Wir Klimawandler (eBook)
240 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76949-2 (ISBN)
Das Klima verändert sich, weil wir das Klima verändern. So tiefgreifend beeinflusst unser Handeln den Planeten, dass Wissenschaftler vom Erdzeitalter des Menschen sprechen, dem Anthropozän. Wir stehen vor einem Dilemma: Unsere Eingriffe in die Umwelt haben uns an einen Punkt geführt, an dem weitere Interventionen womöglich die letzte Hoffnung im Kampf gegen die globale Erderwärmung sind. Vielleicht sind sie aber auch der letzte Schritt auf dem Weg in die Klimakatastrophe.
In ihrem neuen Buch gewährt uns Elizabeth Kolbert einen Blick auf die Natur der Zukunft. Die Pulitzer-Preisträgerin erzählt von Ingenieuren, die mit aberwitzigen Folgen für das Ökosystem den Verlauf von Flüssen ändern oder ganze Küstenstreifen vor dem ansteigenden Meerwasser schützen. Sie trifft Biologen, die den Teufelskärpfling, den wohl seltensten Fisch der Erde, retten wollen, und sie berichtet von den kühnen Plänen, CO2 aus der Luft zu saugen oder winzig kleine Diamanten in der Stratosphäre zu verteilen.
<p>Elizabeth Kolbert, geboren 1961, ist Journalistin und Autorin. Sie schrieb unter anderem für die<em> New York Times</em>, seit 1999 arbeitet sie für das angesehene Magazin <em>The New Yorker</em>. Für ihre Reportageserie <em>The Climate of Man</em> erhielt sie 2006 den National Magazine Award in der Kategorie Public Interest. 2015 wurde sie für <em>Das sechste Sterben - Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt </em>mit dem Pulitzer-Preis in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet.</p>
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Der New Orleans Lakefront Airport liegt auf einer künstlich aufgeschütteten Landzunge im Lake Pontchartrain. Das Terminal, ein Art-déco-Bau, galt in seiner Entstehungszeit 1934 als hochmodern. Heute kann man es für Hochzeiten mieten. Die Landebahn wird für kleine Flugzeuge genutzt, und so bin auch ich einige Monate nach dem Karpfenfest hierhergekommen, nämlich als Passagierin in einer viersitzigen Piper Warrior.
Der Eigentümer und Pilot des Flugzeugs war ein Anwalt im Teilruhestand, der gern jeden Vorwand nutzte, um zu fliegen. Wie er mir erzählte, bot er oft seine ehrenamtlichen Dienste an, wenn gerettete Tiere transportiert werden mussten. Ohne es ausdrücklich zu sagen, ließ er durchblicken, dass Hunde ihm die liebsten Passagiere waren.
Die Piper hob Richtung Norden ab, flog über den See und drehte dann eine Schleife zurück nach New Orleans. Wir erreichten den Mississippi bei English Turn, jener Biegung, in der dieser Fluss nahezu eine 180-Grad-Kehre macht. Dann folgten wir dem gewundenen Flusslauf bis ins Plaquemines Parish.
Der Landkreis liegt am äußersten südöstlichen Ende von Louisiana, wo sich der breite Trichter des Mississippi-Mündungsdeltas zu einem schmalen Auslass verengt und Chicagos Ballast und Treibgut schließlich ins Meer spült. Auf Landkarten wirkt das Parish wie ein dicker, muskulöser Arm, der in den Golf von Mexiko ragt und den der Fluss wie eine Vene in der Mitte durchzieht. Am Ende gabelt sich der Mississippi in drei Teile, die an Finger oder Klauen erinnern und diesem Abschnitt seinen Namen geben: Bird's Foot oder Vogelfußdelta.
Aus der Luft betrachtet, wirkt das Parish völlig anders. Wenn man es mit einem Arm vergleicht, so ist er furchtbar abgemagert und besteht fast über die gesamte Länge – von gut 100 Kilometern – praktisch nur aus der Vene. Das wenige vorhandene Land säumt in zwei dünnen Streifen den Fluss.
Als wir in einer Höhe von etwa 600 Metern über diese Gegend flogen, konnte ich Häuser, Bauernhöfe und Raffinerien auf den Landstreifen erkennen, aber nicht die Menschen, die dort leben und arbeiten. Jenseits davon lagen offene Wasserflächen und Marschland. An vielen Stellen zogen sich Kanäle kreuz und quer durch die Sumpfgebiete, vermutlich zu einer Zeit, als das Land noch fester war, angelegt, um an das Erdöl darunter zu gelangen. An einigen Stellen konnte ich die Umrisse früherer Felder ausmachen, die sich heute als rechteckige Seen präsentieren. Große weiße Wolken, die sich über dem Flugzeug bauschten, spiegelten sich unten in den schwarzen Teichen.
Plaquemines Parish steht in dem – bestenfalls zweifelhaften – Ruf, zu den am schnellsten untergehenden Orten der Erde zu gehören. Jeder, der dort lebt – und das sind immer weniger Menschen –, kann eine Stelle im Wasser aufzeigen, an der früher ein Haus oder eine Jagdhütte stand. Das gilt sogar für Teenager. Vor einigen Jahren löschte die National Oceanic and Atmospheric Administration offiziell 31 Ortsnamen im Plaquemines Parish, darunter Bay Jacquin und Dry Cypress Bayou, weil es diese Orte schlicht nicht mehr gab.1
Was in Plaquemines passiert, geschieht an der gesamten Küste. Seit den dreißiger Jahren ist Louisiana um mehr als 5000 Quadratkilometer geschrumpft. Hätten Delaware oder Rhode Island eine so große Landfläche verloren, besäßen die Vereinigten Staaten nur noch 49 Bundesstaaten. Alle eineinhalb Stunden verliert Louisiana weiteres Land von der Größe eines Footballfeldes. Alle paar Minuten geht die Fläche eines Tennisplatzes unter. Auf Landkarten mag die Form des Bundesstaats immer noch einem Stiefel ähneln. In Wirklichkeit ist der untere Teil dieses Stiefels jedoch zerfetzt: Ihm fehlt nicht nur die Sohle, sondern auch die Ferse und ein Gutteil des Spanns.
Diverse Faktoren schüren diese »Landverlustkrise«, wie man es mittlerweile nennt. Aber der entscheidende Aspekt ist ein Wunder der Ingenieurskunst. Was für die Metropolregion Chicago der springende Karpfen ist, sind die untergegangenen Felder für die Landkreise in der Umgebung von New Orleans: ein Beleg für eine von Menschen gemachte Naturkatastrophe. Man hat Tausende Kilometer Deiche, Hochwasserschutzwände und Uferbefestigungen gebaut, um den Mississippi in Schach zu halten. Das Army Corps of Engineers brüstete sich einmal: »Wir haben ihn nutzbar gemacht, begradigt, reguliert, gebändigt.«2 Dieses riesige System, das geschaffen wurde, um Louisiana trocken zu halten, ist der Grund, dass die Region zerfällt wie ein alter Schuh.
Und so ist denn eine neue Runde öffentlicher Bauprojekte im Gang. Wenn Kontrolle das Problem ist, dann muss nach der Logik des Anthropozäns die Lösung in mehr Kontrolle bestehen.
Wer im Plaquemines Parish oder nahezu überall in Südlouisiana zu graben anfängt, stößt auf Moorboden, dessen Konsistenz manche mit warmem Wackelpudding vergleichen. Schon bald füllt sich das Loch mit Wasser. Daher lassen sich Gegenstände wie Särge nur schwer unter der Erde halten, weshalb man in New Orleans Verstorbene in Gruften beisetzt. Gräbt man weiter, stößt man irgendwann auf Sand und Lehm, dann auf mehr Sand und Lehm, und das wiederholt sich bis in eine Tiefe von zig Metern – und an manchen Stellen sogar von Hunderten Metern. Außer den Steinen, die man zur Deich- und Straßenbefestigung in diese Region gebracht hat, gibt es in Südlouisiana keine Steine.
Auch die Sand- und Lehmschichten wurden gewissermaßen importiert. Vorformen des Mississippi flossen seit Millionen Jahren durch dieses Gebiet und brachten fortwährend riesige Sedimentladungen mit – als die Vereinigten Staaten Napoleon Louisiana abkauften, waren es jährlich etwa 400 Millionen Tonnen.3 »Ich weiß nur wenig über Götter; aber ich denke, der Strom / Ist ein starker brauner Gott«, schrieb T. S. Eliot.4 Immer wenn der Fluss über die Ufer trat – was er früher praktisch in jedem Frühjahr tat –, verteilte er seine Sedimente auf der Ebene. Jahr für Jahr, Schicht für Schicht lagerten sich Lehm, Sand und Schlamm ab. So trug der »starke braune Gott« die Küste Louisianas stückchenweise aus Illinois, Iowa, Minnesota, Missouri, Arkansas und Kentucky zusammen.
Ein Großteil Südlouisianas ist mittlerweile überflutet.
Da der Mississippi ständig Sedimente ablagert, verändert er fortwährend seinen Lauf. Wenn die Ablagerungen sich anhäufen, behindern sie den Fluss, der sich daraufhin schnellere Wege zum Meer sucht. Die dramatischste Verlagerung des Flussbettes bezeichnet man als Ausriss oder Avulsion. In den vergangenen 70 000 Jahren kam es im Mississippi sechs Mal zu solchen Ausrissen, und jedes Mal hinterließ er ein neues Stück Land. Lafourche Parish blieb von dem Sedimentfächer oder Delta Lobe übrig, den er während der Herrschaft Karls des Großen ablagerte. Das westliche Terrebonne Parish ist der Rest eines Sedimentfächers, der in der Zeit der Phöniker entstand. Die Stadt New Orleans liegt auf einem Fächer – St. Bernard –, der sich um die Zeit des Pyramidenbaus bildete. Zahlreiche noch viel ältere Delta Lobes liegen mittlerweile unter Wasser. Der Mississippi-Fächer, ein riesiger Sedimentkegel aus der Eiszeit, befindet sich heute im Golf von Mexiko. Er ist größer als der gesamte Bundesstaat Louisiana und an manchen Stellen über 3000 Meter dick.
Auf dieselbe Weise entstand das Plaquemines Parish, das geologisch jedoch das Baby in dieser Familie ist. Es begann sich vor 1500 Jahren nach dem letzten großen Ausriss des Flusses zu bilden. Da es der jüngste Sedimentfächer ist, sollte man meinen, er sei auch der langlebigste, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Der weiche, wackelpuddingartige Boden des Deltas wird im Laufe der Zeit entwässert und verdichtet sich. Die jüngsten, nasseren Schichten verlieren am schnellsten an Masse, denn sobald ein Sedimentfächer zu wachsen aufhört, fängt er an abzusinken. In Südlouisiana gilt für jeden Ort, dass, »wer nicht gerade geboren wird, gerade stirbt«, um eine Songzeile von Bob Dylan zu ...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2021 |
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Übersetzer | Ulrike Bischoff |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Under a White Sky. The Nature of the Future |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik |
Technik | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Anthropozän • Artensterben • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Biophilia Award for Environmental Communication 2022 • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • Erderwärmung • Fridays For Future • Geoengineering • Greta Thunberg • Klimakatastrophe • Klimawandel • Naturschutz • Neuerscheinungen • neues Buch • Ökosystem • Pulitzer-Preis • Pulitzer-Preis 2015 • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • ST 5286 • ST5286 • suhrkamp taschenbuch 5286 • Umweltschutz • Under a White Sky. The Nature of the Future deutsch • Waldbrände • Wissensbuch des Jahres 2015 |
ISBN-10 | 3-518-76949-9 / 3518769499 |
ISBN-13 | 978-3-518-76949-2 / 9783518769492 |
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