Uns haut so schnell nichts um (eBook)
272 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86699-8 (ISBN)
Leandra Vogt ist studierte Kindheitspädagogin und Resilienztrainerin. Als Elternbegleiterin, Dozentin und Podcasterin macht sie die Erkenntnisse der Resilienzforschung auf www.familienort.com versteh- und integrierbar für Familien. Mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt sie in der Nähe von Zürich.
Resilienz – was ist das?
Klären wir zunächst, was der Begriff »Resilienz« eigentlich bezeichnet, bevor ich einen kurzen Einblick in die Resilienzforschung gebe. Statt nun die Kurzerklärung aus dem Duden abzutippen oder den Begriff von seiner lateinischen Wurzel herzuleiten, möchte ich versuchen, dir Resilienz mithilfe eines Sprichwortes nahezubringen:
»Fällst du siebenmal um,
so steh achtmal auf!«
So lautet eine alte Weisheit aus Japan. Und letztendlich beschreibt dies aus meiner Perspektive all das, wofür Resilienz steht, sehr treffend. Genau diese Kraft, selbst nach dem siebten Hinfallen erneut aufzustehen, diesen Lebensmut und diese innere Stärke meint der Begriff »Resilienz«.
Vielleicht kennst du ja selbst solche Menschen: Ihr Leben wirkt von außen betrachtet auf dich wie eine absolute Katastrophe, dennoch scheinen diese Menschen nicht nur nahezu unversehrt aus diesen Umständen hervorgegangen zu sein – nein, sie wirken sogar noch stärker und mehr in ihrer Kraft denn je zuvor. Sie wissen um den Schmerz, sind nicht kühl oder abgestumpft. Doch tragen sie eine besondere Kraft in sich, die sie ihr Leben immer wieder in die Hand nehmen und ihren Lebensmut siegen lässt, auch dann, wenn das Leben sich von seiner eiskalten Seite gezeigt hat.
Resilienz in Wissenschaft und Forschung
Wissenschaftliche Forschung zu dieser besonderen Fähigkeit ist etwas noch recht Neues. Der Blick löst sich von seiner Fixierung auf die Frage »Was macht uns krank?« und weitet sich für die Thematik »Was hält uns gesund?«. Das macht nicht nur uns hier und heute neugierig.
Die Studie, welche als die Pionierstudie rund um das Thema Resilienz gilt, wurde vor einigen Jahrzehnten begonnen. Im Jahr 1955 begab sich die amerikanische Psychologin und Soziologin Emmi Werner auf eine spannende Forschungsreise. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Ruth Smith beobachtete sie einen kompletten Geburtsjahrgang (698 Kinder) auf der hawaiianischen Insel Kauai. Mit einem interdisziplinären Team von Kinderärzten, Krankenschwestern, Psychologen und Sozialarbeitern prüften und dokumentierten sie die Entwicklung der besagten Kinder im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren durch Beobachtung und Befragung. Nun sprechen wir hier nicht von dem Sommer-Sonne-Sonnenschein-Hawaii, das uns heute meist vor Augen schwebt. In den 50er-Jahren waren auf Kauai Drogenkonsum, Gewalt und Kriminalität an der Tagesordnung. Etwa ein Drittel der beobachteten Kinder wuchs in ebendiesen schwierigen, prekären Verhältnissen auf. Wie es wohl die meisten Menschen erwarten würden, gerieten tatsächlich etwa zwei Drittel der begleiteten Heranwachsenden dieser Gruppe im Laufe ihres Lebens in eine Abwärtsspirale. Sie wurden drogensüchtig, kriminell, krank. Die Entwicklung dieser Kinder war geprägt von Verzögerungen, Einschränkungen und Behinderungen. Das Leben des letzten Drittels der beobachteten Kinder aus der prekären Gruppe verlief jedoch ganz anders als erwartet: Obwohl sie ebenso in schwierigen Verhältnissen mit Risikofaktoren wie beispielsweise chronischer Armut, psychischer Erkrankungen der Eltern oder chronischer familiärer Disharmonie aufwuchsen, entwickelte sich dieses Drittel der Kinder aus dieser Gruppe frei von Verhaltensstörungen und erwies sich als resilient. Diese Menschen waren in der Lage, stabile und glückliche Beziehungen aufzubauen. Sie führten ein gesundes Leben, bildeten sich und ergriffen feste Berufe, die sie erfüllten. Es zeigten sich bei ihnen im Alter von 40 Jahren eine geringere Todesrate und eine geringere Scheidungsrate.1
Vielleicht geht es dir an dieser Stelle ähnlich wie mir, und du fühlst besonders mit jenen Kindern, deren Leben einen leidvollen Verlauf genommen hat. Schließlich wurde zwar jeder Fall dokumentiert, doch eingegriffen wurde wohl kaum. Mich stützt hier nur der Gedanke daran, dass die Einblicke in die verschiedenen Leben dieser Kinder einen sehr großen Mehrwert für unsere Gesellschaft hervorgebracht haben. Diese Studie hat uns offengelegt, was genau uns und unsere Kinder so stark herausfordern kann, dass wir den Weg der Freude kaum oder gar nicht mehr einschlagen können. Fachlich bezeichnen wir das als die sogenannten Vulnerabilitätsfaktoren. Ich werde später in diesem Kapitel noch genauer darauf eingehen. Jedenfalls ist es uns nun auf dieser Grundlage möglich, mit einem besonderen Bewusstsein auf das Leben und die Begleitung unserer Kinder zu schauen, um diese Schatten im Rahmen unserer Möglichkeiten zu lichten. Und natürlich drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, die auch Emmy Werner und ihr Team in Atem hielt:
Was war mit dem letzten Drittel der Kinder aus der Risikogruppe? Wie konnte es sein, dass sie selbst unter ihren schwierigen Lebensumständen zu gesunden und glücklichen Kindern heranwuchsen, die das Leben trotz seines Schmerzes lieben lernten? Was hatten diese Kinder, was die anderen nicht hatten?
Die Besonderheit der Resilienzforschung liegt darin, das Augenmerk nicht etwa auf die krank machenden Ursachen zu legen, so wie es bis dato üblich war. Zwar wurden auch hier die Vulnerabilitätsfaktoren genau erörtert, doch daraus resultierte ein neuer Ansatz: Die Resilienzforschung sucht gezielt nach den Umständen, Eigenschaften und Auslösern, die zu Gesundheit führen!
Die Erkenntnisse der Kauai-Studie gaben den Anstoß für viele weitere Studien, deren bekannteste die Mannheimer Risikokinderstudie und die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie sind. Aus der Summe all dieser Studien haben sich Faktoren ergeben, welche die Fähigkeit zur Resilienz entweder gefährden oder unterstützen können.
Heute können wir also auf ein breites Spektrum von Erkenntnissen schauen, die mir persönlich – sowohl als Pädagogin, vor allem aber auch als Mama – das Herz aufgehen lassen:
Resilienz ist ein dynamischer Prozess: Auch wenn unser Kind oder wir selbst schon einmal nicht resilient reagiert haben, muss sich das nicht fortsetzen. Wenn du also an eine Situation in deinem Leben zurückdenkst, die schmerzhaft für dich war und unter der du noch immer leidest, dann heißt das nicht etwa, dass du generell nicht resilient reagieren kannst. Möglicherweise warst du dir des noch anhaltenden Schmerzes gar nicht bewusst, konntest aber trotzdem eine andere Herausforderung voller Kraft bewältigen. Ich erkläre diese Dynamik immer sehr gern anhand eines Beispiels:
Ich möchte dir einen älteren Mann vorstellen – sagen wir, er heißt Hubert. Hubert war 56 Jahre alt, als er seinen Job als Angestellter bei einer Bank verlor. Der Verlust des Arbeitsplatzes im vorangeschrittenen Alter stellt für viele Menschen eine besonders beängstigende Situation dar. Die Unsicherheit darüber, ob sie ihren Unterhalt finanzieren können, macht dann vielen zu schaffen. Das Selbstwertgefühl sinkt häufig, denn neben der Zurückweisung durch den bisherigen Arbeitgeber lassen auch die vielen Absagen nach aufwendiger Bewerbung die Seele häufig nicht kalt. Oftmals führt diese Art der Belastung zu einem Suchtverhalten. Alkohol und Depressionen finden hier nicht selten Einzug in das Leben des Arbeitslosen. Hubert war jedoch guter Dinge. Er blickte optimistisch in seine Zukunft, belegte eine Fortbildung und stellte sich immer wieder persönlich bei seinen potenziellen Arbeitgebern vor – stets mit einem zuversichtlichen Lächeln im Gesicht. Hinter sich spürte er die Rückendeckung seiner geliebten Frau. Sie unterstütze ihn beim Anfertigen seiner Bewerbungsunterlagen, übernahm einige Ausgaben, die sonst ihr Mann getragen hatte, ließ ihre Kontakte spielen und unternahm viele Ausflüge in die Natur gemeinsam mit Hubert. Nach einer langen Durststrecke fand Hubert einen Job, der gut zu ihm passte. Er und seine Frau Hannelore hatten diese Krise gemeinsam gemeistert und waren darüber hinaus noch enger zusammengewachsen. Hubert dankte ihr für ihre Unterstützung von ganzem Herzen und schätzte sich sehr glücklich, sie als Partnerin zu haben.
Wenige Jahre später verstarb Hannelore an einem plötzlichen Herzversagen. Hubert fand aus seiner tiefen Trauer nicht mehr heraus. Er verfiel dem Alkohol, verlor seinen Job und verstarb als Obdachloser in einer einsamen Nacht.
Die Fähigkeit zur Resilienz ist dynamisch. Wenn wir einmal resilient reagiert haben, ist dies kein Garant dafür, dass...
Erscheint lt. Verlag | 23.6.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
ISBN-10 | 3-407-86699-2 / 3407866992 |
ISBN-13 | 978-3-407-86699-8 / 9783407866998 |
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