Lauter leise Kinder (eBook)
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2768-6 (ISBN)
Antje Kunstmann, geboren 1974, ist Redakteurin bei der Brigitte, im Ressort Gesundheit. Außerdem schreibt sie regelmäßig zu den Themen Psychologie, Familie und Erziehung. Sie ist promovierte Biologin, lebt in Hamburg und hat vier Kinder. Alle sind eher introvertiert, genauso wie ihre Mutter.
Antje Kunstmann, geboren 1974, ist Redakteurin bei der Brigitte, im Ressort Gesundheit. Außerdem schreibt sie regelmäßig zu den Themen Psychologie, Familie und Erziehung. Sie ist promovierte Biologin, lebt in Hamburg und hat vier Kinder. Alle sind eher introvertiert, genauso wie ihre Mutter.
Kapitel 1
Von still zu stark – lasst uns die Perspektive wechseln
Als ich die schwere Tür aufzog, war ich plötzlich wieder sechs. Ich schlüpfte hindurch, sie fiel mit einem leichten Scheppern hinter mir ins Schloss, und mich umfing dieser spezielle Reinigungsmittelgeruch, den man nur aus öffentlichen Gebäuden mit Linoleumböden kennt. Der Gang vor mir war seltsam niedrig, ein eingeschossiges Backsteingebäude aus den Sechzigern, als man noch großzügig in die Fläche gebaut hatte. An den Wänden hingen Bilder aus aufgeklebten Seidenpapierkügelchen und an den großen Fenstern hinaus ins Grün Figuren aus buntem Karton. Ich ging die Karawane lächelnder Pappkinder entlang, die sich auf den Scheiben an den Händen hielten. Ihre Frisuren aus Wollfäden hatten sich an einigen Stellen bereits von den Köpfen gelöst. »Willkommen Klasse 1a« verkündete ein Plakat zu meiner Rechten, daneben eine geöffnete Tür, auf die im oberen Drittel eine Sonnenblume geklebt war, mit einem Namen auf jedem Blütenblatt. Ein kleiner Flur mit einer Hakenleiste auf der linken Seite und dann das Klassenzimmer. Graue Tische waren in einem weiten U angeordnet, an einigen saß bereits jemand. Ich suchte das Schild mit dem richtigen Namen und blickte kurz in die Runde unbekannter Gesichter um mich herum. Ich setzte mich auf den viel zu kleinen Stuhl und stieß mir sofort das Knie an dem Drahtkorb unter dem Tisch. Das zumindest war neu: dass ich jetzt, ein gutes Vierteljahrhundert nach meiner eigenen Einschulung, schon rein körperlich nicht mehr in eine Grundschule passte.
Dieses Gefühl aber kannte ich noch: Die Lehrerin stand vorne und verkündete, wir wären nun alle der Reihe nach dran. Das mochte ich damals schon nicht und hasse es bis heute. Sofort begann ich also, mir Sätze zurechtzulegen, sie zu verwerfen, neue zu suchen und in Gedanken umzuformulieren. Fast hätte ich darüber die nächste Ansage der Lehrerin verpasst. »Und dann erzählen Sie uns bitte noch eine Sache, die Ihr Kind besonders gut kann«, sagte sie – und ich fühlte mich ertappt. Denn mir wurde schlagartig bewusst, dass ich gerade – und eigentlich sogar schon ziemlich lange – alles andere als die Stärken meiner Tochter im Kopf hatte.
Bevor ich zu diesem, ihrem ersten, Elternabend aufgebrochen war, hatte ich mich geärgert, weil beim Abendessen mal wieder die Hälfte neben das Glas gegangen war, als sie sich Wasser einschenken wollte. Ich hatte mich mit ihr gestritten, wie lange der Fernseher laufen durfte. Die üblichen alltäglichen Nervereien halt. Vor allem aber hatte ich mir auf dem Weg hierher wie so oft in den vergangenen Wochen mal wieder Sorgen gemacht: Würde sie sich in der fremden Umgebung zurechtfinden? Würde sie untergehen im Reiz-Tsunami von Schulunterricht am Morgen und Hortbetreuung am Nachmittag? Würde sie Freundschaften schließen? Vertrauen zu den Lehrerinnen fassen? Gern herkommen? Und ganz konkret: Würde sie bei der Einschulung in ein paar Tagen wirklich in der Aula allein nach vorne gehen, wenn ihr Name aufgerufen würde? Schließlich hatte ich erst am vergangenen Wochenende eine Stunde auf einem Kindergeburtstag ausharren müssen, bis sie meine Hand los- und mich gehen ließ. Ein Kindergeburtstag wohlgemerkt, auf dem sie alle anwesenden Kinder kannte.
Nun also Stärken … Einen kurzen Augenblick war ich ratlos.
Mein Glück war, dass ich irgendwo im hinteren Drittel saß. Ich hatte also Zeit genug, den Schalter umzulegen und mein Kind endlich mal wieder so zu sehen, wie es eben auch war: ein wunderbarer, faszinierender sechsjähriger Mensch, den ich über alles liebte. In mir wurde es ruhig und warm. »Sie ist sehr fantasievoll und denkt sich großartige Geschichten aus«, sagte ich, als ich an der Reihe war. Ganz spontan, ich hatte gar nicht lange darüber nachgedacht.
Diesen Moment rufe ich mir in Erinnerung, wenn ich mal wieder Gefahr laufe, die Stärken eines meiner Kinder (oder die einer Kollegin, eines Freundes oder meine eigenen) aus dem Blick zu verlieren. Inzwischen passiert mir das zum Glück nur noch selten. Man kann es tatsächlich trainieren, sich auf das zu fokussieren, was gut ist. Einmal kurz innehalten, tief durchatmen, Angst, Ärger, Enttäuschung für einen Moment los- und Liebe und Wertschätzung zulassen. Das bedeutet nicht, Schwierigkeiten oder Konflikte auszublenden oder zu übersehen, aber sie ins Verhältnis zu setzen zu dem, was sonst noch da und gut ist. Oft werden Probleme dann ganz von selbst kleiner, man erkennt Zusammenhänge und Möglichkeiten, sie zu lösen, oder – noch besser – gewinnt Vertrauen, dass sie gar nicht aktiv gelöst werden müssen.
Die Stärken in den Blick zu nehmen, wird einem beim Thema »Stillsein« allerdings alles andere als leicht gemacht. Natürlich ist es toll, dass leisere Menschen überhaupt öffentlich wahrgenommen werden. Das war anders, als ich klein war. Aber als vor zehn Jahren das Buch Quiet. The power of introverts in a world that can’t stop talking (deutsch: Still. Die Kraft der Introvertierten) der US-Amerikanerin Susan Cain herauskam, wurde es direkt ein Bestseller und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Seitdem titelte Der Spiegel: »Die Kraft der Stillen« und das Time Magazine: »The power of shyness«, und weitere Bücher zum Thema erschienen und erscheinen. Aber hat sich wirklich etwas daran verändert, wie wir stille Menschen sehen? »Die Introversion – zusammen mit ihren Attributen der Empfindsamkeit, Ernsthaftigkeit und Schüchternheit – gilt heute als ein Persönlichkeitsmerkmal zweiter Klasse, das irgendwo zwischen enttäuschenden und pathologischen Merkmalen angesiedelt ist«, schreibt Susan Cain.1 Das klingt hart, aber ich bin davon überzeugt, dass dieses negative Image tatsächlich bis heute sehr tief sitzt und sich daran allen Veröffentlichungen und aller Aufklärung zum Trotz noch nicht wirklich grundlegend etwas verändert hat.
Machen wir einen kleinen Test: Lies dir folgende Liste an Eigenschaften durch und kreuze spontan drei davon an, die du dir für dein Kind wünschen würdest. Wem das komisch vorkommt – das Magische und gleichzeitig Beängstigende daran, Kinder zu bekommen, ist ja, dass es eben kein Wunschkonzert ist –, kann auch gerne drei Eigenschaften wählen, deren Trägerin oder Träger man gerne kennenlernen möchte.
- verschlossen
- distanziert
- zugeknöpft
- weltoffen
- kontaktfreudig
- kühl
- reserviert
- aufgeschlossen
- freundlich
- gesellig
Die Liste besteht aus Synonymen, die für die Wörter »introvertiert« (verschlossen, distanziert, zugeknöpft, kühl, reserviert) beziehungsweise »extrovertiert« (weltoffen, kontaktfreudig, aufgeschlossen, freundlich, gesellig) vorgeschlagen werden, und wenn du drei aus der »introvertiert«-Gruppe angekreuzt hast, kannst du dieses Buch sofort weglegen.
Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass deine Wahl, genau wie meine, dreimal in die Kategorie »extrovertiert« gefallen ist. Es scheint also tatsächlich so zu sein, als wäre unser Bild von stillen Menschen von Grund auf ziemlich trübe und wenig attraktiv. Und ja, ich sage unser Bild, denn ich meine dabei auch die Stillen selbst – mich eingerechnet. Susan Cain zitiert in ihrem Buch eine Untersuchung, nach der Introvertierte sehr lebendige Ausdrücke benutzen, wenn sie sich selbst beschreiben (»grünblaue Augen«, »exotisch«, »hohe Wangenknochen«), aber öde Begriffe wie »unbeholfen« oder »farblos«, wenn es um introvertierte Personen im Allgemeinen geht. Ich finde das erschreckend, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht genauso verhalten würde. Ich fühle mich ertappt – wieder einmal.
Aber vielleicht muss das manchmal auch genauso sein: Nur wer sich seiner begrenzten Perspektive, seiner Vorurteile und Voreingenommenheit bewusst ist, kann schließlich etwas dagegen tun und den Schalter umlegen.
Einen Perspektivwechsel braucht es auch, wenn es um »echte« Schwächen geht. Um zu erklären, was ich damit meine, muss ich ein bisschen ausholen. Eine meiner Töchter hat eine Behinderung. Als die diagnostiziert wurde, war sie ein paar Monate alt und wir begannen, zur sogenannten Frühförderung zu gehen. Einmal die Woche zu einer Uhrzeit, über die ich mich noch heute wundere, nämlich um 7:45 Uhr. Das heißt, wir mussten um kurz vor sieben aus dem Haus, fuhren unausgeschlafen mit Bus und Bahn quer durch die halbe Stadt und verbrachten anschließend 45 Minuten auf grauem Nadelfilz. Damit war der klassenzimmerähnliche Raum ausgelegt. Es war freudlos bis zur Beklemmung. Keinen Augenblick ließ uns die Frühförderin vergessen, warum wir da waren: Ich hatte ein Kind, das irgendwie nicht in Ordnung war, und wurde auch selbst so behandelt, als sei ich nicht ganz in Ordnung. Dass unsere Tochter ein quietschvergnügtes, süßes Baby war, dass wir als Familie sie genau so mochten, wie sie war, spielte überhaupt keine Rolle.
Der Weg zurück nach Hause war jedes Mal wie ein Rauszoomen...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Psychologie | |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Persönlichkeitsstörungen | |
Schlagworte | Abgrenzung • Ängste bei Kindern • Autismus • Eltern • Eltern-Kind-Beziehung • Empathie • Geschenk • Hilfe • Hochsensibel • Introvertiert • Kind • Kinder • Kreativität • Mutter • Ratgeber • Reizüberflutung • Schüchtern • Selbstbewusstsein • Selbstfürsorge • Spektrum |
ISBN-10 | 3-8437-2768-6 / 3843727686 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2768-6 / 9783843727686 |
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