Kinder denken einfach anders (eBook)
Obwohl wir alle einmal Kinder waren, können wir uns oft nur schwer in die Gedanken und Gefühle unseres Nachwuchses hineinversetzen - gerade in den ersten Lebensjahren entwickeln sich die Wahrnehmung und Fähigkeiten von Kindern rasant und grundlegend. Die psychologische Forschung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass wir Kinder immer besser verstehen, doch die wenigsten Eltern sind studierte Entwicklungspsychologen - und wundern sich schnell über scheinbar grundlose Wutanfälle oder ihr vermeintlich unsoziales Kind, das partout seine Spielsachen nicht teilen will. Die promovierte Psychologin Elisabeth Rose stellt die 20 wichtigsten Experimente vor, die unser Verständnis vom kindlichen Denken revolutionierten. So können Eltern einen guten Rahmen für Entwicklung schaffen und ihr Kind gelassener durch den trubeligen Familienalltag begleiten.
Dr. Elisabeth Rose studierte Psychologie in Regensburg und Melbourne. Nach dem Studium arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie an der Universität Bamberg. Parallel dazu begann sie die Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und sammelte praktische Berufserfahrung auf verschiedenen Stationen der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Daneben hält sie Lehrveranstaltungen für Studierende der Sozialen Arbeit und der Kindheitspädagogik. Elisabeth Rose lebt mit ihrem Mann und den beiden gemeinsamen Söhnen in Nürnberg.
1. Das Baby hört mit!
Experiment zum vorgeburtlichen Spracherwerb
Die Studienteilnehmer dieses Experiments waren ungeborene Babys, denen die werdende Mutter zweimal täglich immer wieder die gleiche Geschichte vorlas. Wenige Wochen nach der Geburt wurden die Neugeborenen und ihre Mütter in ein Forschungslabor eingeladen. Die Wissenschaftler dieser Studie zeigten mittels eines einfallsreichen Versuchsaufbaus, dass die Babys nach der Geburt genau diese aus dem Mutterleib vertraute Geschichte wiedererkannten. Das Ergebnis liefert wichtige Hinweise über den Spracherwerb und die frühen Merkfähigkeiten im Säuglingsalter. Es zeigt aber auch, mit welchen Tricks sich Babys beruhigen lassen.
Das Forschungsteam nahm hochschwangere Frauen und ein Buch. In unserem ersten beeindruckenden Experiment sollten die werdenden Mütter Passagen eines Kinderbuches laut vorlesen. Warum? Weil Babys bereits im Mutterleib mithören und diese Geschichte nach der Geburt wiedererkennen. Diese verblüffende Tatsache erforschten Anthony DeCasper und Melanie Spence bereits im Jahr 1986. Dafür wurden Babys beobachtet, deren Mütter in den letzten sechs Wochen der Schwangerschaft zweimal täglich laut aus einem Kinderbuchklassiker vorgelesen hatten.
Nun wird es allerdings etwas anspruchsvoller, denn: Wie um alles in der Welt soll ein Neugeborenes mitteilen, dass es die Geschichte »wiedererkennt«? Außer schlafen, schreien und trinken können Babys doch noch nicht viel, oder? Weit gefehlt! Das werden uns diese sowie weitere Studien aus diesem Buch eindrücklich beweisen. Was Babys allemal können, und darüber sind wir uns jetzt schon einig: am Schnuller nuckeln. Denn sie haben ein angeborenes Saugbedürfnis. Und genau dies machten sich DeCasper, Spence und weitere kluge Köpfe unter den Entwicklungspsychologen zunutze. Was nun folgt, ist ein cleverer Versuchsaufbau, dem wir so einige Erkenntnisse der Säuglingsforschung zu verdanken haben. Psychologinnen nennen dies »das Habituations-Dishabituations-Paradigma«. Es beschreibt, wie schnell sich Babys an einen bestimmten Reiz gewöhnen.
Das Habituations-Dishabituations-Paradigma
Dieses Paradigma der Psychologie wurde entwickelt, um Fähigkeiten im Säuglingsalter zu erforschen. Hierbei werden Säuglingen Reize so lange gezeigt, bis eine Reizgewöhnung eintritt, die Habituation. Sobald ein anderer Reiz präsentiert wird, kommt es für diesen neuen Reiz zu einer erneuten Steigerung der Aufmerksamkeit, sprich der Dishabituation. In diesem Experiment spielt eine Unterform des Habituations-Dishabituations-Paradigmas eine Rolle, und zwar die High-amplitude-sucking-Methode. Zur Erforschung akustischer Reize (in unserem Beispiel die von der Mutter vorgelesene Geschichte) nutzen Säuglingsforscher das Saugverhalten als Indikator dafür, ob ein Baby Interesse an dem Reiz hat, der ihm präsentiert wird. Je größer das Interesse an einem Reiz ist, desto länger und stärker saugen Babys am Schnuller (desto länger ist also auch die Zeitspanne, bis es habituiert und seine Saugstärke abnimmt).
Mithilfe dieser Methode zeigten DeCasper und Spence, dass die Mehrzahl der Säuglinge bei einer ihnen bekannten Geschichte stark am Schnuller nuckelte, sodass sie sie möglichst lange zu hören bekam. Die vertraute Geschichte schien ihr besonderes Interesse zu wecken. Babys, deren Mütter in der Schwangerschaft keine Geschichte vorgelesen hatten – dies nennen Psychologinnen »die Kontrollbedingung« –, saugten deutlich kürzer und fanden die für sie unbekannten Geschichten wenig interessant. Daraus schlussfolgerten die beiden Forscher, dass Säuglinge eine Geschichte, die sie im Mutterleib mehrmals gehört haben, wiedererkennen können.
Die Kontrollbedingung
Zu den Standards guter wissenschaftlicher Praxis gehört es, neben der Versuchsbedingung auch eine Kontrollbedingung zu etablieren. Nur durch den Vergleich zwischen Kontroll- und Versuchsbedingung lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, ob es auch wirklich einen Unterschied im beobachteten Verhalten gibt. In unserem Fall zeigte sich ein Unterschied im Saugverhalten zwischen den Babys, welche die Geschichte aus dem Mutterleib kannten, und denen, welche die gleiche Geschichte zum ersten Mal hörten.
Worum geht’s?
Dieses Experiment gehört nicht zu denen, die wir als werdende Eltern mal eben schnell nachmachen können – doch darum geht es in diesem Buch auch nicht. Für die Replikation würde man eine ganze Menge Equipment, wenn nicht sogar ein kleines Versuchslabor benötigen (Minikopfhörer, Schnuller, welche die Saugfrequenz messen, eine Umgebung ohne viele Störfaktoren und so weiter). Doch auch ohne es selbst durchgeführt zu haben, lehrt dieses Experiment einiges: Neugeborene lernen schon vor der Geburt und sind von Natur aus bestens auf den Spracherwerb vorbereitet.
Säuglinge lernen bereits im Mutterleib. Neugeborene können schon sehr viel – und das haben sie unter anderem ihren Erfahrungen im Mutterleib zu verdanken. Babys lernen vor der Geburt, was man »pränatales Lernen« nennt. Dank ihres Hörsinnes, der um die 28. Schwangerschaftswoche ausgereift ist, nehmen sie Geräusche aus ihrer Umwelt wahr. Man kann sich das so vorstellen, als würden wir in der Badewanne liegen und mit dem Kopf unter Wasser einem Gespräch folgen wollen, während der Nachbar von nebenan rhythmisch hämmert (was dem Herzschlag entspricht) und die Rohre lautstark gluckern (vergleichbar den Magen- und Darmgeräuschen).
Ab etwa der 32. Schwangerschaftswoche ist das Gehirn weit genug ausgereift für Lern- und Gedächtnisleistungen des Ungeborenen. Experimente belegen, dass Föten bereits vor der Geburt zu Lern- und Gedächtnisleistungen fähig sind und etwa um die 32. Schwangerschaftswoche bei einer Vielzahl von Reizen habituieren. So wurde auch erforscht, dass Neugeborene schon verschiedene sprachliche Laute unterscheiden können. Sie sind folglich sehr sensibel für den Klang des gesprochenen Wortes – eine enorm wichtige Voraussetzung für den Spracherwerb.
Säuglinge sind kleine Sprachgenies. Babys sind kleine Talente, wenn es darum geht, so etwas Komplexes wie die menschliche Sprache zu lernen. Jeder, der eine Fremdsprache halbwegs gut beherrscht, weiß, was man alles lernen und leisten muss, bevor man sie auch nur ansatzweise sprechen kann. Und dies gelingt unseren Kindern anscheinend ganz nebenbei. Weil sie die besten Voraussetzungen dafür bereits im Mutterleib haben und es ihnen möglich ist, sich schon vor der Geburt mit den Merkmalen ihrer Muttersprache auseinanderzusetzen. Sie können fremde von vertrauten Wörtern, Sprachen oder Stimmen unterscheiden und sich an verschiedene Geschichten (klanglich, nicht inhaltlich) erinnern.
Das bedeutet auch, dass bereits Neugeborene über eine beeindruckende Gedächtnisleistung verfügen. Doch dazu an späterer Stelle mehr.
Was heißt das jetzt für Eltern?
Die Quintessenz dieses Experiments ist, dass Säuglinge die besten Voraussetzungen mitbringen, um ihre Muttersprache zu lernen. Bereits vor der Geburt nehmen Babys die Stimme und Sprache ihrer Mama wahr und werden mit ihr vertraut – und mit der ihres Papas, ihrer Oma oder ihrer Geschwister. Das alles passiert ohne unser aktives Zutun. Ziel dieser Studie war es, grundlegende Erkenntnisse über pränatale Voraussetzungen des Spracherwerbs zu erlangen, nicht aber, ob und wie man den Spracherwerb am besten schon vor der Geburt aktiv fördert.
Ungeborene lernen im Mutterleib – ganz ohne »Frühförderung«. Die Studienergebnisse zeigen nicht, dass Kinder in ihrer Sprachentwicklung profitieren, wenn ihnen bereits vor der Geburt vorgelesen wird. Dieses Kapitel ist daher kein Plädoyer dafür, das pränatale Lernen bewusst einzusetzen. Es gibt keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege dazu, ob Kinder sprachlich fitter werden, wenn die Mutter in der Schwangerschaft laut vorliest. Ebenso wenig ist belegt, ob es die Musikalität oder gar die Intelligenz eines Kindes fördert, wenn wir in der Schwangerschaft besonders häufig klassische Musik hören oder das Baby einer Fremdsprache aussetzen. Der Fötus »verschläft« ohnehin einen Großteil seiner Zeit im Mutterleib und soll dies auch in Ruhe tun dürfen. Experten raten daher sogar davon ab, das pränatale Lernen bewusst zur Leistungssteigerung einzusetzen.
Wer sich also unwohl fühlt, seinem Ungeborenen vorzulesen oder als werdender Vater aktiv mit einem »dicken Bauch« zu sprechen, kann sich beruhigt zurücklehnen. DeCasper und Spence zeigten, dass Babys bestens auf den Spracherwerb vorbereitet sind. Sie reagieren auch ohne aktives Zutun sensibel auf den sprachlichen Input ihrer Umgebung. Wir können das Vorlesen gut und gern auf die Zeit nach der Geburt vertagen.
Der beste Weg, um Neugeborene zu beruhigen, ist die Stimme ihrer Eltern. Dennoch zeigt uns dieses Forschungsergebnis einen Weg, wie Eltern ihr Neugeborenes beruhigen können: Babys lieben die Stimme ihrer Eltern! Sie ist ihnen bereits aus dem Mutterleib vertraut. Weitere Studien verdeutlichen etwa, dass Säuglinge nicht nur den Klang einer ihnen bekannten Geschichte gegenüber einer ihnen unbekannten Geschichte bevorzugen, sondern vor allem die Stimme der Mutter gegenüber der einer Fremden. Das gilt selbst, wenn die Fremde das Gleiche und in einem ähnlichen Tonfall sagt.
Und: Auch an die Stimme des anderen Elternteils erinnert sich das Neugeborene aus seiner Zeit im Mutterleib, ganz egal, ob dieser schon bewusst mit dem Ungeborenen gesprochen oder sich »nur« mit dem schwangeren Elternteil unterhalten hat.
Obwohl Neugeborene noch nicht...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2022 |
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Zusatzinfo | Mit drei Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | 2022 • Beziehung • Beziehungsratgeber • Bindung • eBooks • Eltern • Entwicklung & Gesundheit bei Kleinkindern • Entwicklung Baby • Entwicklungspsychologie • Erziehung • Erziehungsratgeber • Gesundheit • Kindererziehung • Kleinkinder • Marshmallow-Test • Mitgefühl • Moralentwicklung • Neuerscheinung • Pädagogik • Psychologie • Ratgeber • Trotzphase |
ISBN-10 | 3-641-28152-0 / 3641281520 |
ISBN-13 | 978-3-641-28152-6 / 9783641281526 |
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