So feinfühlig und so stark (eBook)
270 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-84741-6 (ISBN)
Kathrin Borghoff begleitet ca. 300 Familien pro Jahr in ihren Coachings mit den Schwerpunkten Sensibilität, Hochsensibilität, Stressreduktion durch Achtsamkeit und Entspannungspädagogik. Sie ist eine der wichtigsten Expertinnen zu sensiblen/hochsensiblen Müttern und Kindern. Bekannt wurde sie durch Workshops, Vorträge und ihr erstes Buch »Hochsensibel Mama sein« (Beltz, 2020) sowie durch ihren erfolgreichen Blog www.oeko-hippie-rabenmuetter.de, wo sie zu Familienthemen rund um Bindung und Beziehung schreibt. Die Mutter zweier Söhne lebt mit ihrer Familie in Dortmund.
Einleitung
Wenn fünf Minuten einen Unterschied für den Tagesverlauf machen, Sie beim Backen nur noch mixen können, wenn das Kind einen Kopfhörer aufhat, wenn ein Spaziergang ein Erlebnis für alle Sinne wird und kalte Finger sein Ende bedeuten – dann ist Ihr Kind vielleicht hochsensibel. Wenn ein Stück Knete, frisch aus der Packung, nicht direkt zum Spielen verwendet werden darf, sondern erst auf Geruch, Konsistenz, Haptik und Aussehen geprüft werden muss, wenn ein zerbrochener Keks ein Tränenmeer hervorruft, wenn zu viele Fragen hintereinander einen Wutanfall auslösen und Sie Ihre eigene Einstellung zu Dingen wie Stress, Anspannung, Terminenge grundlegend ändern müssen – dann ist Ihr Kind vermutlich hochsensibel. Wenn der Tag zu lang, die Sonne zu hell, der eigene Kopf zu laut und die Welt zu schnell ist – dann ist Ihr Kind vermutlich hochsensibel.
Ihr Baby war einst eine wirklich kleine, verletzliche Zelle, aus der binnen 40 Wochen Gliedmaßen wuchsen, ein Herz zu schlagen begann, sich Fähigkeiten wie Hören und Sehen entwickelten und ein Gehirn entstand – eines, in dem Veranlagung, Persönlichkeit und gewisse Wahrnehmungsfilter schon eingebaut waren. Oder eben auch nicht. Wir kommen auf die Welt mit einem »Arbeitsmodell«, das sich mehr oder weniger auffällig entfaltet, und wie wir es auch drehen und wenden: Wir sind, wer wir sind. Und zwar nicht, weil wir uns oder unsere Kinder zu irgendetwas machen, ihnen Label und Stempel aufdrücken, sie in Schubladen stecken und stigmatisieren. Sondern weil gewisse Auffälligkeiten nicht zu übersehen sind. Weil immer die gleichen Dinge sie besonders anspannen, aufregen, zerreißen. Weil sie besonders viel schreien, mit bestimmten Dingen nicht klarkommen, weil wir plötzlich Verabredungen absagen, Besuche vermeiden und Krabbelgruppen frühzeitig verlassen müssen. Nicht weil wir darum gebeten haben, besonders gestresste, besonders feinfühlige, besonders sensible Kinder zu bekommen. Sondern weil sie so sind, wie sie sind.
Was wir tun, wenn wir feststellen, dass unsere Kinder sich in bestimmten Situationen immer wieder so oder so verhalten und gleichzeitig dabei »anders« sind als andere, ist, nach Antworten auf Fragen zu suchen. Das ist oft der erste Schritt, den wir überhaupt tun, wenn wir mit diesem oder einem ähnlichen Thema konfrontiert sind. Dabei geht es nicht um Ruhm oder darum, das »besonderste« Kind von allen zu haben, sondern eigentlich darum, die eigenen Sorgen zu beruhigen. Wir suchen nach Ursachen und vermeintlichen Lösungen, denn es ist unser Wunsch, dem Kind ein Leben zu ermöglichen, in dem es im besten Fall überhaupt keinen Grund für Stress, Anspannung oder Tränen gibt. Wir Eltern tun dies nicht, weil wir »faule Ausreden« für »unangepasste« Kinder suchen, sondern weil dahinter die Angst steckt, es könnte irgendetwas nicht stimmen. Wir suchen sehr viel weniger ein passendes Label, wollen sehr viel weniger einen Stempel aufdrücken, als uns oft unterstellt wird. Was wir tatsächlich suchen, ist Erleichterung. Wir finden sie, wenn wir verstehen, dass das Kind nicht krank, nicht unnormal, nicht mal großartig anders, sondern sensibler ist, mehr oder eben anderes braucht und so schlicht nicht mit anderen Kindern zu vergleichen ist.
Die Hochsensibilität – ganz gleich ob bei Klein oder Groß – ist nicht selten eine besondere Herausforderung für die Kinder, ihre Eltern und die Lehrkräfte oder Erzieher:innen, die mit dem Kind in Kontakt sind, eben weil das hochsensible Nervensystem eine erhöhte Neigung zu Stress und Überstimulierung mit sich bringt. Schon früh, in Krippe oder Kita, sehen wir Kinder, die gefühlt für alles »länger« brauchen: eine längere Eingewöhnung, längere Zeit, um anzukommen, längere Begleitung in den Mittagsschlaf, am Mittagstisch oder zum Spielen in der Gruppe mit anderen Kindern. Es droht die Stigmatisierung und ein »Arbeitstitel« über dem Kopf eines kleinen Menschen, der sich selbst in einer mehr als überfordernden Situation befindet. Dass Hochsensibilität automatisch bedeutet, dass der Mensch auch introvertiert oder schüchtern ist, ist ein Vorurteil, dessen Annahme wissenschaftlich bereits widerlegt werden konnte.1 Zwar gibt es einen Zusammenhang, keinesfalls aber ein »Muss« zwischen der Schüchternheit, Introversion und Sensibilität eines Kindes, wie Elaine N. Aron, Psychologin und Wissenschaftlerin, bereits Ende der 1990er-Jahre zeigte. Bis heute gilt sie als Pionierin der Hochsensibilitätsforschung und schrieb in den vergangenen 25 Jahren mehrere Ratgeber zu unterschiedlichen Aspekten rund um dieses Thema. Als ihre Basis galten die Forschungsergebnisse des US-amerikanischen Psychologen Jerome Kagan, der Ende der Achtzigerjahre Temperamente von Kindern erforscht hat. Seine Arbeit ließ keinen Zweifel daran, dass Sensitivität und Temperament zwar in Zusammenhang stehen können, sich aber keineswegs bedingen.
Denn gleichermaßen gibt es – besonders im Kita- oder Schulkontext – auch jene temperamentvollen, gefühlsstarken und ebenso sensiblen Kinder, deren Herausforderung es eher ist, sich in die bestehenden Systeme einzufügen, anzupassen oder gar gut mit ihnen zu leben und zu lernen. Viele Regeln, gute Sitten, das stille Sitzen, die wenige Bewegung und der erhöhte Leistungsdruck sorgen für Stress, der sich nicht selten in Verhalten und Gefühlsausbrüchen ausdrückt. Wer im Stress ist, lernt nicht, sondern funktioniert in erster Linie im Autopilot2 – das bestätigt uns die Wissenschaft schon seit Jahren. Und wer nicht lernen kann, scheitert oft genug an einem Schulsystem, das Leistungen bewertet. Der damit einhergehende Frust überträgt sich auf Familien und sorgt dafür, dass Beziehungen darunter leiden. Denn zu Hause gehen der Stress und die Konflikte weiter und führen so nicht selten zum Alltag eines heranwachsenden Menschen, der von schier unlösbaren Herausforderungen geprägt ist.
Wenn wir als erwachsene Menschen in einem Arbeitsverhältnis stecken, in dem unsere Vorgesetzten uns schlecht behandeln, haben wir die grundsätzliche Macht und Möglichkeit, den Job zu wechseln. Möglicherweise tun wir das nicht, zum Beispiel aufgrund unserer Ängste oder Überzeugungen, aber prinzipiell sind wir in der Lage, zu kündigen und uns eine Anstellung zu suchen, die uns eher entspricht. Genauso können wir verfahren, wenn wir in einer Beziehung stecken, in der wir keine Liebe mehr empfinden oder die sich auseinandergelebt hat, und auch wenn die Sitznachbarin beim Chor unangenehm riecht. In all diesen Situationen haben wir Fähigkeiten und Macht: Wir können aufstehen, den Platz wechseln, kündigen oder unsere Partner:innen verlassen. Wir können unsere Selbstwirksamkeit nutzen, um Lebens- oder Arbeitsumstände selbstermächtigt zu verändern. Diese Möglichkeiten haben unsere Kinder nicht.
Wir Eltern können sie nett und liebevoll behandeln oder sie zur Strafe auf ihr Zimmer schicken und ausschließen – doch ganz gleich, was wir tun, sie sind nicht in der gleichen Machtposition wie wir, ihre Umstände zu verändern. Nicht ohne uns. Wenn wir uns die Situation in Kita und Schule ansehen, wird schnell klar: Wir haben keinen Einfluss auf die Sitznachbar:innen. Ob die Fenster geöffnet sind, können wir nicht entscheiden. Wie gut oder schlecht unser Kind mit den anderen in der Klasse zurechtkommt, ist zufällig. Und wie wir es auch drehen und wenden: Unsere Kinder sind mit dem Risiko konfrontiert, sich unter Umständen mal in einem »Job« zu befinden, den sie blöd oder gar nicht auszuhalten finden – und sie können nichts tun. Das Schulprojekt ist Pflicht und muss erledigt werden, genau wie die Hausaufgaben und die nächste Klausur. Die Zusammenstellung der Kita-Gruppe ist unverrückbar und ein Wechsel nicht vorgesehen. All das legen erwachsene Menschen für sie fest, in aller Regel ohne jedes Mitbestimmungsrecht seitens der Kinder. Und damit ist klar und deutlich zu erkennen: Kinder haben nicht die gleichen Chancen und sind nicht mit der gleichen Macht ausgestattet wie Erwachsene.
Wie schlecht es mir getan hatte, acht Stunden am Stück zu sitzen, realisierte ich erst einige Jahre nachdem ich mich selbstständig gemacht hatte und so in der Lage war, meinem Körper stets die Bewegung zu geben, die er benötigte. In den Bürojobs, in denen ich vorher über Jahre gearbeitet hatte, war dafür kein Raum. Und wie viel Möglichkeit für Bewegung die Sitzplätze an Tischen in Schulen und Kitas so mitbringen, wissen wir alle. Mein eigener zirkadianer Rhythmus, also meine »innere Uhr«, hatte sich nie auf das frühe Aufstehen eingestellt. Wenn ich ehrlich bin, ist das noch heute so. Idealerweise beginnt der Tag nicht vor 7.15 Uhr und meine ersten Termine nicht vor 9.30 Uhr. Ein solcher Morgen lässt genügend Spielraum für meine Routinen, das Ankommen...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
ISBN-10 | 3-407-84741-6 / 3407847416 |
ISBN-13 | 978-3-407-84741-6 / 9783407847416 |
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