Forderungen des Volkes -

Forderungen des Volkes (eBook)

Frühe demokratische Programme. Herausgegeben und eingeleitet von Jörg Bong

Jörg Bong (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-51005-8 (ISBN)
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Die Grundlagen unserer Demokratie Nach der Februarrevolution 1848 in Frankreich kam es auch in den Ländern des Deutschen Bundes zu revolutionären Unruhen. Zentrale Anliegen waren die Abschaffung der dynastischen Fürstensysteme, die Schaffung eines Nationalstaates mit einem 'deutschen Parlament', Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Gewährung 'unverletzlicher' demokratischer und sozialer Grundrechte. Vielerorts kam es zu Volksversammlungen und wurden 'Forderungen des Volkes' formuliert - und an die Regierungen übergeben -, die unsere aktuelle Verfassung noch immer prägen. Diese 'frühen demokratischen Programme' werden hier erstmals gesammelt und im Zusammenhang vorgestellt.

Jörg Bong, geboren 1966, promovierter Literaturwissenschaftler, Autor, freier Publizist sowie ehemaliger Verleger des S. Fischer Verlags (bis 2019). Schrieb unter anderem für die FAZ, DIE ZEIT und den SPIEGEL. Unter dem Namen Jean-Luc Bannalec veröffentlicht er Kriminalromane. Zuletzt Herausgeber des Buches »57 Interventionen für die Kultur« zusammen mit Marion Ackermann, Gesine Schwan und Carsten Brosda.

Jörg Bong, geboren 1966, promovierter Literaturwissenschaftler, Autor, freier Publizist sowie ehemaliger Verleger des S. Fischer Verlags (bis 2019). Schrieb unter anderem für die FAZ, DIE ZEIT und den SPIEGEL. Unter dem Namen Jean-Luc Bannalec veröffentlicht er Kriminalromane. Zuletzt Herausgeber des Buches »57 Interventionen für die Kultur« zusammen mit Marion Ackermann, Gesine Schwan und Carsten Brosda.

Volksherrschaft


Von Carl Cramer[39]

Gewöhnlicher noch mit dem Fremdnamen Demokratie bezeichnet, ist diejenige Staatsform, nach welcher die höchste Gewalt im Staate bei der Gesamtheit des Volkes ist. Je nachdem sie vom Volk unmittelbar oder durch gewählte Stellvertreter geübt wird, nennt man die Demokratie eine reine oder repräsentative. Die erstere, nach welcher gesetzgebende, richterliche und vollziehende Gewalt den Versammlungen sämtlicher Staatsbürger innewohnt und durch Mehrheit der Stimmen unter ihnen die Entscheidung über alle wichtigen Fragen gefasst wird, ist eigentlich nur in sehr kleinen Staaten, bei sehr einfachen Staatsaufgaben und großer Gleichheit der Bildung, Gesinnung und Verhältnisse möglich, und wenn sie in den Staaten des Altertums, namentlich in Griechenland und Rom, in bestimmten Zeiträumen bestand, so war dies doch mehr nur dem Schein als der Wirklichkeit nach, indem die alten Freistaaten auf der Sklaverei beruhten, wo neben einer Minderheit vollberechtigter Bürger eine Mehrheit völlig rechtloser Sklaven bestand. Um dieselbe auch auf größere Reiche und zusammengesetztere Zustände anzuwenden, wählte man die Form der repräsentativen Demokratie, nach welcher in den Versammlungen sämtlicher stimmberechtigter Bürger diejenigen gewählt werden, welche im Namen des Volks die verschiedenen Tätigkeiten der Staatsgewalt ausüben sollen, also die gesetzgebenden, richterlichen und vollziehenden Behörden, die Abgeordneten zur Nationalversammlung, die Richter (Geschworenen), die Beamten bis hinauf zum obersten Träger der Staatsgewalt, dem Präsidenten: alle aber ihre Gewalt als vom Volk ausgehend, von ihm übertragen, betrachten und im Namen desselben ausüben. Demokratie in diesem Sinne ist gegenwärtig nur in den vereinigten Staaten Nordamerikas und in den Schweizer Kantonen gültige und lebendige Verfassungs- und Verwaltungsform, bei der sie sich allerdings glücklich befinden. Die Versuche, welche man zu Ende des vorigen Jahrhunderts in Frankreich zur Herstellung der Demokratie gemacht hat, sind an der Klippe, welche alle Demokratien bedroht, an der Herrschsucht und dem Ehrgeiz der Volksführer gescheitert: Auf die Demokratie folgte wieder die Monarchie, und obgleich diese, weil sie im Laufe der Zeit gänzlich entartet war, von dem sittlichen Zorn des Volkes im Jahre 1848 nochmals gestürzt und durch die Demokratie verdrängt wurde, so hat sie sich dort doch noch nicht so befestigt oder ihren Charakter so rein und unbefleckt erhalten, dass sie von der in ihrem Rücken lauernden Monarchie wieder verschlungen zu werden nicht befürchten müsste. Im übrigen Europa hat der Monarchismus ausschließlich die Herrschaft in Besitz und wird sie auch – wenigstens in der gemischten Verfassung der konstitutionellen Monarchie – bei der großen Gewalt, welche das Bestehende über den Einzelnen wie über ganze Völker hat, so lange behalten, als er die Stundenuhr der Nationen zu lesen und die Lehren der Geschichte, welche mit Donnerstimme verkündet, dass jeder Missbrauch der Gewalt sein Ende findet, zu beherzigen versteht. So ausgemacht die monarchische Verfassung Europas inzwischen ist, in allen Staaten der Gegenwart stehen sich doch zwei Parteien mit wesentlich verschiedenen Grundansichten, mit zwei wesentlich verschiedenen politischen Systemen gegenüber, die einander im offenen oder geheimen Kriege, in der Wissenschaft, in der Geschichte, in der Staatenwelt bekämpfen. Jedes der beiden Systeme in seiner Spitze aufgefasst, ist das eine das der Volksherrschaft, deren Grundsatz lehrt, dass alle Gewalt, das Herrschen wie Regieren, nach dem unverjährbaren und angeborenen Menschenrecht bei dem Inbegriff aller stimmfähigen Mitglieder des Staatenvereins sei; diese Lehre, schon vor der ersten französischen Revolution besonders von französischen Schriftstellern vertreten, hat namentlich seit dem Jahre 1848 in Deutschland mehr und mehr Boden gewonnen; das andere System ist das der Volksbeherrschung, nach deren Grundsatz der Fürst oder der Adel Kraft eigenen angeborenen und angestammten Rechts in dem Sinne regiert, dass der Eine oder der Andere weder seine Gewalt einer förmlichen Wahl des Volks, sondern dem Herkommen oder einer göttlichen Einsetzung verdankt, noch auch wegen des Gebrauchs, den er von seiner Gewalt macht, dem Volke selbst verantwortlich ist. Jenes ist das demokratische, dies das aristokratische oder monarchische Prinzip; jenes kann man als das Prinzip der Bewegung und der Beweglichkeit, dieses als das Prinzip der Beständigkeit, der Beharrung und Stabilität bezeichnen. Beide Prinzipien haben von jeher miteinander im Streit gelegen. Im Mittelalter standen sich Staat und Kirche gegenüber, gewöhnlich so, dass die Kirche das demokratische Prinzip gegen die weltliche Aristokratie und gegen das Königtum vertrat. Im Zeitalter der Reformation vertrat der Katholizismus das aristokratische und die protestantischen Fürsten das demokratische Element. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dauert aber ununterbrochen und mit immer steigender Heftigkeit der Gegensatz zwischen Bürgertum und Adel und Königtum fort. Der Glaube an das sogen. göttliche Recht ist gefallen oder wankend geworden, mit ihm der Glaube, dass das Land und das Volk um des Fürsten willen da sei, und an dessen Stelle der Grundsatz getreten, dass der Fürst um des Volks willen da sei und das Gedeihen des Volkes das Ziel aller Regierung sein müsse. Dem Talent, dem Geist, der Bürgertugend, die an kein Geschlecht, an kein Archiv, an keine Burg gefesselt ist, wird der Beruf zuerkannt, das Wort zu führen und die Massen zu leiten. Wahrheit, Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit werden als die wahren Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt. Der Bürgerstand hat als dritter Stand in den Repräsentativverfassungen Teil an der Staatsgewalt erhalten, die Vorrechte der Geburt und des Standes fielen, die Fesseln des Grund und Bodens sowie der Industrie und des Verkehrs mussten gelöst werden; und das Ringen des Volkes nach freier selbstständiger Bewegung und Entwicklung, nach immer größerem Anteil an der Regierungsgewalt, nach immer ausgedehnteren Rechten, nach Selbstbestimmung und Selbstregierung ist so ungestüm geworden, dass daraus die Kämpfe hervorgegangen sind, welche alle europäischen Staaten durchzucken und in fortwährender Erregung erhalten. Eine Menge demokratischer Grundsätze haben bereits überall Anwendung und Geltung gefunden: so namentlich die, dass vor dem Gesetz kein Ansehen der Person herrschen dürfe, sondern alle vor dem Gesetz gleich seien; dass die Staatsämter jedem zugänglich sein müssen; dass die Steuerfreiheit des Adels ein Raub am Vermögen des Volkes sei. Andere ringen noch nach Anerkennung, wie eine freigewählte Nationalvertretung, die vollständige Durchführung der Herrschaft der Majorität, der Grundsatz einer parlamentarischen Regierung, das allgemeine Stimmrecht oder die staatsbürgerliche Gleichheit bei Gemeinde- und Volksvertretungswahlen, die allgemeine Wehrpflicht, der Grundsatz von Seinesgleichen gerichtet zu werden (Geschworene). England, Belgien und Norwegen sind in dieser Hinsicht am weitesten vorgegangen, ohne dass es dort deshalb zu feindlichen Reibungen zwischen der Regierungs- und Volksgewalt käme. In Deutschland waren zwar in Folge des Umschwungs der Märztage 1848 die land- und feudalständischen Verfassungen im demokratischen Sinne erweitert und ausgebaut oder auch ganz neue derartige in’s Leben gerufen worden; so waren namentlich eine Volksvertretung, das allgemeine Wahlrecht, das vollständige Steuerbewilligungsrecht, die Initiative der Volksvertretung, allgemeine Militär- und Steuerpflicht, Geschworene eingeführt und die privilegierten Adelskammern und Ständevertretungen, hier und da auch das unbedingte absolute Veto abgeschafft worden, so dass man von einer Monarchie auf der breitesten demokratischen Grundlage sprach, die Minister als Staats-, nicht als Fürstendiener, den Fürsten selbst als Repräsentanten und Vollzieher des Volkswillens ansah und so die Vorteile der demokratischen Verfassung mit den Vorteilen der monarchischen vereinigt zu haben glaubte. Die monarchisch gesinnte Partei aber, zürnend ob des Verlustes so vieler Vorrechte und dass sie die Kammern der Volksvertretung zum ersten Faktor im Staat gemacht, den Fürsten zu der passiven Rolle eines Vollstreckers des von diesen Kammern ausgesprochenen Volkswillens hinabgedrängt sah, arbeitete diesen neuen Verhältnissen mit aller Macht entgegen und hat es auch durch Mittel aller Art dahin gebracht, dass die Verfassungen dieses demokratischen Anbaues wieder entkleidet und auf das frühere Maß der Volksrechte zurückgeführt wurden, wonach im Sinne des monarchischen Prinzips die gesamte Staatsgewalt in der Person des Fürsten vereinigt sein und bleiben soll. Wo das in den Einzelstaaten noch nicht geschehen oder in dieser Hinsicht noch etwas zu tun übrig ist, das will der Bundestag, der dazu berufen zu sein glaubt, dieses monarchische Prinzip zu schützen und gegen alle Anfechtungen aufrecht zu erhalten, vollends vermitteln. Der Zwiespalt und Kampf der Meinungen und Interessen, der durch die zunehmende Wissenschaft im Volke, durch die Fortschritte der Industrie, durch die Erleichterung des Verkehrs zwischen den Völkern noch mehr genährt wird, wird indes so lange dauern, bis das eine oder andere dieser Prinzipien einen völligen Sieg erringt; ob dies früher oder später, mit Unterbrechungen oder in unaufhaltsamem Laufe geschieht, ist an sich gleichgültig. Dass aber die Geschichte den Ausschlag nicht zu Gunsten des willkürlichen Regierungssystems des Absolutismus geben wird, ist nach der Macht, welche die demokratischen Grundlagen der Freiheit und...

Erscheint lt. Verlag 9.2.2023
Reihe/Serie Bibliothek der frühen Demokratinnen und Demokraten
Bibliothek der frühen Demokratinnen und Demokraten
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte Anfänge der Demokratie • Demokratiebewegung • Demokratische Legion • Deutsche Revolution • Deutsches Parlament • Februarrevolution • Februarrevolution 1848 • Frankfurter Nationalversammlung • Frankfurter Paulskirche • Volksversammlungen
ISBN-10 3-462-51005-3 / 3462510053
ISBN-13 978-3-462-51005-8 / 9783462510058
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