Gehen (eBook)
208 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99953-3 (ISBN)
Torbjørn Ekelund, Jahrgang 1971, ist norwegischer Journalist und Autor. Er schreibt u.a. für die Tageszeitung Dagbladet und ist Mitherausgeber eines unabhängigen kleinen Buchverlags. So oft es geht, verbringt er seine freie Zeit im Wald. Er hat das Onlinemagazin harvest.as mitbegründet, wo er über Abenteuer in der Wildnis und unsere Beziehung zur Natur berichtet. Mit seiner Familie lebt er in Oslo. Auf Deutsch erschienen bislang von ihm »Im Wald« und »Mein Sohn und der Berg«. Zudem arbeitete er als Koautor an Aksel Lund Svindals Autobiografie »Größer als ich« mit.
Torbjørn Ekelund, Jahrgang 1971, ist norwegischer Journalist und Autor. Er schreibt u.a. für die Tageszeitung Dagbladet und ist Mitherausgeber eines unabhängigen kleinen Buchverlags. So oft es geht, verbringt er seine freie Zeit im Wald. Er hat das Onlinemagazin harvest.as mitbegründet, wo er über Abenteuer in der Wildnis und unsere Beziehung zur Natur berichtet. Mit seiner Familie lebt er in Oslo. Auf Deutsch erschienen bislang von ihm "Im Wald" und "Mein Sohn und der Berg". Zudem arbeitete er als Koautor an Aksel Lund Svindals Autobiografie "Größer als ich" mit.
Anfang
Einst waren wir Nomaden. Wir wanderten umher, hielten uns nie lange an einem Ort auf. Die Welt lag offen und unberührt vor uns, es gab keine Grenzen. Wir konnten in jede beliebige Richtung gehen, dem Wild folgen, neues Land erforschen.
Heute sind wir sesshaft. Wir verbringen unser Leben im Sitzen. Fahren mit dem Auto zum Einkaufen und benutzen für lange Reisen ein Flugzeug. Wir bekommen die Pizza an die Haustür geliefert und kaufen automatische Rasenmäher, kleine Roboter, welche die Arbeit für uns erledigen, während wir im Liegestuhl sitzen und an wichtigere Dinge als das Rasenmähen denken.
Unterwegs zu sein hat seinen ursprünglichen Zweck verloren. Es ist für die Lebenserhaltung nicht länger erforderlich, sondern zu einem Mittel der Unterhaltung und Entspannung geworden. Wir bewegen uns mit einem Flugzeug von einem Erdteil zum anderen. Auf diese Weise überwinden wir enorme Entfernungen, doch gleichsam ohne Mühe, und wir wissen nichts über die Wege und Landschaften, die viele Tausend Meter tiefer unter der Wolkendecke liegen. Etwas Grundlegendes hat sich verändert. Man könnte auch sagen, dass etwas verloren gegangen ist, wenn wir heute von einem Kontinent zum anderen fliegen und dabei den Check-in am Flughafen als die anstrengendste Etappe der Reise empfinden.
Einst war die Fähigkeit, eine Landschaft lesen zu können, für das Überleben notwendig. Heute brauchen wir keine Kenntnisse über Navigation oder Orientierung, um dahin zu gelangen, wohin wir wollen. Der Weg wird vom GPS unseres Mobiltelefons abgesteckt, und während wir gehen, starren wir auf einen leuchtenden Bildschirm und blicken weder auf den Weg, auf dem wir uns befinden, noch auf das Ziel, zu dem wir unterwegs sind. Das Ortsgedächtnis ist etwas, das wir nicht mehr benötigen. Das Gleiche gilt für die Fähigkeit, Entfernungen abzuschätzen.
Der Weg war die erste Verkehrsader, und die Art und Weise, wie er sich durch die Landschaft zieht, erzählt etwas Grundlegendes über die Menschen, die für seine Entstehung sorgten. Die Trasse eines Wegs ist niemals zufällig. Sie bildet nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ab, sondern die einfachste. Somit ist sie ein Ergebnis der dem Menschen innewohnenden Neigung, stets den Weg des geringsten Widerstands zu wählen, weil der sparsame Umgang mit Energiereserven für das Überleben wichtig war.
Boten liefen zu Fuß über Pfade und Karrenwege. Die dafür erforderliche Zeit war den Kräften untergeordnet, die sie für die Überwindung der Strecke aufbringen mussten. Wenn sie ihr Ziel schließlich erreichten, konnte die zu überbringende Nachricht schon längst veraltet sein, vielleicht sogar völlig unzutreffend. »Hier geht es allen gut«, konnte zum Beispiel in einem Brief stehen, den europäische Auswanderer in Amerika von ihren Verwandten in der alten Heimat erhielten. Doch im Laufe der Monate, die seit dem Aufgeben des Briefes vergangen waren, konnten viele der Verwandten, ja sogar der Briefschreiber selbst, an Tuberkulose, Scharlach, vor Hunger oder aus anderen Gründen gestorben sein. Und auch der Krieg konnte schon längst vorüber sein, wenn der Bote mit der Nachricht über den Ausbruch desselben an sein Ziel gelangte. Alles brauchte seine Zeit. Dies war die Prämisse für jede Reise.
Die Geschichte der Wege ist auch eine Geschichte über eine Welt, die im Verschwinden begriffen ist. Wege wurden zu Straßen, die Wanderung zu Fuß wurde zu einer Fahrt mit Wagen oder Pferdekarren, der Waldboden wurde zu Asphalt und Beton. Die Wagen und Pferdekarren wurden durch Autos und Schwertransporter ersetzt. Straßen mussten ausgebessert, Sümpfe trockengelegt, Berge gesprengt werden. Und Heidelandschaften wurden mit Schotter und Kies zugeschüttet und planiert.
Die Dauer einer Reise wurde einst durch den Weg bestimmt. Heute können Landschaften umgeformt und angepasst werden. Felsen können gesprengt, Feuchtgebiete entwässert und Flüsse in Rohre verlegt werden. Wir haben den Raum als eine der wichtigsten Prämissen für das Reisen eliminiert. Zeit hingegen bedeutet uns alles.
In der kleinen Erzählung Veien (Der Weg) hält der norwegische Schriftsteller und Philosoph Peter Wessel Zapffe treffend fest:
So kam der Weg zur Welt, durch die Begegnung des Fußes
mit weichem Grund, und Menschen und Wege wuchsen zusammen und teilten gute und schlechte Tage. (…) Eines Tages geschah etwas Neues. Eine lärmende, stinkende Trollmeute brach stampfend durch das Tal. (…) Ingenieure kamen. Fremde Männer mit Eisenskelett und Winkelhirn und Quarzaugen, die nur Träger und Balken sahen. Sie schrien
und lärmten, und unter Donner und Rauch zogen sie eine scheunenbreite, blutende Steinwunde durch das Tal hinter sich her. (…) Die neue Straße breitete sich aus wie ein Wilder, blind und taub für alles andere als das Ziel.
Die Wege waren stets mit der Landschaft verschmolzen gewesen, sie hatten nichts zerstört. Doch genau das taten nun die Straßen. Sie veränderten alles. Sie verformten nicht nur die ursprüngliche Landschaft, sondern wurden für Braunbär, Rentier, Lachs, Wolf, die sich wie fast alle Lebewesen im Raum bewegen, zum Hindernis. Wanderungen gemäß der Jahreszeit, Wanderungen, um Nahrung zu finden, der ewige Umzug von einem Ort zum anderen und wieder zurück.
Die Migrationsrouten der Tiere wurden von großen Straßenanlagen unterbrochen, die sie nicht zu überwinden vermochten. Die Routen der Zugvögel wurden von fliegenden Metallmonstern gekreuzt, die plötzlich den Luftraum beherrschten. Die jährlichen Wanderungen der Fische durch die Flüsse wurden durch Brückenanlagen und Staudämme blockiert. Ganze Arten verloren ihren Lebensraum und starben aus.
»Im Kopfe des von seinen Zwecken erfüllten Menschen sieht die Welt aus, wie eine schöne Gegend auf einem Schlachtfeldplan aussieht«, schrieb der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer. Das Gleiche ließe sich über Nationen, Kulturen, den gesamten Zeitgeist sagen, der die westliche Welt seit Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert geprägt hat.
In meiner Kindheit zogen sich Wege wie ein roter Faden durch mein Leben. Gehen war ein natürlicher Bestandteil des Daseins, es existierten keine anderen Möglichkeiten. Überall gab es Wege. Sich zu bewegen war der Normalzustand.
Ich wurde erwachsen und fing an, in einem Büro zu arbeiten. Die Wege verschwanden aus meinem Leben und mit ihnen auch die Bewegung. Schilder sagten mir, wo ich entlanggehen sollte. Der Asphalt machte alle meine Schritte gleich. Straßenbeleuchtung vertrieb die Dunkelheit. Zäune und Bordsteinkanten führten mich in die richtige Richtung.
Ich entdeckte nichts mehr. Ich musste mich nicht mehr umschauen, um herauszufinden, wo ich mich befand und wo es weiterging. Ich brauchte nicht länger auf meine Urteilskraft zu vertrauen und keine Richtungsentscheidungen mehr zu treffen. Ein Leben in Bewegung war verwandelt in ein Leben im Stillstand. Überallhin fuhr ich mit dem Wagen, und wenn ich zu einem Ort wollte, aber kein Auto zur Verfügung hatte, blieb ich lieber zu Hause.
Eines Tages passierte etwas, das mein Leben sowohl zum Besseren als auch zum Schlechteren veränderte. Ich interviewte einen Schriftsteller. Wir saßen einander schräg gegenüber an einem großen weißen Tisch in einem Büro in der Osloer Innenstadt. Der Schriftsteller erzählte von den Büchern, die er geschrieben hatte. Ich versuchte, seinen Worten zu folgen, aber plötzlich schien mein Kopf nicht mehr zu funktionieren, als hätte es da drinnen einen Kurzschluss gegeben. Ich starrte den Mann an. Ich sah, wie sich sein Mund bewegte, verstand aber nicht, was er sagte. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war, dass ich dachte: Was passiert da gerade mit mir?
Als ich wieder wach wurde, lag ich in einem Notarztwagen. Ein Mann redete auf mich ein. Sein Gesicht schwebte groß und undeutlich irgendwo über mir. Können Sie mich hören, fragte der Mann. Können Sie mich hören? Ich versuchte, ihm zu antworten, schaffte es aber nicht. Es war, wie am Grund des Meeres zu liegen. Ich wollte zu dem Mann mit der roten Jacke hinaufschwimmen, aber der Weg war so weit, und mir fehlte die Kraft. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann wurde alles wieder schwarz.
Ein paar Stunden später erwachte ich in einem Krankenhaus. Ich lag in einem Bett, das hierhin und dorthin gerollt wurde. Krankenpfleger und Ärzte kamen und gingen. Sie sagten mir Dinge, die ich nicht verstand; als ob sie eine Sprache verwendeten, derer ich nicht mächtig war. Mein Kopf wurde untersucht. MRT. CT. Röntgenaufnahmen des ganzen Körpers. Sie fanden nichts. Alles war völlig normal, und dennoch war etwas Dramatisches passiert.
Ich wurde in einem Zimmer untergebracht und kam langsam wieder zu mir. Die Sprache kehrte zurück, das Gedächtnis kam wieder. Drei Tage lag ich in diesem Zimmer, ehe eine Ärztin mir erklärte, dass ich an Epilepsie erkrankt sei. Manches wird sich ab jetzt in Ihrem Leben ändern, sagte die Ärztin, und eines davon ist, dass Sie nicht länger Auto fahren können.
An meinem letzten Tag im Krankenhaus lag ich da und dachte darüber nach. Nach fast dreißig Jahren hatte ich also meinen Führerschein verloren. Der erste Gedanke war, dass das große praktische Konsequenzen nach sich ziehen würde. Wie ich gehört hatte, erlebten manche Leute, die ihren Führerschein infolge einer Erkrankung verloren hatten, die Krankheit selbst als weniger belastend als die Tatsache, nicht mehr Auto fahren zu können. Wie würde ich reagieren? Wie stark würde sich mein Leben verändern? Würde ich den alten Volvo vermissen?
Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, verabschiedete ich mich endgültig von meinem Wagen. Was dann geschah, erstaunt mich bis heute. Ich...
Erscheint lt. Verlag | 29.7.2021 |
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Übersetzer | Andreas Brunstermann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Reisen ► Reiseführer | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Annie Dillard • Appalachian Trail • Arne Naess • Bill Bryson • Bruce Chatwin • Buch Geschenk • Cinque Terre • DNT • E12 • Entschleunigung • Epilepsie • erling kagge • Fjord • Flanieren • Friluftsliv • Gehen • Gesundheit • Glück • gooley • Great Divide Trail • Hardangervidda • Henry David Thoreau • Hiking • Himalaja • Himalaya • Hokkaido Nature Trail • hygge • Island • Jakobsweg • John Muir • Jotunheimen • Königsweg • Kultur-Pfad • Kungsleden • Küsten-Weg • Langsamkeit • Laufen • Les Sentiers de Grande Randonnée • Meditation • Migration • Mistaken Point • nachhaltig • Natur • Nature writing • Natur-Pfad • Navigation • Neuseeland • Nordmarka • Norwegen • Oslo • Pacific Crest Trail • PATH • PCT • Ralph Waldo Emerson • rebecca solnit • Resilienz • Robert Macfarlane • Schlendern • Sentiero Azzurro • Sesshaftigkeit • Shikoku • South West Coast Path • Spazieren • Spaziergang • Te Arora • Torbjörn • Trail • Trailrun • vor der Haustür • Wald • wander-lust • Wandern • Wanderverein • Weg • Zu Fuß |
ISBN-10 | 3-492-99953-0 / 3492999530 |
ISBN-13 | 978-3-492-99953-3 / 9783492999533 |
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