Zen und die Kunst, die Welt zu retten (eBook)

WIR KÖNNEN NICHT ZU NICHTS WERDEN

Dem Buddha zufolge ist eine Minute der Kontemplation über den Tod sehr lohnend, denn wenn man weiß, was der Tod ist, macht einen das lebendiger. Als ich jung war, dachte ich: »Ich bin jung und voller Leben, warum muss ich über den Tod nachdenken?« Aber später entdeckte ich, dass man das Leben mehr zu schätzen weiß und sich intensiver am Lebendigsein erfreuen kann, wenn man über den Tod meditiert.

Eine permanente, unsterbliche Seele ist eine Vorstellung, die weder für gute Buddhisten noch gute Wissenschaftlerinnen annehmbar ist; alles ist unbeständig und manifestiert sich fortwährend in verschiedenen Formen. Aber die gegenteilige Ansicht, dass man nach dem Zerfall dieses Körpers verschwindet, ist ein anderes Extrem, eine andere falsche Sichtweise: die Sichtweise der Auslöschung oder Vernichtung. Wir sollten nicht in die Falle des Eternalismus tappen, aber wir sollten auch nicht in die Falle der Annihilation geraten und sagen, dass wir nach dem Tod zu Nichts werden.

Stellen Sie sich einen Moment lang vor, dass Sie eine Wolke sind. Sie bestehen aus winzigen Eis- oder Wasserkristallen. Sie sind so leicht, dass Sie nicht fallen, sondern am Himmel schweben. Es gibt Wechselwirkungen, Kollisionen zwischen all den Billionen von winzigen Kristallen. An einem Punkt können sie sich zu Hagel oder Regen vereinen, und sie beginnen zu fallen. Aber auf halber Strecke treffen sie auf heiße Luft und verdampfen wieder. Sie steigen also auf, fallen herunter und steigen wieder auf. Seelenwanderung, Reinkarnation und Wiedergeburt finden ständig in Ihrer Wolke statt. Als Wolke brauchen Sie nicht zu Regen zu werden, um ein neues Leben zu haben; Sie haben in jedem Moment ein neues Leben. Sie glauben vielleicht, die Wolke schwebe einfach da und es sei stets die gleiche Wolke, aber das ist nicht wahr. Eine Wolke ist sehr aktiv und voller Energie.

Für uns Menschen ist es genauso. Wiedergeburt und Fortführung finden immer statt; in jedem Moment produzieren wir Gedanken, Worte und Handlungen. Unsere Handlungen sind eine Energie, die sich auf uns selbst und auf die Welt auswirkt; sie sind unser Produkt. Sie sind unser Regen, unser Schnee, unser Donner und Blitz. Im Buddhismus nennt man Handlung Karma. Es ist ein sehr wichtiger Begriff.

WAS IST IHR KARMISCHER FUSSABDRUCK?

Stellen Sie sich vor, ein Teil Ihrer Wolke wird zu Regen und stürzt in den Fluss. Da wir der Rest der Wolke am Himmel sind, können wir unsere Fortführung dort unten sehen. Hier oben zu schweben ist schön, aber dort unten zu fließen ist auch schön. Wir sind also sowohl hier oben als auch dort unten. Wir sprechen von einer Wolke, aber wir können genauso von uns Menschen sprechen. Wir können uns selbst sehen in den Früchten unserer Handlungen, in unseren Lieben, in allem, was wir verwirklicht haben. Das ist die rechte Sichtweise: Sie sehen sich nicht nur in diesem Körper, sondern überall: in Ihren Gedanken, Worten und Taten, die Sie in der Welt fortsetzen. Das ist etwas Wunderbares an dieser Kontemplation. Sie erkennen, dass Sie etwas dafür tun können, eine bessere Fortführung zu haben. Es ist möglich, Gedanken, Worte, Gefühle und Handlungen des Mitgefühls, des Verstehens und der Vergebung zu erzeugen. Es gibt Grund zur Hoffnung, zur Freude.

Es gibt eine sogenannte wissenschaftliche Ansicht, der zufolge alles rein zufällig geschieht. Der britische Philosoph Bertrand Russell beschrieb den Menschen als »das Produkt von Ursachen, die keine Vorahnung von dem Ziel hatten, das sie erreichten … Sein Ursprung, sein Wachstum, seine Hoffnungen und Ängste, seine Lieben und seine Überzeugungen sind nur das Ergebnis zufälliger atomarer Anordnungen.« Nach dieser Ansicht gibt es keinen intelligenten Plan, sondern nur Zufall.

Im Buddhismus sprechen wir nicht von einem göttlichen Plan. Aber wir sprechen von einer dynamischen Kraft, die allem zugrunde liegt und den Zustand der Welt, den Zustand der Erde bestimmt, und diese Kraft ist Karma, Handlung. Das Schicksal des Planeten hängt von unserem Handeln ab. Es hängt nicht von einem Gott ab. Es hängt nicht vom Zufall ab. Es hängt von unserem eigenen Handeln ab. Ich glaube, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen keine Schwierigkeiten haben werden, dies zu akzeptieren.

Im Buddhismus verstehen wir das Handeln immer unter drei Aspekten: Denken, Sprechen und Handeln. Wenn wir einen Gedanken produzieren, ist das Energie, ist das Handeln, und es kann uns und die Welt verändern, im Guten wie im Schlechten. Wenn es die rechte Art des Denkens ist, hat es eine heilende, nährende Wirkung auf unseren Körper und auf unsere Umwelt. Rechtes Denken kann die Welt zu einem besseren Lebensort machen, genauso wie falsches Denken die Welt in eine Hölle verwandeln kann. Durch die Art unseres Sprechens, durch unsere Worte, können wir Spannungen abbauen, Konflikte schlichten oder Hoffnung geben. Wir können aber durch Worte auch Hoffnungen zerstören oder eine Familie zerbrechen lassen.

Sprechen ist eine Art Energie, eine Kraft. Und körperliches Handeln ist auch eine Energie, die uns selbst und der Welt Heilung bringen kann; wir können etwas tun, das die Kraft hat, zu schützen, zu retten, zu unterstützen und Leiden zu lindern.

Es mag sein, dass wir gestern einen Gedanken voller Hass oder Wut produziert haben, oder wir haben vielleicht etwas aus Hass oder Wut getan. Und heute erkennen wir, dass das keine gute Fortführung von uns ist. Es ist sehr wohl möglich, das aktiv zu transformieren. Verankern Sie sich im gegenwärtigen Moment, seien Sie sich Ihres Körpers und der Atmung bewusst. Und erinnern Sie sich daran, dass Sie gestern etwas gedacht, gesagt oder getan haben, was Ihnen und anderen Schaden zugefügt haben könnte. Dann, hier sitzend, fest im Hier und Jetzt verankert, erzeugen Sie eine andere Art von Gedanken, der in die entgegengesetzte Richtung zielt: einen Gedanken der Vergebung, des Mitgefühls, des Verstehens. Sobald dieser Gedanke da ist, wird er den anderen Gedanken einholen und ihn sofort neutralisieren. Das ist die Veränderung von Karma. Die Praxis der Achtsamkeit im Hier und Jetzt macht solche Veränderungen möglich.

Es gibt einen freien Willen und die Möglichkeit, sich zu verändern. Freier Wille ist Achtsamkeit; durch die Achtsamkeit wissen wir, was wir denken, sagen und tun. Wenn es uns gefällt, fahren wir so fort. Wenn es uns nicht gefällt, sind wir frei, anders zu handeln.

Jeder Gedanke, den wir produzieren, jedes Wort, das wir aussprechen, alles, was wir tun, verändert unseren Körper, unseren Geist und unsere Umwelt, hat eine Wirkung, Die Umgebung, in der wir uns befinden, sind wir selbst, und sie ist das Ergebnis unseres Handelns. Wir haben so gelebt, dass wir unsere Umwelt zerstört haben und viele Arten verschwunden sind. Das ist die Wirkung unseres Tuns.

Sie müssen sich sowohl für Ihren eigenen Körper und Geist als auch für Ihre Umwelt verantwortlich fühlen. Ihre Umwelt sind Sie selbst. Wenn Sie einen Baum anschauen, sollten Sie nicht glauben, dass der Baum etwas anderes sei als Sie. Der Baum sind Sie. Was Sie in Form von Gedanken, Worten und Handlungen schaffen, sind Energien, die niemals zerstört werden können. Mit Achtsamkeit, Mitgefühl und Verstehen können Sie die Weichen für eine bessere Zukunft stellen.

UNZERSTÖRBAR

Ich erinnere mich an die intensiven Tage direkt nach den Anschlägen vom 11. September in den USA. Ich war zu dieser Zeit in Kalifornien, und das Leid, die Angst und die Wut im Land waren immens. Das Leben schien zum Stillstand gekommen zu sein. Ich sollte von Kalifornien nach New York fliegen, um an der Ostküste Vorträge zu halten und Retreats zu leiten. Im Flugzeug sah ich in den Gesichtern der Passagiere viel Angst und Misstrauen. Der Pilot versuchte, die Stimmung mit einem Witz aufzulockern, aber niemand lachte.

Ich sollte am 25. September in der Riverside Church in New York einen Vortrag halten. Am Abend zuvor kamen Brüder und Schwestern aus meiner Gemeinschaft, um mit mir zusammenzusitzen, darunter viele junge Mönche und Nonnen. Ich erzählte ihnen, dass die Atmosphäre so voller Hass, Angst und Wut war, und obwohl die USA unbedingt etwas tun wollten, um die Täter zu bestrafen, würde ich für Nicht-Handeln, Beruhigen, Innehalten und Gewaltlosigkeit plädieren. Die Sorge bestand, dass mich jemand bei dem Vortrag aus Wut angreifen oder erschießen könnte. Es war eine gefährliche Situation, und alle waren um meine Sicherheit besorgt.

Ich sagte ihnen, dass, selbst wenn ich getötet würde, weil ich das Dharma – die Wahrheit – lehrte, sie mich immer noch als ihren Lehrer hätten. Aber wenn mir der Mut fehlte und ich mich weigerte, meine Einsicht und mein Mitgefühl mit allen zu teilen, dann wäre mein Körper wohl noch am Leben, aber sie hätten keinen guten Lehrer.

Zu dem Vortrag kamen so viele Leute, dass in der Kirche nicht genug Platz für alle war. Nach zweieinhalb Stunden des Zusammenseins, des tiefen Zuhörens und achtsamen Atmens konnte man in den Gesichtern der Menschen eine tiefgreifende Veränderung wahrnehmen. Sie sahen so viel besser aus als bei ihrer Ankunft. Die Menschen hatten eine gewisse Linderung erfahren und litten viel weniger. Wir müssen die Gabe der Furchtlosigkeit in uns tragen; dann können wir sie auch anderen anbieten.

ZWEI ARTEN VON WAHRHEIT

Im Buddhismus unterscheiden wir zwischen zwei Arten von Wahrheit: die konventionelle (relative, historische) Wahrheit und die letztendliche (absolute) Wahrheit. Auf der Ebene der konventionellen Wahrheit unterscheiden wir Geist von Materie, Sohn von Vater, Menschen von...