Fußball Blues (eBook)
192 Seiten
Edel Sports - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-8419-0772-1 (ISBN)
Günther Ortmann (*1945) ist Forschungsprofessor am Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung an der Universität Witten/Herdecke und war als Junge dem HSV verfallen. Seit Langem aber zum BVB bekehrt. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt Noch nicht/Nicht mehr. Wir Virtuosen des versäumten Augenblicks (2015).
Günther Ortmann (*1945) ist Forschungsprofessor am Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung an der Universität Witten/Herdecke und war als Junge dem HSV verfallen. Seit Langem aber zum BVB bekehrt. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt Noch nicht/Nicht mehr. Wir Virtuosen des versäumten Augenblicks (2015).
I’ve never scored a touchdown
On a ninety-nine yard run,
I‘ve never winged six Daltons
With my dying brother’s gun …
Or kissed Miss Jane, and rode my hoss
Into the setting sun.
Sometimes I get so depressed
‘Bout what I haven’t done.
Shel Silverstein: Never
„Das Leder.“ Früher sagten die Reporter, wenn sie den Ball meinten, ja gerne mal „das Leder“, und selbst heute noch nagelt so mancher Stürmer das Leder unter die Latte.
Güldenstern. Herbert Zimmermanns „Toni, du bist ein Fußballgott“? Ich wollte lieber wie Fritz Herkenrath sein, der 1953 zusammen mit Franz Islacker und Rot-Weiß Essen deutscher Pokalsieger und 1955 deutscher Meister wurde. Ich war Fritz Herkenrath, wenn ich nach dem Ball, wie wir damals sagten, hechtete – „sich schmeißen“ war auch in Gebrauch – und ihn aus der Ecke fischte, bevor er direkt neben dem Stamm des Vogelbeerbaums einschlug, der auf der Wiese vor unserem Haus neben den Tennisplätzen des Stader TC stand und als Torpfosten herhalten musste. Der Ball war damals wirklich aus Leder und roch nach Erdal-Lederfett. (Jahr für Jahr gab es einen zu Weihnachten.) Oben, am Ende unserer Straße, der Fritz-Reuter-Straße, auf der Köhnshöhe, lag der Platz vom TuS Güldenstern. Da wurde noch Faustball und Feldhandball gespielt. Herkenrath, Penny Islacker, „das Leder“, hechten, sich schmeißen, Vogelbeerbaum, Güldenstern: paradise lost.
Der Ernst des Lebens, das Glück der Menschen. Zwischen Lehmkuhle und Schwingeufer (offiziell Horstsee, aber die Leute sagen weiter Lehmkuhle): der VfL, Platz mit Stehtribüne an einer Seite, da ging es sonntags hin. Der Kassierer bekam 20 Pfennig und gab uns, meinem Bruder und mir, die Eintrittskarten „so“. Wenn der VfL nach 60, 70 Minuten hinten lag, pflegten wir uns hinter dem Tor des Gegners zu versammeln, in kaum von Besorgnis getrübter Gewissheit: das drehen die noch – wie schon so oft. So kam es auch – Elfmeter in letzter Minute durch Pfaff, Flachschuss, den ich, hinter dem Tor stehend, im linken Eck einschlagen sehen konnte, genau wie der Torwart ihn sah. Das nährte in uns die unerschütterliche Überzeugung: Wir haben es bewirkt. Dieses magische Denken – es kam so, weil wir es gewünscht hatten, notdürftig rationalisiert durch ein „Es lag an unserer Unterstützung“ – erlischt nicht mit der Kindheit. Es meldet sich wieder in dem mächtigen, unabweisbaren Glauben an „vom Publikum gedrehte Spiele“, von denen die Fans von FC St. Pauli, Borussia Dortmund oder FC Liverpool (und nicht nur die) beseelt sind.
Sehr wohl ist es denkbar, dass statistische Analysen à la Amos Tversky (s. das nächste Stück, „Die Sache mit den Strähnen“) das als Wunschdenken erweisen würden. Heute, da ich dieses Stück schreibe, findet sich in der Süddeutschen Zeitung (Nr. 168 vom 24.7.2019) ein Nachruf von Thomas Steinfeld auf Brigitte Kronauer, die vorgestern gestorben ist. Darin rühmt Steinfeld ihren Sinn für „den persönlichen, immer über alles Erreichbare hinausschießenden Idealismus der Menschen“. Dazu im Gestus der Aufklärung „Illusionen“ zu sagen, gehe aber „am Charakter der in ihnen niedergelegten Hoffnungen und Wünsche … vorbei. Denn in ihnen wohnt, buchstäblich, der Ernst des Lebens, das Glück der Menschen, ihre Eigenart, ihre Mühe, und ja, auch das Vergebliche, das all diesen Anstrengungen zumindest einen Anflug von Größe verleiht.“ Vorbei am Charakter der Hoffnungen, Wünsche – und, näherhin, eines unbewussten Begehrens, das einen magischen Glauben speist, nicht zuletzt einen magischen Glauben an die Magie des Wunschdenkens, auch: des Glaubens an vom Publikum gedrehten Spiele.
„Ich bin ja auf der GG (Gegengerade) groß geworden“, sagt St.-Pauli-Ultra Jesper im Gespräch mit dem Hamburger Straßenmagazin Hinz und Kunzt, „habe die alte GG und ihre Stimmung noch erlebt und bin dafür total dankbar. Pokalsaison, Aufstieg in die 2. Liga, durchs Publikum gedrehte Spiele wie gegen 1860 oder Hoffenheim, das war als Kind unglaublich geil.“ (Sondermagazin Das Herz von St. Pauli 2019/2020) Als Kind, aber es hört nicht auf, wenn wir erwachsen werden.
Die Sache mit den Strähnen. Amos Tversky, berühmter Ko-Autor des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, hat einmal über mehr als eine Saison hinweg jeden Korbwurf der Philadelphia 76er (Basketball) untersucht. Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit für einen zweiten Treffer nach einem gelungenen ersten wird nicht größer. Mehr noch: Die Zahl der Serien aus mehreren Treffern hintereinander – denken Sie für den Fußball an einen Hattrick – ist nicht höher als es die Wahrscheinlichkeitsgesetze erwarten lassen. Das bedeutet: Es gibt keine Strähnen nach dem Muster „Wenn’s läuft, dann läuft’s“ – etwa weil das Selbstvertrauen wächst, weil einer einen Lauf hat oder dergleichen; keine Selbstverstärkung à la success breeds success. Es ist reiner Zufall. Das ist für Basket- und Fußballer ziemlich kontraintuitiv. Dirk Nowitzki, Robert Lewandowski (die selbstverständlich öfter als andere Spieler Serien haben, aber nur, weil sie besser sind, nicht weil es nach einem Erfolg „nun mal flutscht“) nie im Flow? Ich selbst kann es kaum glauben – und rette mich vom Fußball zum Tennis: Dort jedenfalls, sage ich mir, kommt es vor, dass einer „wie im Rausch“ spielt, bei jedem Ballwechsel beflügelt durch den vorangegangenen. Oder umgekehrt: Misserfolg heckt Misserfolg, weil bei Alexander Zverev oder Angelique Kerber nach ein paar Fehlern „nichts mehr läuft“. Möglich indes, dass dort die Dinge anders liegen als beim Basket- und beim Fußball, weil es beim Tennis auf Mikro- und Nano-Feinheiten ankommt.
À propos Basketball. „Die Basketballer wachsen ja in den Himmel wie Kiefern. Am Ende hat keiner einen Vorteil davon, sie könnten sich auch darauf einigen, klein zu bleiben“, wie Jochen Schmidt in Ballverliebt schreibt (mehr von ihm später, doch nun zurück zum Fußball).
Südtribüne. Nicht nur die Leute auf St. Paulis Gegengeraden und der Südtribüne sind von jener Überzeugung beseelt, sondern auch die Spieler. Alle spüren – und hören! (Siehe unten, „Millwall Roar“, S. 20) –, dass die anderen es auch spüren und hören, dass sie es miteinander teilen. Wie schal wäre demgegenüber die Besserwisserei der Statistik, selbst wenn sie es besser wüsste! Unsere Antwort wäre ein „Ich weiß, aber dennoch…“, wobei es statt „dennoch“ hier vielleicht besser „trotzdem“ heißen müsste: Wir lassen uns die Magie unseres Glaubens und den Glauben an die Magie unserer lautstarken Beschwörungen nicht nehmen. Mehr dazu später.
Im Radio. Die 50er-Jahre, NWDR, sonntags, immer nach den 19-Uhr-Nachrichten: Sport. Fiebernde Erwartung: Hat der VfL bei Concordia Hamburg gewonnen? Auch das kam im Radio. Was es sonst noch gab: Chris Howlands Spielereien mit Schallplatten, und Rolf und Alexandra Beckers Dickie Dick Dickens, Hörspielserie. Dickie war „der gefährlichste Mann, den Chicagos Unterwelt jemals hervorgebracht hatte“. Bei Chris Howland hörten wir später (1965) zum allerersten Mal „Yesterday“ – und waren wie vom Donner gerührt. Bis dahin kannten wir von den Beatles nur Rockmusik, und nun dies. Und wie gut es hier passt – all my troubles seemed so far away, damals.
Ein Kinderspiel. Wie haben wir als ganz Kleine angefangen, Ball, und dann Fußball zu spielen? Vielleicht wie Tommy und Jack Caffrey, Zwillinge, kaum vier Jahre alt, in James Joyces Ulysses? „Sie wühlten im Sand mit ihren Schaufeln und Eimerchen, wie Kinder das gerne tun, oder spielten mit ihrem dicken, bunten Ball, glücklich den langen lieben Tag.“ Ein Ball ist ein Spielzeug.
Die Kinder lernen Schaukelpferde reiten, Burgen bauen, Bälle treten und, alsbald, Wörter sprechen. „Nun“, sagte die Mutter (Cissy Caffrey) zum Baby der Freundin (Edy Boardman), „sag mal ganz schön: Ich will einen Schluck Wasser.“ Das Baby sprach: „Illil alluck Lalla.“ Mit solcher Gewandtheit hat auch das Bälletreten begonnen. Am Anfang wollten wir nur spielen.
Fort/Da. Ganz früh spielen Kinder das große Spiel vom Verschwinden und Wiederkommen geliebter Objekte, das ihnen erlaubt, sich als Regisseure eines drohenden Verlusts in Szene zu setzen und sich aber im Wege fortdauernder Wiederholungen zu versichern: Es wird alles gut – wieder gut, und ich kann machen, dass es wieder gut wird. Sigmund Freud hatte dieses Fort/Da-Spiel bekanntlich an seinem anderthalbjährigen Enkel Ernst beobachtet, der „alle seine Spielsachen nur dazu benützte, ‚fortsein‘ zu spielen.“ (Jenseits des Lustprinzips) Im Lichte dieser Spekulation sticht ins Auge, dass Bälle, kugelrund, wie sie sind, rollen. Ein kleiner Kick genügt, um ihr Fortsein zu bewirken. In Ulysses geht die Ballspielszene weiter. Erst Fort: „Die Zwillinge spielten jetzt in gebührender brüderlicher Eintracht miteinander, bis schließlich Master Jacky … den Ball in voller Absicht so kräftig, wie er nur konnte, hinunter zu den mit Seetang bewachsenen Felsen schoss. Es bedarf keiner Erwähnung, dass der arme Tommy nicht lange zögerte, seiner Bestürzung lauthals Ausdruck zu geben …“ – was, bei aller brüderlichen Eintracht, Jackys Lust noch gesteigert haben mag. Dann Da: „…doch glücklicherweise kam der Herr in Schwarz, der dort einsam saß, galant zu Hilfe und fing den Ball auf.“ Was man daran sieht, sagt...
Erscheint lt. Verlag | 4.6.2021 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sport ► Ballsport ► Fußball |
Schlagworte | buch über fußball • Erinnerungen • Essay • exklusive Einblicke • Fan-Artikel • Fußball • Fußballbuch • Fußball-Buch • Fußball-Fans • Fußball-Geschichte • Fussball-liebhaber • Fußball-nerds • Fussball-Nostalgie • Geschenk-buch Männer • Geschenk für Fußballfans • Geschenk für Fußballnerds • Geschenk für Männer • Memoir • Sehnsucht • Sport-Buch • weihnachtsgeschenk für männer • Weltmeister-schaft |
ISBN-10 | 3-8419-0772-5 / 3841907725 |
ISBN-13 | 978-3-8419-0772-1 / 9783841907721 |
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