60° Nord (eBook)

Von der Faszination des Nordens und der Suche nach einem Zuhause

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
288 Seiten
btb Verlag
978-3-641-24954-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

60° Nord - Malachy Tallack
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»Die wahre Stärke dieses Buches liegt in Tallacks Blick: Es ist der Blick eines Poeten.« New York Times / Die besten Reisebücher der Saison
Malachy Tallack begibt sich auf eine Reise entlang des 60. nördlichen Breitengrades, einmal rund um die Welt, und er beginnt und endet in Shetland, wo er den Großteil seines Lebens verbracht hat.

Das Buch erzählt von den Landschaften - in Grönland, Alaska, Sibirien, Finnland - und den Menschen dort, ihrer Geschichte und der wechselseitigen Prägung durch Mensch und Natur. Es ist jedoch auch eine intime Reise: Malachy Tallack hat den Verlust seines Vaters zu betrauern, und er hadert mit seiner Heimat. Durch die Auseinandersetzung mit den Themen Wildnis und Gemeinschaft, Isolation und Dialog, Exil und Gedächtnis, durch seinen klaren, kritischen Blick und die offene Selbsterforschung wird der Reisebericht des schottischen Autors zu einem anschaulichen, spannenden und sehr persönlichen Memoir.

Malachy Tallack ist Schriftsteller, Singer-Songwriter und Journalist. 2014 gewann er den New Writers Award des Scottish Book Trust und 2015 die Robert Louis Stevenson Fellowship. Mit seinem ersten Buch »60º Nord« kam er auf die Shortlist des Saltire First Book Award, das zweite, »Von Inseln, die keiner je fand«, wurde 2016 bei der Verleihung der Edward Stanford Travel Writing Awards als Illustrated Travel Book of the Year ausgezeichnet. Beide Bücher beschäftigen sich mit Nature Writing, Geschichte und Memoir. Sein Debütroman »Das Tal in der Mitte der Welt« kam 2018 auf die Shortlist des Highland Book Prize und wurde für den Royal Society of Literature Ondaatje Prize nominiert. Malachy Tallack ist in Shetland aufgewachsen und lebt aktuell in Stirlingshire.

SHETLAND
zwischen dem Hügel und dem Meer


Auf der Fahrt durch die Dörfer von Bigton und Ireland am Südende der Hauptinsel Shetlands war die Sonne eisig strahlend und der Himmel ein poliertes, kaum von Wolken getrübtes Blau. In einer halben Meile Entfernung lag der Atlantik da wie eine Wüste, der Horizont war eine weiche, stumpfe Grenze, die einen Blick unterbrach, der ansonsten um die ganze Erde hätte reichen können. An Tagen wie diesem ist es schwer, ans Weggehen zu denken. Tage wie dieser löschen alle anderen Tage aus.

Die schmale Straße, auf der ich fuhr, senkte sich zur Küste hin und ging dann über in einen unbefestigten Weg. Etwa eine Meile hinter dem letzten Haus hielt ich an, parkte das Auto und stieg aus. Die Luft war ruhig und still und so warm, dass ich meine Jacke zurücklassen konnte. Es fühlte sich gut an, hier zu sein, den Tag zu bewohnen. Irgendwo an diesem Küstenstreifen verband der sechzigste Breitengrad den Ozean mit der Insel, verlief unmarkiert zwischen Land und Wasser. Nach ein paar Meilen in östlicher Richtung würde er wieder auf den Ozean treffen und Shetland mit Norwegen verbinden. Als ich die Klippenkuppe erreichte, zog ich die Karte aus meiner Tasche und faltete sie auf, um den Raum zwischen dem Ort, wo ich war, und dem, wo ich sein wollte, zu erkunden. Die Linien auf der Karte waren solide und klar und trennten das blaue Wasser vom weißen Land. Alles auf der Seite war seiner selbst gewiss, aber die Welt direkt vor mir war nichts dergleichen. Ich brauchte einen Augenblick, um diese zwei Bilder zusammenzubringen, sie zu verschmelzen und mir vorzustellen, wie sie miteinander versöhnt werden könnten.

Ich stand auf dem Klippenrand einer Bucht mit steilen Flanken, einem geo, vielleicht dreißig Meter über dem Wasser. Von hier aus fiel das Land nahezu senkrecht zu einem felsbestreuten Strand ab und dann zum Wasser, wo eine dicke Matte Seetang vom Rückfluss der Ebbe verwirbelt wurde. Ein halbes Dutzend Seehunde verließen, aufgeschreckt von meiner Silhouette, ihre Plätze auf den Felsen und schleppten sich zurück ins Wasser. Sobald sie in Sicherheit waren, drehten sie sich um, um sich diese Gestalt hoch über ihnen genauer anzuschauen, unfähig, ihre Neugier zu zügeln. Knapp vor der Küste lagen drei Schären, übersät mit Kormoranen, die ihre schwarzen Flügel streckten, während um sie herum das Meer im Sonnenlicht zitterte und schwappte. Weit dahinter im Nordwesten lag die Insel Foula wie eine große Welle am Horizont. Wenn ich meinen Kartenlesefähigkeiten trauen konnte, waren diese Schären die Billia Cletts, also befand ich mich ein paar Hundert Meter weiter südlich der Stelle, wo ich sein wollte. Während ich vorsichtig am Klippenrand entlangging, waren die Seehunde unter mir noch sichtbar, ihre dicken Körper dunkel im klaren Wasser. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, auf grauen Felsen, die strotzten vor Farben; jeder Stein war mit gelb-orangen Flechten gesprenkelt, in jedem Riss und jeder Spalte prangten rosafarbene Grasnelken.

Die Klippen an diesem Küstenstreifen sind durchlöchert von Höhlen, Grotten und geos, extrem schmalen Einbuchtungen. Im Winter spürt diese Seite Shetlands die volle Wucht des Atlantiks und der südwestlichen Stürme, die über das Meer donnern. Wellen, die ihr Leben Tausende Meilen entfernt begannen, finden den Weg an diese Küsten und werden unterwegs größer und mächtiger. Wasser gräbt sich ins Land, wirft riesige Felsbrocken die Klippen hoch wie Murmeln. Bei der Betrachtung der vielen zerklüfteten Küsten dieser Welt schloss Rachel Carson in ihrem Buch Geheimnisse des Meeres: »Es ist unwahrscheinlich, dass irgendeine Küste wütender von den Wellen des Meeres heimgesucht wird als die der Shetlands und der Orkneys.« Sommergäste mögen denken, dass diese Inseln nur ein zaghafter Norden sind, ein Ort, der geschützt ist vor den klimatischen Härten anderer nordischer Länder. Aber bringt man diese Besucher mitten in einem Wintersturm zurück, würden sie ganz anders empfinden. Dies ist einer der windigsten Orte Europas, und das Erzählen von Geschichten vergangener Stürme ist eine der Lieblingsbeschäftigungen der Insulaner. Da war zum Beispiel der »Hogmanay-Hurrikan« von Silvester 1991, in dem Böen von 173 Meilen pro Stunde aufgezeichnet wurden, bevor der Windmesser aus dem Boden gerissen wurde. Dann ist da noch der Januar 1993, der rekordverdächtige fünfundzwanzig Tage lang Stürme brachte und den Öltanker Braer an der Küste knapp südlich des Breitengrads verunglücken ließ. Wind ist das dominante und extremste Element des Shetland-Klimas. Manchmal kann er so absolut unnachgiebig sein, dass die Luft selbst zu einer körperlichen Präsenz wird, solide wie eine geballte Faust. Und an den seltenen ruhigen Tagen kann sein Fehlen schockierend und wunderbar sein.

Diese Gewalt des Winds und des Meers und seine Gletschervergangenheit machen Shetlands Küstensaum zu dem, was er ist: eine zerklüftete, fraktale Form. »Man kann sich kaum etwas vorstellen«, schrieb John Shirreff im Jahr 1814, »das unregelmäßiger ist als der Umriss dieser Insel.« Nach der Ordnance Survey, der topografischen Karte, umfasst Shetlands Küstenlinie mit 1700 Meilen 16 Prozent von Schottlands gesamter – und ein Blick auf die Karte zeigt, warum. Die größte der Inseln – als Mainland, Hauptinsel, bekannt – ist von Süden nach Norden fünfzig Meilen lang und von Westen nach Osten maximal nur zwanzig Meilen breit. Aber nirgendwo ist man weiter als drei Meilen vom Meer entfernt. Das südliche Ende ist eine Halbinsel, fast dreißig Meilen lang und kaum drei breit, die wie ein Finger von der Faust des zentralen Mainland nach unten ragt. Weiter nördlich ist die Küste eine Ansammlung von Stränden, schmalen Einbuchtungen, steilen Klippen und engen Meeresarmen, voes genannt. Diese voes sind wie Minifjorde, tiefe Täler, die nach der letzten Eiszeit vom steigenden Meer geflutet wurden. Sie fressen sich ins Land, erzeugen Entfernung und machen den Ozean immer und überall unentrinnbar.

Als Shetland vor 12 000 Jahren aus dem Eis auftauchte, war es ein leerer Ort. Es gab keine Vegetation, keine Vögel, keine Säugetiere, überhaupt kein Leben. Es war ein kahler Raum, der darauf wartete, gefüllt zu werden. Und als das Klima sich stetig verbesserte, setzte dieser Füllungsprozess ein. Flechten, Moose und niedrige Sträucher waren die ersten Kolonisten, gefolgt von Seevögeln, die das überreiche Nahrungsangebot des Nordatlantiks nutzten. Immer mehr Vögel kamen, und sie brachten die Samen anderer Pflanzen mit sich, an ihren Füßen und in ihren Mägen.

Die ersten Landsäugetiere in Shetland waren Menschen, die vor etwa 6000 Jahren ankamen. Die Inseln, die diese ersten Einwanderer antrafen, sahen ganz anders aus als die heutigen Inseln. Niedrige Wälder dominierten – Birke, Wacholder, Erle, Eiche, Weide – wie auch hohe Kräuter und Farne, vor allem in Küstennähe. Es war ein üppiger, grüner und milder Ort, und der Mangel an jagdbaren Landtieren, Rotwild vor allem, wurde mehr als wettgemacht durch das Fehlen von Raubtieren und anderen Konkurrenten. Es gab weder die Wölfe noch die Bären, die die Siedler in Schottland zurückgelassen hatten. Hier fanden sie eine Überfülle von Vögeln, die Fleisch und Eier lieferten, wie auch Seehunde, Walrösser, Wale und Fische.

Die frühe Besiedelung Shetlands fiel zusammen mit den späteren Phasen einer bedeutsamen Veränderung der Lebensweise im nördlichen Europa. Die Landwirtschaft, die im »Fruchtbaren Halbmond« des Nahen Ostens ihren Anfang genommen hatte, breitete sich immer weiter nach Westen und nach Norden über den Kontinent aus, da sich das Klima verbesserte und stabilisierte. Land, das einst vom Eis blank gescheuert und vernarbt worden war, verwandelte sich unter den Händen der Menschen. Wälder wurden gefällt und verbrannt, und der frei gewordene Raum wurde Haustieren übergeben. Die frühen Shetlander waren auch frühe Bauern, und es ist schwer, von ihren Leistungen nicht beeindruckt zu sein. Dass es ihnen gelang, die gefährlichen Gewässer zwischen Britannien und den Inseln in ihren zerbrechlichen mit Häuten bespannten Booten zu überqueren, und zwar in ausreichender Zahl, um größere Siedlungen zu bilden, ist erstaunlich genug. Aber dass sie es auch schafften, beträchtliche Mengen Vieh mitzunehmen – Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder –, ist doppelt beachtlich. Diese Tiere sowie die Menschen, die sie mitbrachten, sollten sich als der wichtigste Faktor in der Veränderung und Umgestaltung des Landes nach Rückzug des Eises erweisen.

Für die Siedler lag Shetland am äußersten Ende der Welt. Es war so weit nördlich, wie man von Britannien aus nur kommen konnte, und die Leute, die sich dafür entschieden, gingen enorme Risiken ein. Warum machten sie sich die Mühe? Was zog sie nordwärts? Konnte es sein, dass es die reine Abenteuerlust war – dass die Klippen Shetlands, die von Orkney aus am Horizont gerade noch sichtbar waren, die Leute so sehr reizten, dass sie nicht länger widerstehen konnten? Wollten da Menschen ganz einfach nur die Grenzen des Möglichen erkunden?

Es ist verlockend zu vermuten, dass es so gewesen sein könnte. Aber es gibt Alternativen. Da ist vor allem die Möglichkeit, dass die Entwicklung der Landwirtschaft selbst die Siedler weitergetrieben haben könnte. Veränderungen der Landnutzung im nördlichen Britannien übten Druck auf den verfügbaren Raum aus und erzeugten Spannungen und Konflikte zwischen benachbarten Stämmen. Eine Gesellschaft ohne Mauern oder Grenzen entwickelte sich zu einer, in der sie wesentlich waren. Vielleicht war es genau diese Spannung, die die Leute in den Norden nach Shetland trieb.

Jetzt wehte eine leichte Brise,...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2022
Übersetzer Klaus Berr
Zusatzinfo Bei den Abbildungen handelt es sich um Illustrationen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte
Schlagworte 2022 • 60. Breitengrad • Alaska • eBooks • Einmal um die Welt • Finnland • Grönland • Kanada • Memoir • Neuerscheinung • Norwegen • Reiseliteratur • Reisen • Schweden • Shetland • Sibirien • St. Petersburg
ISBN-10 3-641-24954-6 / 3641249546
ISBN-13 978-3-641-24954-0 / 9783641249540
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