Mauern des Schweigens (eBook)

Eine Kindheit voller Hass und Gewalt, eine lange und schmerzhafte Suche nach der Wahrheit
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Aufl. 2022
226 Seiten
Lübbe (Verlag)
978-3-7517-2521-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mauern des Schweigens - Catherine Barneron
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Erst als Erwachsene erfährt Catherine, dass der Mann, den sie bisher für ihren Vater hielt, nicht ihr leiblicher Vater war. Doch ihre Mutter weigert sich, die brennenden Fragen ihrer Tochter zu beantworten. In Catherine steigen plötzlich längst vergessen geglaubte Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit auf: die ersten sechs Jahre, die sie bei Pflegeeltern aufwuchs, das überraschende Auftauchen ihrer Eltern, die Erniedrigungen, der Hass, die Gewalt und der Missbrauch, die sie sechs Jahre lang erdulden musste, bis sie endlich in ein Kinderheim kam. Als ihr Mann beginnt, ihre Spur in die Vergangenheit zu verfolgen, um das Rätsel ihrer Herkunft zu ergründen, wird ihr klar, dass sie sich Wahrheiten stellen muss, die bislang tief in ihr vergraben waren. Doch zunächst stößt sie bei allen, die sie befragt, auf eine Mauer des Schweigens.



<p>Catherine Barneron ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern und lebt heute im Südosten von Frankreich.</p>

Catherine Barneron ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern und lebt heute im Südosten von Frankreich.

VORWORT


Im Süden meines Landes drängen sich die Menschen entlang der Hauptverkehrsstraßen, wenn die Stiere durch die Stadt getrieben werden. Den Leuten gefällt es zu spüren, wie der Boden unter ihren Füßen erzittert, wenn die Tiere sich donnernd vorbeiwälzen, sie jubeln den Manadiers (Rinder-, Stier- oder Pferdehirten in der Provence) zu, die hinter den Stieren herreiten, und atmen lachend den aufgewirbelten Staub ein. Ein solches Ereignis bezeichnet man bei uns als »abrivado«.

An einem Morgen im Mai 1993 wurden acht Camargue-Stiere von mit Piken bewaffneten Reitern auf diese Art durch die Straßen von Nîmes getrieben. Als die Tiere im Galopp den Boulevard erreicht hatten, der zur Arena führte, löste sich eine Frau aus der Menge und versperrte, alle Warnrufe ignorierend, Reitern und Stieren den Weg. Dem ersten Reiter gelang es noch, ihr auszuweichen, aber der nachfolgende erwies sich als weniger geschickt: Die Unglückliche wurde zu Boden geschleudert und geriet unter die Hufe zweier Pferde. Sie bäumten sich wiehernd vor der Menschenmenge auf, die vor Schreck erstarrte. Dann stürzte ein Mann vor, um der Leichtsinnigen aufzuhelfen, und während die Herde sich entfernte, trug er sie zu einer Ambulanz, die sie ins Krankenhaus brachte. Die Sanitäter stellten vier Gramm Alkohol im Blut der Verletzten fest, obgleich diese behauptete, nur ein Bier getrunken zu haben. Vier Gramm … Eine Säuferin. Der Unfall machte in der Stadt Schlagzeilen und überschattete den Beginn der Feria. Zufällig war ich selbst unmittelbar betroffen von dem Zwischenfall, denn es handelte sich bei der Säuferin um meine Mutter.

An Beinen und Rückgrat verletzt, musste Suzanne fast einen Monat im Krankenhaus bleiben. Wie ich schon sagte, war sie meine Mutter, und doch nenne ich sie wie eine Fremde beim Vornamen. Suzanne. Jahrelang hat diese Frau mich gequält, seelisch und körperlich. Ich komme später noch auf die Misshandlungen zu sprechen, die ich durch sie in meiner Kindheit erdulden musste; es genügt hier zu wissen, dass es sie gegeben hat, um die ganze Ironie der Situation zu begreifen: Als sie nämlich nach dem Unfall in Nîmes im Rollstuhl saß, war ich das einzige ihrer Kinder, das ihr Hilfe anbot. Sie nahm an, was mich nicht wunderte: Trotz ihres Hasses auf mich hat sie sich in schweren Zeiten immer an mich gewandt.

Und so half mein Mann Claude mir, die Rekonvaleszente zu uns nach Hause zu bringen. Er hatte für ihre Aufnahme zur Bedingung gemacht, dass sie sich nicht in unserem Haus betrank. Die paar Wochen im Krankenhaus hatten sie bereits auf Alkoholverzicht eingestimmt. Und so bezog Suzanne bei uns Quartier. Sie fügte sich in unseren Alltag ein, war lieb zu den Kindern und legte keinerlei Ungeduld wegen ihrer Behinderung an den Tag. Andererseits ging jedoch auch keinerlei Wärme von ihr aus. Ihre Zurückhaltung war vielmehr irritierend, und ihr Schweigen wurde mit jedem Tag erdrückender. Beinahe hätte man meinen können, wir würden eine in sich gekehrte Fremde beherbergen, die rein zufällig bei uns gelandet war.

Diese Kälte mochte Claude oder meinen Sohn belasten; mich berührte sie nicht. Ich hatte es schon vor viel zu langer Zeit aufgegeben, Suzannes Zuneigung erlangen zu wollen. Und doch behielt ich ihre Stimmung im Auge, da mein Angebot, sie vorübergehend bei uns aufzunehmen, nicht ganz uneigennützig gewesen war. Tatsächlich wartete ich seit Jahren auf einen geeigneten Moment, um mit ihr ein Gespräch unter Erwachsenen zu führen, ohne Ausflüchte. Und nun bot sich diese Gelegenheit! Endlich war meine Mutter bei mir, nüchtern und zur Unbeweglichkeit verdammt – sie war mir stundenlang hilflos ausgeliefert. Endlich würden wir uns aussprechen können.

Viele Tage lang wusste ich nicht recht, wie ich es anfangen sollte. Ich ließ schüchterne Andeutungen auf die Vergangenheit fallen, womit ich jedoch kläglich scheiterte. Ich stellte Suzanne ungeschickte Fragen, die sie mühelos mit einer Geste abtat … Und so fand ich erst am vorletzten Tag den Mut, den entscheidenden Schritt zu tun. An jenem Nachmittag hatte ich auf ihren Wunsch hin ihren Rollstuhl ins Wohnzimmer geschoben, in die dunkelste Ecke des Raumes. Die Dunkelheit schien sie nicht bei ihrer Häkelarbeit zu stören (»Ein Zierdeckchen für dich«, hatte sie mir erklärt). Ich setzte mich in einen Sessel ganz in ihrer Nähe und fragte rundheraus:

»Ich möchte, dass du mir sagst, wer mein Vater ist.«

Sie verbarg ihre Überraschung meisterhaft und begnügte sich damit, zu antworten:

»Was spielt das schon für eine Rolle?«

Das Gespräch versprach schwierig zu werden. Ich atmete langsam ein und wappnete mich für einen weiteren Vorstoß, aber ihre belegte Stimme kam mir zuvor.

»Du stellst zu viele Fragen …«

»Ich weiß, dass Parodeau nicht mein Vater ist.«

»Natürlich ist Parodeau nicht dein Vater! Parodeau hat dir seinen Namen gegeben und sonst nichts …«

Diese Bestätigung ermutigte mich einerseits, ließ mich gleichzeitig jedoch kalt: Ich hatte schon immer gewusst, dass der Mann, der mich als seine Tochter anerkannt hatte, nicht mein leiblicher Vater war. Dany Parodeau hatte nur das Pech, zum Zeitpunkt meiner Geburt mit Suzanne verheiratet zu sein … Ohne dass ich weiter hätte nachhaken müssen, fuhr sie fort:

»Dein Vater heißt Olivier Magre. Er ist einer der Söhne von Caro, deiner Patentante.«

Überraschung: Der Informationshappen war ohne Zwang offenbart worden. Ich schwieg und ließ die Eröffnung auf mich wirken.

»Du meinst den Olivier, der den Unfall hatte?«

»Was für einen Unfall?«

Ich konnte mich noch erinnern, dass ich als kleines Mädchen im Krankenhaus gewesen war, um einen gewissen »Onkel Olivier« zu besuchen, der einen Autounfall gehabt hatte. Sein Zustand war äußerst kritisch, und die Nonnen in der Klinik mussten eine Ausnahme bewilligen, damit ich in meinem zarten Alter an sein Krankenbett durfte. Meine Patentante hatte mich nur mitgenommen, weil mir wirklich daran gelegen war, denn ich hatte diesen Onkel sehr gern.

Ganz leise wiederholte ich:

»Olivier, Caros Sohn …«

»Erinnerst du dich an ihn?«

»Ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern …«

»Er hat sehr gut ausgesehen.«

»Wie ist es dazu gekommen?«

»Du fragst zu viel, Catherine.«

Suzanne hatte ihre Häkelarbeit wiederaufgenommen und schien unser Gespräch als beendet zu betrachten. Da ich spürte, dass ein Frontalangriff mich nicht weiterbringen würde, versuchte ich es mit einer weniger direkten Annäherung.

»Hast du Olivier Magre geliebt?«

»Ich? … O ja, und wie ich ihn geliebt habe!«

Schweigen, dann hob sie wieder den Kopf:

»Ich glaube sogar, er ist der einzige Mann, den ich je wirklich geliebt habe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich liebte ihn bereits, da kannte ich ihn nur von Fotos!«

Ihr Arm fuhr schwungvoll seitwärts durch die Luft.

»Seine Mutter hat mich ihm in die Arme getrieben. Natürlich … Sie wollte unbedingt, dass ich mit ihrem Jungen schlafe … Dieses Biest von Caro!«

Schlagartig hatten Suzannes Augen wieder diesen fiebrigen Glanz angenommen, an den ich mich von früher her erinnerte. Ich fühlte mich berufen, meine Patentante zu verteidigen.

»Ich hatte Caro sehr gern …«

»Ein Miststück war sie, jawohl.«

»Und … wie ist das gelaufen mit Olivier? Du hast ihn also kennen gelernt …«

»Klar! Ich sagte doch gerade, dass seine Mutter alles getan hat, um mich ihm in die Arme zu treiben … Damals waren Caro und ihr Mann meine Nachbarn, sie wohnten im selben Stock, gleich nebenan … Wie auch immer. Reden wir von etwas anderem.«

Ich war so begierig, mehr zu erfahren! Ich versuchte, ihren Redefluss noch einmal in Gang zu bringen.

»Und die Schwangerschaft? Wie ist die verlaufen?«

Suzanne musterte mich eine Sekunde, und ich spürte, dass in ihr wieder dieser grenzenlose Hass brodelte, der sie wiederholt zu Versuchen getrieben hatte, mich zu töten.

»Es ist alles … normal verlaufen. Was willst du denn hören?«

»Ich weiß nicht. Was mein Vater davon gehalten hat, zum Beispiel …«

»Anfangs war dein Vater gar nicht da. Er war damals beim Militär … Der Algerienkrieg! Er kam nur auf Urlaub nach Hause. Und später hat er dann geheiratet …«

Stille senkte sich herab. Ich spürte unser beider Anspannung. Ich entdeckte meine Katze auf dem Fenstersims und stand auf, um sie hereinzulassen. Ein naives Ablenkungsmanöver, das das Schweigen nicht zu brechen vermochte. Suzannes Verhalten verriet höchste Nervosität: Sie hatte ihre Handarbeit beiseitegelegt, die Handflächen nach oben gekehrt und rieb die Finger aneinander wie eine alte Irre.

Die Flut der Gefühle, die dieser Wortwechsel in mir hervorgerufen hatte, hinderte mich daran, wieder das Wort zu ergreifen. Ich brauchte mehrere Minuten, ehe ich wieder fähig war, auch nur ein Wort zu formulieren.

»Warum?«, fragte ich.

»Warum was?«

»Warum hasst du mich so?«

Ich hatte erwartet, dass sie den Vorwurf auf die eine oder andere Weise leugnen würde. Aber nichts dergleichen geschah.

»Das ist körperlich«, entgegnete sie. »Ich habe schon immer das Bedürfnis verspürt, dir weh zu tun. Das ist einfach so, ich kann es auch nicht erklären. Wenn ich dich sehe, steigt Mordlust in mir auf.«

Ich war zu betroffen, um etwas darauf zu erwidern. Sie fuhr fort.

»Ich kann dir nicht sagen,...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2022
Übersetzer Cécile G. Lecaux
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Original-Titel Les oignons crus
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Schlagworte Adoption • Augenblick • Autobiografie • Biografie • Catherine • Erfahrungsbericht • Erfahrungsbücher • Erinnerung • Erinnerungen • Erkrankung • Erniedrigungen • Frankreich • Gewalt • Hass • Heim • Herkunft • Hilfe • Kinderheim • Kindesmissbrauch • Kindheitserinnerungen • krank • Krankheit • Lebensführung • Lebensweg • leibliche Eltern • Missbrauch • Missbrauchtes Kind • Pflegeeltern • Psychologie • Schicksal • Schicksalsschlag • Schicksalsschläge • Vergangenheit • Wahre GEschichte
ISBN-10 3-7517-2521-0 / 3751725210
ISBN-13 978-3-7517-2521-7 / 9783751725217
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