Kinder sind anders (eBook)
432 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12369-2 (ISBN)
Maria Montessori, italienische Ärztin und Pädagogin, gilt heute als bedeutendste Erforscherin der frühen Kindheitsentwicklung. 1919 Gründung des Deutschen Montessori-Komitees. Die erste Montessori-Institution auf deutschsprachigem Boden entstand 1922 in Wien. 1949 wurde Maria Montessori für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Maria Montessori, italienische Ärztin und Pädagogin, gilt heute als bedeutendste Erforscherin der frühen Kindheitsentwicklung. 1919 Gründung des Deutschen Montessori-Komitees. Die erste Montessori-Institution auf deutschsprachigem Boden entstand 1922 in Wien. 1949 wurde Maria Montessori für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Jürgen Overhoff, geboren 1967 in Lippstadt, studierte in Berlin, London und Cambridge Neuere Geschichte, Evangelische Theologie, Philosophie und Politologie. Seit 2013 ist er Professor für Historische Bildungsforschung an der Universität Münster. Die dortige Arbeitsstelle für Deutsch-Amerikanische Bildungsgeschichte gründete er 2014. Zwischen 2018 und 2022 amtierte er als Präsident der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts.
Einleitung
Kindererziehung als soziale Frage
Schon seit etlichen Jahren ist, ohne dass jemand eigentlich die Initiative dazu ergriffen hätte, eine weit verbreitete Bewegung im Gange, deren Bemühungen dem Kinde gelten. Sie entwickelte sich in derselben Weise, in der auf vulkanischem Boden ein Ausbruch zustande kommt: ganz von selber bilden sich da und dort Feuerherde. Große Bewegungen beginnen in der Regel so. Zweifellos ging der erste Anstoß zu der Bewegung, die sich der Kinder annehmen will, ursprünglich von der Wissenschaft aus. Die Hygiene war es, die den Kampf gegen die Kindersterblichkeit aufnahm und nachwies, welche Bürden dem Kind in der Schule aufgelastet wurden und wie es dadurch zu einem Martyrium verdammt war, das so lange dauerte wie die Kindheit selbst; denn mit dem Ende der Schulzeit ist ja das Kindesalter zu Ende.
Es waren unglückliche Kinder, mit denen sich die Schulhygiene zu befassen hatte: niedergedrückte Gemüter, ermüdete Verstandeskräfte, krumme Schultern und eingezwängte Brustkörbe, vorbestimmte Opfer der Tuberkulose.
Jetzt endlich, nach vielen Jahren des Studiums, sind wir dahin gelangt, das Kind als ein menschliches Wesen anzusehen, das von der Gesellschaft und schon zuvor von denjenigen Personen zu einer falschen Entwicklung genötigt worden ist, die ihm das Leben gegeben haben und erhalten. Was sind Kinder? Eine dauernde Störung für den von immer schwereren Sorgen und Beschäftigungen in Anspruch genommenen Erwachsenen. Es ist kein Platz für sie in den engen Häusern der modernen Stadt, in denen sich die Familien zusammendrängen. Es ist kein Platz für sie auf den Straßen, denn die Fahrzeuge beanspruchen immer mehr Raum, und die Gehsteige sind voll von eiligen Menschen. Die Erwachsenen haben keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern, denn auf ihnen lasten dringende Pflichten. Vater und Mutter sind beide gezwungen zu arbeiten, und wo die Arbeit fehlt, da bedrückt und schädigt die Not erst recht Kinder wie Erwachsene. Es gibt kaum einen Zufluchtsort, wo das Kind das Gefühl haben kann, dass sein Seelenzustand Verständnis findet, wo es die ihm angemessenen Betätigungen ausüben darf. Es muss brav sein, sich ruhig verhalten, es darf nichts berühren, was ihm nicht gehört. Alles ist unantastbares, ausschließliches Eigentum des Erwachsenen und für die Kinder verboten. Was gehört ihm? Nichts. Vor einigen Jahrzehnten gab es noch nicht einmal einen Stuhl für Kinder. Von daher stammt der berühmte Ausdruck, der heute nur noch metaphorische Bedeutung hat: »Ich habe dich auf den Knien gehalten.«
Setzte sich das Kind auf die Möbel der Erwachsenen oder auf den Fußboden, wurde es gescholten; setzte es sich auf die Treppenstufen, wurde es gescholten; es musste jemand kommen und es auf die Knie nehmen. Das ist die Situation des Kindes, das in der Umwelt der Erwachsenen lebt: ein Störenfried, der etwas für sich sucht und nichts findet, der eintritt und sogleich fortgewiesen wird. Seine Lage ähnelt der eines Mannes, dem die bürgerlichen Rechte und das Recht auf seine Umwelt aberkannt worden sind: Es ist ein an den Rand der Gesellschaft verwiesenes Wesen, das jedermann ohne Respekt behandeln, beschimpfen und strafen darf, dank einem von der Natur verliehenen Recht: dem Recht des Erwachsenen.
Ein seltsames seelisches Phänomen bewirkt, dass der Erwachsene sich scheut, eine passende Welt für sein Kind zu schaffen. Auch im sozialen Organismus hat es keinen Platz, denn so wie der Mensch seine Gesetze ausarbeitet, hat er die eigenen Erben ohne Gesetze und somit außerhalb des Gesetzes gelassen. Schutzlos überlässt er sie dem tyrannischen Instinkt, der im Herzen eines jeden Erwachsenen in Bereitschaft liegt. So ist es in der Tat, obgleich gerade das Kind bei seinem Eintritt in die Welt neue Energien mitbringt, deren regenerierender Hauch die stickigen Gase verjagen sollte, die sich von Generation zu Generation jeweils im Laufe eines Menschenlebens voller Irrtümer immer wieder angesammelt haben.
Erst in unseren Tagen ist in dieser seit Jahrhunderten blind und gefühllos gebliebenen Gesellschaft eine neue Bewusstheit für das Schicksal des Kindes aufgebrochen. Die Hygiene ist herbeigeeilt, wie man sich zum Schauplatz einer Katastrophe drängt. Sie nahm den Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit auf. Deren Opfer waren bis dahin so zahlreich, dass es aussah, als hätten sich die Überlebenden gerade noch aus der Sintflut gerettet. Als zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Hygiene allmählich ins Volk drang, war es um das Leben des Kindes anders bestellt. Die Schulen erfuhren eine derartige Verwandlung, dass diejenigen, die sich auch nur zehn Jahre lang von den Neuerungen ausschlossen, plötzlich den Eindruck machten, als seien sie schon hundert Jahre alt. Auf den Wegen der Sanftmut und der Duldsamkeit hielten die Grundsätze einer neuen Erziehung ihren Einzug in die Familien wie auch in die Schulen.
Nicht nur die Fortschritte der Wissenschaft haben wichtige Ergebnisse herbeigeführt. Da und dort begannen Menschen, einzig von ihrem Gefühl geleitet, in derselben Richtung zu wirken. Viele Reformatoren von heute beschäftigen sich mit dem Kind; in den Ateliers der Städteplaner werden Gärten für die Jugend vorgesehen; bei der Anlage von Plätzen und Parks schafft man Spielplätze für Kinder; man denkt an die Kinder bei der Errichtung von Theatern, man veröffentlicht Bücher und Zeitungen, man organisiert Reisen, man baut Möbel in angemessener Größe für sie. Da sich endlich eine bewusste Ordnung der Klassen entwickelt hat, ist der Versuch unternommen worden, die Kinder zu organisieren, ihnen den Sinn für soziale Disziplin und die hieraus erwachsende Würde des Individuums beizubringen, wie dies in Organisationen von der Art der »Pfadfinder« und der »Kinderrepubliken« der Fall ist. Die politisch-revolutionären Reformen unserer Tage versuchen, sich der Kinder zu bemächtigen, um aus ihnen fügsame Werkzeuge für ihre Pläne zu machen. Zum Guten wie zum Schlechten, sei es in der Absicht, ihnen ehrlich zu Hilfe zu kommen, sei es mit dem Vorsatz, sie als Werkzeug zu benützen, immer ist heute von den Kindern die Rede. Sie sind ein soziales Element in der Welt geworden und infolge der ihnen zukommenden Bedeutung setzen sie sich überall durch. Das Kind ist nicht länger bloß jenes Mitglied der Familie, das des Sonntags in seinem besten Kleid folgsam an der Hand des Vaters spazieren geht und darauf achtet, das Sonntagskleid nicht schmutzig zu machen. Nein, das Kind ist eine Persönlichkeit geworden, die in die soziale Welt eingedrungen ist.
Nun hat offenbar die ganze Bewegung zur Förderung des Kindes eine bestimmte Bedeutung. Wie zuvor gesagt wurde, ist sie weder von Initiatoren auf den Plan gerufen oder geleitet worden, noch wurde sie von irgendeiner Organisation in geordnete Bahnen gelenkt; so müssen wir denn sagen, dass die Stunde des Kindes ganz von selbst angebrochen ist. Als Folge zeigt sich in seiner ganzen Bedeutung ein außerordentlich wichtiges Problem: die soziale Frage des Kindes.
Es empfiehlt sich, die Tragweite dieser Bewegung richtig zu bewerten: Ihre Bedeutung ist ungeheuer, für die Gesellschaft sowohl als für die Kultur, für die ganze Menschheit. Alle diese unabhängig voneinander entstandenen Bemühungen sind ein unverkennbares Zeichen dafür, dass keiner von ihnen eine gewollte konstruktive Bedeutung zukommt: Sie sind lediglich der Beweis dafür, dass rings um uns ein wirklicher und universeller Drang nach einer großen sozialen Reform entstanden ist. Diese Reform ist dermaßen wichtig, dass sie eine neue Zeit und eine neue Ära der Zivilisation ankündigt; wir sind die letzten Überlebenden einer bereits überwundenen Epoche, in der die Menschen einzig daran dachten, für sich selber eine einfache und bequeme Umwelt zu schaffen, eine Umwelt für Erwachsene.
Heute befinden wir uns an der Schwelle einer kommenden Ära, in der es nötig sein wird, für zwei verschiedene Menschheiten zu arbeiten: für die erwachsene und für die kindliche. Und wir sind auf dem Wege zu einer Kultur, die zwei scharf voneinander unterschiedene soziale Umwelten wird vorbereiten müssen: die Welt des Erwachsenen und die des Kindes.
Die Aufgabe, die unser harrt, liegt nicht in der starren und äußerlichen Organisation der bereits angebrochenen sozialen Bewegungen. Es handelt sich nicht darum, eine Koordinierung der verschiedenen öffentlichen und privaten Initiativen zugunsten der Kinder zu fördern. In diesem Fall würde ja lediglich eine Organisation der Erwachsenen vorliegen, die den Zweck hätte, dem Kind von außen her zu Hilfe zu kommen.
Hingegen dringt die soziale Frage des Kindes mit ihren Wurzeln in das innere Leben ein und gelangt bis zu uns Erwachsenen, rüttelt unser Gewissen wach und erneuert uns. Das Kind ist nicht ein fremder Mensch, den der Erwachsene bloß von außen her nach objektiven Gesichtspunkten ansehen kann. Es stellt das wichtigste Element im Leben des Erwachsenen selber dar: das Element des Aufbaus.
Alles Gute und alles Böse des Menschen im reifen Alter ist eng verknüpft mit der Kindheit, in der es seinen Ursprung hat. Alle unsere Irrtümer übertragen wir auf unsere Kinder, in denen sie unaustilgbare Spuren hinterlassen. Wir werden sterben, doch unsere Kinder werden an den Folgen des Bösen leiden, das ihren Geist für immer entstellt hat. Der Kreislauf ist geschlossen und lässt sich nicht unterbrechen. Auf das...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2024 |
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Übersetzer | Percy Eckstein, Ulrich Weber |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Abgeschiedenheit • Aufklärung • Autorität • Bildung • Determinismus • Disziplin • Eltern • Entfaltungsmöglichkeit • Entwicklungspsychologie • erziehen • Erziehung • Freiheit • gefühlsstarke Kinder • Handlungsfreiheit • Humanismus • Instinkte • Kinderrechte • kompetentes Kind • Konzentration • Lesefähigkeit • Pädagogik • Persönlichkeitsbildung • Reformpädagogik • Schule • Selbständiges Lernen • Selbstdisziplin • Selbtswertgefühl • Spontanität • Unterricht |
ISBN-10 | 3-608-12369-5 / 3608123695 |
ISBN-13 | 978-3-608-12369-2 / 9783608123692 |
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