Krisen anders denken (eBook)
560 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2942-0 (ISBN)
Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und war von 2011 bis 2016 Sprecher des Sonderforschungsbereichs »Bedrohte Ordnungen«. Neben Publikationen zur deutschen, europäischen und australischen Geschichte erschien von ihm auch der Bestseller Die Geschichte der Welt (2019).
Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und war von 2011 bis 2016 Sprecher des Sonderforschungsbereichs »Bedrohte Ordnungen«. Neben Publikationen zur deutschen, europäischen und australischen Geschichte erschien von ihm auch der Bestseller Die Geschichte der Welt (2019).
Bedroht sein und fürchten
Ewald Frie, Mischa Meier
Lasst uns Krisen anders denken, indem wir ernst nehmen, dass sie als Bedrohungen vorgestellt, empfunden, begriffen werden. Lasst uns dabei nationale und europäische Kurzsichtigkeiten überwinden, indem wir durch historische Zeiten hindurch Geschichten von Bedrohten Ordnungen erzählen, die sich an verschiedenen Orten der Welt abgespielt haben. Das ist die Idee dieses Buches.
Im Zentrum unseres Interesses stehen die kommunikativen und sozialen Dynamiken, die entstehen, wenn Alarm geschlagen wird. Bei »Krise« hören wir neben dem Gefährlichen und Ungewissen auch die technische Beherrschbarkeit mit, die Krisenkommunikation, den Krisenkanzler, das Krisenszenario. Mit Bedrohungen assoziieren wir dagegen offene soziale Situationen voller Emotionen, die Menschen sowohl individuell als auch als Gemeinschaft tendenziell überfordern. Vielleicht, so die Ausgangsvermutung dieses Buches, lernen wir Neues über die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, über unsere Geschichte und uns selbst, wenn wir von Bedrohungen statt von Krisen reden.
Bedroht sein
Was geschieht, wenn wir uns bedroht fühlen? Wenn wir den gewohnten nächsten Schritten und auch Freundinnen und Freunden nicht mehr trauen, an unseren Lebensgrundlagen zweifeln, wenn Emotionen wie Angst, Furcht und Wut aufkommen und wir zu wissen glauben, wer dafür verantwortlich ist?
Zunächst einmal geschieht gar nichts. Erst wenn wir unsere Gefühle mit anderen teilen und gemeinsam die Bedrohung benennen, entsteht eine soziale Dynamik. Dann wird dies unser Thema, alles andere zählt nicht mehr. Wir wollen diesen Zustand jetzt und sofort ändern. Wir mobilisieren alle verfügbaren Kräfte, um die Bedrohung zu beseitigen. Doch nicht immer gelingt das. Oft erweist sich die schnelle und einfache Benennung der Ursache als falsch. Wir überlegen neu, versuchen in anderer Weise Abhilfe zu schaffen. Während immer neue Abhilfen scheitern und immer neue Problemdiagnosen sich als unzutreffend erweisen, lernen wir. Selbstverständlichkeiten unseres Alltags werden uns bewusst, weil sie gefährdet sind. Wir erfahren, was uns wichtig ist. Wir verstehen neu, wer wir sind. Oft begreifen, oft sagen wir jetzt erst, wem unsere erste Loyalität gehört. Wer sind wir eigentlich? Wer wollen wir sein?
Bedrohungen sind Selbstalarmierungen aus Ordnungen heraus. Sie entstehen dadurch, dass Menschen etwas mitteilen: schnell, laut, eindrücklich. Die Mitteilung verweist auf etwas: eine Himmelserscheinung, einen herannahenden Sturm, eine Gruppe von Menschen, ein Virus, einen militärischen Angriff. Alarmierungen ohne sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand sind selten. Aber nicht der Gegenstand setzt die Bedrohungsdynamik in Gang. Das macht der Alarm, der den Gegenstand grell ins Licht rückt. Der Alarm muss allerdings Glauben finden. Das gelingt nicht immer. Die Weltgeschichte ist voller ungehörter Warnungen.
Wenn die Alarmierung gelingt, kann das gewaltige Folgen haben. Wer die nun entstehende dynamische Situation beherrscht, kann zuvor Unglaubliches erreichen: Grundrechte außer Kraft setzen, Feinde benennen, Gewaltaktionen starten, aber auch Solidarität organisieren, Schwachen aufhelfen, Zusammenhalt herstellen. Freilich: Bedrohungen sind dynamisch. Nur selten gelingt es Akteuren, sich die gesamte Zeit der Bedrohung hindurch im Zentrum der Ereignisse zu behaupten. In der Regel wechseln die Hauptpersonen. Immer neue Konstellationen mit immer neuen Möglichkeiten ergeben sich. Bedrohungen bieten zuvor ungeahnte Chancen und Risiken. In Bedrohungssituationen ist Wandel auch dort machbar, wo zuvor Stabilität, ja Verhärtung herrschte. Das finden nicht alle Menschen gut oder nicht alle schlecht. Die Zukunft erscheint dem Bedrohten dunkel, dem auf Veränderung Hoffenden blitzartig hell. Beide wollen schnell etwas ändern. Bedrohungen sind daher offene Situationen mit hohem Konfliktpotenzial. In einer Geschichte, die nicht aus stetigen Fortschritten in Richtung Zukunft besteht, sondern Zeiten schnelleren und langsameren Wandels, Seitwärtsbewegungen und Rückschritte kennt, haben Bedrohungen das Potenzial für Geschwindigkeits- und Richtungsänderungen. Nach der Bedrohung kann vieles oder alles anders sein als zuvor – muss aber nicht.
Wahrscheinlich sind alle Menschen bedrohbar. Und in der Regel bleibt das keine individuelle Erfahrung. Menschen fühlen die Angst, Furcht und Wut anderer, und leicht teilen sie diese Gefühle. Viele Menschen werden auch selbst versuchen, mit ihren Emotionen nicht allein zu bleiben. Bedrohte soziale Gruppen oder Gesellschaften lassen sich vielerorts beobachten. Sie alle dürften emotional angefasst und sozial verdichtet sein. Sie alle stehen wahrscheinlich unter Zeitdruck und suchen hektisch nach Verantwortlichen und nach Abhilfe. Menschengruppen unterscheiden sich aber in dem, was sie bei einer Bedrohung fühlen, denken und tun. Sie bringen unterschiedliche Gewohnheiten und Wissensbestände in die Situation hinein. Sie haben unterschiedliche Interessen und Überzeugungen, ihre Möglichkeiten unterscheiden sich: Menschen mit Handys mobilisieren anders als Menschen mit Flugblättern. Menschen in egalitären Gesellschaften stellen sozialen Zusammenhalt anders her als Menschen, die große Reichtumsunterschiede aushalten müssen. Überwiegend alte Menschen haben ein anderes Verhältnis zu Risiko und Gefahr als überwiegend junge Menschen. Menschen, die in der Bedrohung eine Chance sehen, agieren anders, bilden andere Allianzen als Menschen, die von Existenzängsten umgetrieben werden. Wenn wir Bedrohungssituationen vergleichen, können wir daher Einblicke in Gesellschaften und soziale Gruppen gewinnen. Wir können besser verstehen, was Gesellschaften und soziale Gruppen besonders macht, welche Charakteristika sie miteinander teilen und welche Formen sozialer Praktiken sie gemeinsam haben.
Weil so viele soziale Gruppen und Gesellschaften empfindlich reagieren, wenn sie sich bedroht sehen, können Vergleiche Grenzen überwinden, an die wir uns gewöhnt haben. Wir unterscheiden im Alltag und oft auch in der Forschung moderne von vormodernen Gesellschaften, europäische von nichteuropäischen. Daran ist richtig, dass nicht alle Gesellschaften und sozialen Gruppen gleich sind. Aber ist die Unterscheidung modern-vormodern oder europäisch-nichteuropäisch am wichtigsten? Es scheint so, wenn wir von der europäischen Moderne und beispielsweise von unseren Definitionen für Staaten, Bürger, für geschriebenes Recht ausgehen. Dann sehen wir uns selbst und davon getrennt die anderen. Wenn wir Verhaltensweisen und soziale Praktiken ins Zentrum stellen, ist das Bild vielfältiger. Dann ergeben sich Ähnlichkeiten und Unterschiede, die quer zu unseren Denkgewohnheiten liegen. Das erlaubt es uns, in neuer Weise in den Spiegel zu schauen und Neues über uns selbst und die anderen zu erfahren.
Wie das gehen kann, sollen die Geschichten zeigen, die im ersten Teil des Buches versammelt sind. Geradezu wild sind sie über Zeit und Raum verteilt: Konstantinopel im 6. Jahrhundert steht neben Lima im 16. Jahrhundert. Hinzu kommen aktuelle Beispiele aus Köln, dem österreichischen Galtür, China und Russland. Das, was als Bedrohung identifiziert wird, ist sehr unterschiedlich: eine Infektionskrankheit, ein Staubsturm, eine Lawine, eine Prophetin, ein Krieg und die Migration. Jede Geschichte ist individuell, weil auch gleiche Orte über die Zeit nicht gleich bleiben und weil jede Infektionskrankheit, jeder Sturm, jede Prophetin besonders ist.
Die Justinianische Pest in Konstantinopel zeigt drastisch die Realität einer Bedrohung und ihre massentödlichen Folgen. Sie öffnet den Blick auf hektische Maßnahmen einer überforderten Administration ebenso, wie es individuelle Glücksritter tun, die die Bedrohung für ihre Zwecke nutzen wollen. Die Prophetin María Pizarro und ihr Interpret Francisco de la Cruz sind heute vergessen. Ihr Fall erscheint uns marginal. Aber das fanden die Menschen in Lima und im Spanischen Empire des 16. Jahrhunderts nicht. Prophetie konnte für sie weltverändernde Bedeutung haben. Es sind die uns fremden Logiken aller Akteure, die diese Geschichte bedeutsam machen. Die Lawine von Galtür ist Teil einer langen Geschichte von Lawinenabwehr und dem Umgang mit Lawinenfolgen. Menschen, die in Gefahrenzonen leben, entwickeln Bedrohungskulturen. Im Fall der Staubstürme in der Sowjetunion, in China und Australien sind solche Bedrohungs-, vielleicht sogar Katastrophenkulturen Folge menschlicher Eingriffe in die natürlichen Ökosysteme. Die Kölner Silvesternacht wiederum hat unsere Sicht auf die Migration des Jahres 2015 verändert. Das Reden über die Ereignisse rief ältere Signaturen von Bedrohung auf und produzierte neue. Moralische Kategorien erwiesen sich als besonders geeignet, scharfe Grenzen zu ziehen. In der Geschichte des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gibt es bereits zahlreiche Beispiele der Instrumentalisierung von Bedrohungsängsten und des gezielten Schürens anderer Emotionen, um politische Ziele zu erreichen, die unter Alltagsbedingungen außerhalb der Möglichkeiten der Akteure liegen.
Trotz aller Individualität der Geschehnisse und Geschichten können wir Ähnlichkeiten sehen. Sie betreffen die Verunsicherung, die Alarmierung, den entstehenden Möglichkeitsraum, die hektischen Bemühungen um Abhilfe, deren Scheitern und die darauffolgende Suche nach anderen Strategien, die mit neuen Alarmierungen verbunden sind, die Mobilisierung von Menschen und Material und das Nachdenken darüber, wer »wir« eigentlich sind im Angesicht der Bedrohung. Weil es Ähnlichkeiten gibt, können wir vergleichen. Nicht systematisch und mathematisch. Wir können die Geschichten nicht belasten mit dem Anspruch, wahre Aussagen über den Zusammenhang...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Bedrohte Ordnungen • Corona • Epidemie • Globaler Süden • Hass • Hunger • Hurrikan • Internet • Katastrophe • Klimawandel • Krankheit • Krieg • Menschheit • Pest • Seuche • Tod • Überbevölkerung • Umweltzerstörung |
ISBN-10 | 3-8437-2942-5 / 3843729425 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2942-0 / 9783843729420 |
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