, die alle dieselbe Erfahrung gemacht haben. 

Ich habe dann mit einem mulmigen Gefühl das Buch Dein kompetentes Kind veröffentlicht. Davor hatte ich eine gute Freundin um Rat gebeten: »Ich weiß nicht, ob ich den Mut habe, das zu veröffentlichen, weil das ja nur so eine aus meiner Praxis entwickelte Theorie ist. Das ist ja keine Forschung.« Worauf sie entgegnete: »Da kannst du ganz beruhigt sein, die Forschungsergebnisse werden dir bestimmt recht geben.« Und tatsächlich wurde der US-amerikanische Kinder- und Jugendanalytiker Daniel Stern in dieser Zeit zu einem der führenden Spezialisten der empirischen Säuglingsforschung. Mit ihm machte eine neue Generation von Psychoanalytikerinnen auf sich aufmerksam, die sich zum ersten Mal mit zwischenmenschlichen Beziehungen im Allgemeinen beschäftigten und all meine Erfahrungen bestätigen konnten – beispielsweise die Tatsache, dass Kinder kooperieren. Dann trat die Hirnforschung auf den Plan und entdeckte die Spiegelneuronen.

Was mir persönlich guttat, war der Umstand, dass ich mit vielen Eltern persönlich reden und ihnen erklären konnte, dass ihre Kinder nicht »unmöglich« waren, sondern es nur so aussah. Und dass das Verhalten des Kindes eigentlich ein Geschenk für die Eltern ist. Dieses Geschenk muss man annehmen, auspacken und verdauen – dann geht es allen besser.

Ich habe wohl auch ein gewisses – nicht therapeutisches, sondern pädagogisches – Talent gehabt, das heißt, ich habe den Eltern diese Idee gut verkaufen können. Und mit der Zeit habe ich gelernt, dass sich viele Eltern von einem althergebrachten Dilemma befreit fühlen, wenn sie das hören. Die meisten Eltern denken ja: »Ich will es unbedingt anders machen als meine eigenen Eltern.«

Die Reaktionen von Eltern und Fachleuten haben mir damals sehr den Rücken gestärkt und mich ermutigt, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Für mich hat diese Arbeit in all den Jahren nichts von ihrer Faszination verloren und ich rede sehr gern darüber, weil sie meine Leidenschaft ist – wie für andere vielleicht die Mathematik. Ein paar Jugendliche haben mir das schön beschrieben. Sie hatten einen Lehrer, der ein begeisterter Mathematiker war: »Er liebt einfach die Mathematik. Und als er gehört hat, dass elf von uns Mathe nicht ausstehen können, hatte er fast Tränen in den Augen und sagte: ›Mein Gott, das ist so ein Schatz, so eine Schönheit! Dass ihr das nicht mitbekommt!‹ Danach hat es bei uns innerhalb von drei, vier Tagen klick gemacht und plötzlich fanden wir Mathe richtig gut.«

Das entspricht meiner Erfahrung, die ich im Verhältnis von Pädagoginnen und Eltern gesammelt habe.

Man sollte auch Erwachsenen auf eine Art und Weise begegnen, wie sie ihren Kindern begegnen sollten – auf Augenhöhe statt zu schimpfen.

Ich glaube, mein Erfolg in Deutschland hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass ich nicht schimpfe, den Leuten kein schlechtes Gewissen einrede und keine Schuldgefühle bei ihnen auslöse. Das Konzept der Schuld mag in die Kirche gehören, in der Pädagogik hat es nicht die geringste Berechtigung.

Mein größtes Glück besteht darin, wenn Familien in meine Beratung kommen, deren Mitglieder seit vielen Jahren heillos zerstritten sind, und plötzlich, wie durch ein Wunder, löst sich innerhalb von fünfundvierzig Minuten der Knoten und sie beginnen wieder fruchtbare Gespräche miteinander zu führen – danach wird man süchtig! Das ist so eine Freude! Das ist viel besser, als ein (Be-)Lehrer zu sein!

Wollen wir wirklich starke Kinder?

Die Erwachsenen der letzten Generation haben zwar versucht, ihr Verhalten zu ändern, doch jetzt sehen wir, dass der Wille zu einer nachhaltigen Veränderung nicht stark genug war. Im Grunde wollten Eltern und Erzieherinnen von den Kindern genau dasselbe wie die Generation vor ihnen – sie wollten es nur mit »netteren« Mitteln erreichen, also gaben sie sich freundlich, süß und demokratisch. Doch nach wie vor sollten Kinder gehorchen und sich nett, freundlich und höflich verhalten.

Es gibt ja in Deutschland eine Bewegung, die »Starke Eltern – starke Kinder« heißt. Allerdings frage ich mich und auch die Eltern sehr oft: »Wollen wir eigentlich starke Kinder? Wissen wir überhaupt, wie wir mit starken Kindern umgehen sollen?« Dann zeigt es sich, dass viele Eltern dies nicht wirklich wollen beziehungsweise fürchten, einen hohen Preis dafür zahlen zu müssen.

Erzieherinnen haben natürlich ihre eigenen Vorstellungen, und ohne irgendjemandem zu nahe treten zu wollen, lässt sich konstatieren, dass die Erziehung in unseren Kitas und Kindergärten zu zehn Prozent auf Kompetenz und zu neunzig Prozent auf Moral beruht. Eine Moral, mit der man die Kinder immer früher in ihrem Leben behelligt. Dabei geht es zum Beispiel um Aggression, der man sozusagen ein großes Verbotsschild umgehängt hat. Und neben der Aggression geht es auch mal wieder um Sexualität. Anders ausgedrückt:

Alles, was zur Grundsubstanz des Lebens gehört, wollen wir unseren Kindern am liebsten verbieten. Und wenn wir es ihnen nicht verbieten, dann billigen wir ihnen nur eine schwache Dosis zu.

Wir vermitteln ihnen: »Du darfst nicht unglücklich sein. Mama will keine unglücklichen Kinder haben! Wenn du manchmal ein kleines bisschen traurig bist, ist das in Ordnung, aber das muss reichen.« Oder: »Wütend sein geht leider nicht. Das ist verboten! Irritiert schon, aber nicht wütend. Und keinesfalls schlagen!«

Man verbietet den Kindern diese elementaren Reaktionen und schiebt sich gegenseitig die Verantwortung zu. Die Erzieherinnen behaupten, die Eltern wollten es so. Und die Eltern berufen sich auf die Erzieherinnen und deren angebliche Überzeugung.

Die Macht der Eltern

Innerhalb der alten Polarisierung – autoritäre Erziehung versus Laissez-faire – werden wir keine Antworten auf unsere Fragen finden. Wir müssen hingegen etwas ganz anderes begründen und dabei auf Phänomene bauen, die wir schon ziemlich gut kennen.

Es scheint Erwachsenen immer noch schwerzufallen, den Kooperationswillen ihrer Kinder anzuerkennen.

Kinder wollen ihre Eltern eigentlich immer glücklich machen. Aber für Eltern scheint es schwierig zu sein, ihre Macht aufzugeben. Ich spreche hier von der »oberflächlichen« Macht, die Eltern entscheiden lässt, wann ihr Kind ins Bett muss, ob es ein oder zwei Eis haben darf, weil gerade die Sonne scheint, oder ob es im Tennis- oder im Fußballverein anfangen soll. Eltern – auch Lehrerinnen – sprechen immer nur über diese Art von Macht. Worüber sie aber nie sprechen, ist die unglaublich große Macht, die Eltern aus dem einfachen Grund haben, weil ihre Kinder alles mitmachen.

Hinzu kommt eine Pädagogik, die auf Defizite statt auf Potenziale fokussiert ist – und das ist furchtbar. Ich habe einmal mehrere Tage mit zwölf 17-jährigen Schulverweigernden und ihren Eltern in Norwegen verbracht. Die meisten dieser Jugendlichen hatten enorme Probleme. Man muss allerdings dazusagen, dass die Diagnose »Schulverweigerung« fast immer falsch ist beziehungsweise zu kurz greift. Zunächst wurden sie alle von den Lehrerinnen und vom Schulsystem abgelehnt – erst dann weigerten sie sich, weiterhin zur Schule zu gehen. Diese Jugendlichen hatten alle Probleme mit Mathematik. Dann haben sie sechs Wochen mit ausgezeichneten Lehrerinnen in einem Camp auf einer Insel verbracht, und neunzig Prozent der jungen Leute haben innerhalb von vier Wochen genauso viel Mathe gelernt, wie andere Kinder im Zeitraum von sechs Jahren. In Anbetracht des ramponierten Selbstbilds dieser Jugendlichen ein wunderbares Ergebnis.

Wir konnten auch feststellen, dass die Eltern – ob sie wollen oder nicht – am Schulerfolg ihrer Kinder beteiligt sind. Die Eltern tragen dazu bei, wenn ihr Kind keinen Erfolg in der Schule hat, und sie tragen dazu bei, wenn es dort erfolgreich ist.

Kindern Raum lassen

Es scheint, als würden wir uns sicherer fühlen, wenn wir den Fokus auf Leistungen und Ergebnisse legen, statt den Kindern Raum zu lassen. Das kenne ich sowohl von Pädagoginnen als auch von Eltern. Dabei wissen die meisten von ihnen genau, wie wichtig es ist, eine persönliche Sprache zu haben, sich durchsetzen zu können, die eigenen Grenzen zu kennen und so authentisch wie möglich zu sein. Das alles sind Kompetenzen, mit denen Kinder geboren werden! Doch leider arbeiten die meisten Eltern hart daran, diese Kompetenzen ihrer Kinder aus dem Weg zu räumen – obwohl sie wissen, dass gerade sie lebensnotwendig sind.

Eltern verwenden leider viel Zeit und Energie darauf, ihre Kinder von oben herab zu behandeln und ihnen einzutrichtern, wie man nett und höflich ist: »Sag schön guten Tag!«, »Gib den Leuten die Hand!«, »Sag danke und bitte!«. Da die Eltern von oben aber nur die Haare ihres Kindes und nicht sein Gesicht sehen, erkennen sie nicht, dass diese Anweisungen für das Kind äußerst unangenehm sind. Könnte es seine Gefühle in Worte fassen, würde es vermutlich sagen: »Papa, kannst du bitte einfach ein bisschen warten? Ich bin nicht nur willens, sondern auch fähig, mich so zu verhalten, aber es dauert seine Zeit. Ich möchte das ja gerne tun, weil ich die Erwachsenen in...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Schlagworte 2023 • Ablehnung • Aggression • Augenhöhe • Begleitung • Beziehung • Beziehungsratgeber • Dialog • Drogen • eBooks • Eltern • Eltern-Kind-Beziehung • Erziehung • Erziehungsratgeber • Familie • Familientherapie • Familylab • Führung • Gefährdete Jugendliche • Gesundheit • Grenzen • Hilfe • Jugendjahre • Kindererziehung • Konflikte • Kontakt • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Pornographie • Pubertät • Ratgeber • Remo Largo • Risiko • Schulverweigerer • Schwierigkeiten • Streit • Teenager • Trotz • Verhaltensauffälligkeit • Vertrauen • Zusammenleben
ISBN-10 3-641-30003-7 / 3641300037
ISBN-13 978-3-641-30003-6 / 9783641300036
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