Was wird es denn? Ein Kind! -  Ravna Marin Siever

Was wird es denn? Ein Kind! (eBook)

Wie geschlechtsoffene Erziehung gelingt
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
285 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86653-0 (ISBN)
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Für Eltern, die bindungs- und bedürfnisorientiert erziehen, ist die Selbstbestimmung des Kindes ein wichtiger Wert. Das bedeutet, auch auf Geschlechterstereotype zu verzichten und die freie Herausbildung der kindlichen (Geschlechts-)Identität zu ermöglichen. Diese findet überwiegend während der ersten 10 Lebensjahre statt. Dass Geschlecht eine soziale Konstruktion und nicht binär, sondern vielfältig ist, beschreibt Ravna Marin Siever anschaulich und einfühlsam anhand der Erkenntnisse der Gender Studies sowie zahlreicher Erfahrungsberichte von Eltern und Situationen im Alltag. Es gibt Kinder, die weder männlich noch weiblich sind, egal welchen Normierungsdruck Mütter, Väter oder die Gesellschaft ausüben. Siever erklärt, wie Kinder lernen, wer sie sind, und warum es wichtig ist, dass sie sich selbst einer Geschlechtsidentität zuordnen können. Das Buch bietet Eltern Entlastung, egal ob ihr Kind alle rosa-hellblau-Klischees auslebt, geschlechtsnonkonform, nicht binär oder trans ist.

Ravna Marin Siever hat Philosophie, Germanistik und International Management studiert und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit gender- und queer-theoretischen Ansätzen u.a. in der Erziehung. Sier ist Elter von drei Kindern und lebt mit siener Familie am Berliner Stadtrand. Ravna Siever hat einen Blog (queErziehung), ist auf Instagram aktiv und twittert über geschlechtsoffene Erziehung. Sier hält Vorträge in Kitas und auf Familien-Kongressen wie der FEBuB.

Wisst ihr denn schon, was es wird?


Stolz schob ich meinen schon sichtbaren Drei-Monats-Bauch auf der Familienfeier vor mir her. Uns wurde gratuliert. Und dann – die Frage: »Wisst ihr denn schon, was es wird?«

Wir hatten beschlossen, dass wir »es« uns nicht sagen lassen wollten. Anfangs war uns dabei vor allem wichtig, unser Kind vor Zuschreibungen, die andere möglicherweise machen, zu bewahren. In Spielzeugläden und Bekleidungsgeschäften hatten wir sie ja gesehen, die zwei Inseln, die Kindern zur Verfügung gestellt werden: die eine rosa und zart pastellig, voller Puppen, Zauberwesen und allem, was schön und lieblich ist; die andere blau und tarnfarben, voller Autos, Superhelden und allem, was stark und mutig ist.

Statt also das gemutmaßte Geschlecht herauszuposaunen und damit den Startschuss für die Eingewöhnung auf der einen oder anderen Insel zu geben, sagten wir: »Wir wollen es nicht wissen«, und wünschten uns vor allem buntes Spielzeug und Babykleidung, die weder rosa noch hellblau war.

Aber wir lernten bald, dass die Zuschreibungen durch andere auch passierten, wenn wir »es« nicht verrieten. »Du strahlst so richtig, das wird ein Junge!«, sagte mir eine Verwandte – denn angeblich stehlen Mädchen die Schönheit Schwangerer. »Das wird ein Mädchen, dein Bauch ist so rund!«, wusste ein Kollege, denn einige glauben, dass spitze Bäuche, die in der Rückansicht kaum zu sehen sind, eher Jungen hervorbringen, runde Bäuche dagegen Mädchen. Es gab kein Entkommen vor den Klischees und Annahmen über Geschlecht.

Ich kann die Sehnsucht danach, etwas über das Kind zu erfahren, das bald in eine Familie kommen wird, bestens verstehen. Natürlich sind wir neugierig, wer da zu uns kommen wird. Wird es ein kleiner Wirbelwind, ein Frechdachs, eine Leseratte? Selbstverständlich haben wir Hoffnungen und vielleicht Erwartungen an das Kind, manche ganz bewusst, manche sehr verborgen. Wird es die kleinen Löckchen und die süßen Grübchen bekommen? Die Nase erben, für die wir selbst immer gehänselt wurden? Wird es unser Hobby teilen?

Das Geschlecht ist dabei etwas, das sich vermeintlich schon vor der Geburt erkennen lässt. Denn wir alle wissen ja, dass Jungs einen Penis und Mädchen eine Vulva haben. Oder?

Ich wusste vieles von dem, was ich in diesem Buch schreiben werde, noch nicht, als wir unser erstes Kind bekamen. Ich wusste, dass ich »es« nicht wissen wollte und dass ich es nicht gut fand, Kinder mit Farben zu codieren. Auf die Frage, wie wir die Einrichtung für das Kinderzimmer besorgen würden, ohne zu wissen, welches Geschlecht unser Kind haben würde, antwortete ich: »Na ja, mit viel Holz und bunt.«

Im Laufe der Schwangerschaft wurden wir immer mehr damit konfrontiert, dass »bunt« für Kinder gar nicht so einfach ist. In der Welt der Spielzeug- und Babyausstattungsläden dominieren zwei Farben, zwei mögliche Arten, wie ein Kind sein kann, zwei meist strikt getrennte Bereiche.

Wir waren schockiert. Wir suchten nach bunter Kinderkleidung, Kleidung mit hauptsächlich bequemen Schnitten, Kleidung, die nicht förmlich schrie »Dieses Kind hat einen Penis!« oder »Dieses Kind hat eine Vulva!«, denn das ist es ja, worauf diese Farbcodes hinauslaufen. Das niederschmetternde Ergebnis war, dass Kinderkleidung, die nicht darauf ausgelegt ist, Dritten das Geschlecht des kleinen Menschen zu verraten, entweder langweilig, selbst gemacht oder teuer ist.

Ich hatte mich im Studium viel mit Geschlechterstereotypen auseinandergesetzt – aber hauptsächlich bei Erwachsenen und zumeist in der Darstellung in Büchern, Filmen und Computerspielen. Geschlechterstereotype sind die Annahmen über Geschlecht, die in unserer Gesellschaft verankert sind. Es sind recht starre Vorstellungen über charakteristische Merkmale von Personen eines bestimmten Geschlechts.

Wie extrem Kinder unter den Stereotypen leiden, wie sehr Werbung auf Geschlecht abzielt und wie sehr das unsere Kinder von Beginn an prägt, begann ich erst im Rahmen meiner eigenen Elternschaft zu begreifen. Ich begann zu lesen, zu recherchieren und schließlich auch darüber zu bloggen: Wo kommt das her, was macht das mit unseren Kindern, und wie können wir etwas dagegen tun?

Dabei begegneten mir viele andere Eltern. Eltern, die sich sorgten, weil ihr Kind aneckte mit seinem nicht geschlechtskonformen Verhalten. Eltern, deren vermeintliches Mädchen immer wieder sagte, dass es ein Junge sei, und die nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Eltern, die sich fragten, warum ihr Kind denn wirklich alle Stereotype ausleben muss, obwohl sie sich immer bemüht haben, dem Kind möglichst wenig davon mitzugeben. Geschlecht ist in unserer Gesellschaft eine massiv präsente Kategorie. Menschen, egal welchen Geschlechts, haben so viel mehr gemeinsam, als sie unterscheidet, und dennoch wird im Alltag an allen möglichen und unmöglichen Stellen in männlich und weiblich unterschieden. Das fängt da an, wo wir aufs Klo gehen, und endet bei Chips, die an Männer und Frauen vermarktet werden, je nach Geschmacksrichtung.

Natürlich ist es da schwer, unsere Kinder zu begleiten, ohne dass sie mit diesen Geschlechterbildern in Berührung kommen oder maßgeblich von ihnen beeinflusst werden. Aber viele Menschen wollen das zumindest versuchen.

Für einen Erziehungsstil, bei welchem versucht wird, möglichst frei von geschlechtlichen Stereotypen zu erziehen, gibt es unterschiedliche Bezeichnungen. Im englischen Sprachraum wird meist von »gender neutral parenting« (geschlechtsneutraler Elternschaft), kurz GNP, gesprochen, manchmal auch von »gender creative parenting« (geschlechtskreativer Elternschaft). Im deutschsprachigen Raum ist auch »geschlechtersensible« oder »geschlechtergerechte« Erziehung« gebräuchlich.

Ich selbst spreche am liebsten von »geschlechtsoffener« Erziehung. Ich möchte damit den Fokus darauf legen, dass sich die Kategorie »Geschlecht« in einer Gesellschaft, die sogar Toilettenreinigungssteine für Männer und Frauen entwirft, nicht einfach neutralisieren lässt. Mir ist es wichtig, Kindern zu zeigen, dass ihr Geschlecht ihnen offen ist. Dass sie selbst äußern können, welches Geschlecht sie haben und wie sie es in die Welt tragen. Es geht nicht darum, Kinder zu geschlechtsneutralen Wesen zu machen – sondern darum, sie sie selbst sein zu lassen, möglichst frei von schädlichen Geschlechterstereotypen.

Kinder haben ein Bedürfnis danach, gesehen zu werden als die Menschen, die sie sind. Schüchtern oder offenherzig, mutig oder zaghaft, wild oder sanft oder alles ein bisschen. Dazu gehört auch, dass sie ihre geschlechtliche Identität finden dürfen. Junge? Mädchen? Kind? Ein bisschen von beidem? Oder einfach nur sie selbst?

Es ist kein Problem, wenn sich ein Kind aus einer breiten Vielfalt für das entscheidet, was Stereotypen und geschlechtlicher Zuweisung entspricht. Aber es ist ein Problem, wenn ein Kind aufgrund von Stereotypen keine Vielfalt angeboten bekommt oder sich nicht traut, daraus zu wählen. Denn dann werden Kinder eingeschränkt in ihrem »sie selbst sein«. Erleben Kinder einen Bruch zwischen ihrer selbst erlebten Identität und der Erwartungshaltung an ihre Identität durch ihr Umfeld, ist die psychische Belastung enorm hoch. Häufig sind Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, die Folge. Jugendliche, deren geschlechtliche und sexuelle Identität nicht mit dem übereinstimmt, was gesellschaftlich und insbesondere innerhalb der Familie von ihnen erwartet wird, denken dreimal so häufig wie andere Jugendliche, nämlich zu 40 Prozent1, über Suizid nach. Ein unterstützendes privates Umfeld senkt dieses Risiko enorm. Die Zahlen, wie viele Kinder das betrifft, schwanken zwischen zwei und zehn Prozent.

Weil ich selbst trans bin, mich in Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht verliebe und meinen Kindern stets vermittle, dass nur sie der Welt sagen können, wer sie sind und wie sie lieben, werde ich oft gefragt, was ich davon halten würde, wenn sich herausstellen sollte, dass meine Kinder heterosexuell sind und sich in dem Geschlecht wohlfühlen, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde – und das vielleicht auch noch stereotyp ausleben. Viele Menschen scheinen von mir zu erwarten, dass das etwas ist, was mich enttäuschen könnte. Oder noch extremer: etwas, was ich meinen Kindern aberziehen möchte.

Ich will aber meinen Kindern eigentlich gar nichts an- oder aberziehen. Eigentlich will ich gar nicht an ihnen rum(er)ziehen. Ich möchte sie nur begleiten. Meine Kinder können mich nicht enttäuschen, weil sie sind, wie sie sind. Ich versuche, mir kein Bild davon zu machen, wie sie sein sollen. Das ist schwer und gelingt nicht immer. Natürlich habe...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
ISBN-10 3-407-86653-4 / 3407866534
ISBN-13 978-3-407-86653-0 / 9783407866530
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