Lebenskrisen und ihre Botschaften (eBook)

Von Anfängen und Übergängen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
98 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06527-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lebenskrisen und ihre Botschaften -  Georg Lauscher
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In Lebenskrisen geht etwas 'in die Brüche'. Aber Brucherfahrungen sind nie von vornherein gut oder schlecht. Je nachdem, wie ich mit ihnen umgehe, können sie zur Katastrophe oder zu einem Aufbruch führen. Auch eine lebendige Spiritualität ist nicht ohne Brüche zu haben, weil Brüche zum Leben gehören - zum Wachsen in seelische Tiefen hinein wie in soziale, ja universale Weite hinaus. Ein krisengereifter Glaube birgt ungeahnte kreative Kräfte zur Lebensgestaltung im Persönlichen wie im Politischen, wirkt sich aus im Kontakt mit den Schwächen anderer und mit den Schwachen in der Gesellschaft. Georg Lauscher geht den Bruchstellen des Lebens entlang, spürt die verborgenen, nicht leicht zu entschlüsselnden Botschaften der Erfahrung von Verlust oder Scheitern auf und deutet sie aus der franziskanischen Spiritualität, um sie für ein lebendiges Leben fruchtbar zu machen.

Georg Lauscher, geb. 1956, Priester im Bistum Aachen, lebte über 20 Jahre in sozialen Brennpunkten und arbeitete einige Jahre als ungelernter Arbeiter in der Stahl- und Textilindustrie. Heute ist er in der geistlichen Begleitung und als Spiritual in der Diakonen- und Priesterausbildung tätig.

Georg Lauscher, geb. 1956, Priester im Bistum Aachen, lebte über 20 Jahre in sozialen Brennpunkten und arbeitete einige Jahre als ungelernter Arbeiter in der Stahl- und Textilindustrie. Heute ist er in der geistlichen Begleitung und als Spiritual in der Diakonen- und Priesterausbildung tätig.

1. Brüche

„Ein zerbrochenes

und zerschlagenes Herz –

wirst du, Gott,

nicht verschmähen

(nicht verachten).“

(Ps 51,19)

Woche für Woche, jeden Freitag betete ich in den Laudes diesen Vers aus Psalm 51. Ich betete ihn widerspenstig, mit innerer Ablehnung: Nein, ein Sadist kann Gott nicht sein, und zum Masochisten will ich nicht werden!

Bis mir eines Tages aufging: Ein lebendiges, weiches, pulsierendes Herz kann nicht brechen. Brechen kann nur ein kalt gewordenes, verhärtetes Herz. Wenn aber ein verhärtetes Herz aufbricht, ja zerbricht, könnte dies ungeahnte Lebenskräfte und Lebensmöglichkeiten freilegen.

Geboren

Menschen sind Überlebende. Alle. Der erste Aufbruch, den wir überlebten, war unsere Geburt. Nicht ohne unseren Einsatz riss die bis dahin schützende, aber auf Dauer tödliche Hülle. Irgendwie wurden wir gedrängt und zugleich drängte es uns durch eine dunkle Enge voran. Warum? Wozu das? Wir wussten nichts. Es geschah, ohne dass wir es bewusst steuern oder verhindern konnten. Und doch „wussten“ wir. Wir ließen geschehen und wirkten zu einem bescheidenen Teil mit bei diesem Geschehen. Und dann der Schock. Und dann der Schrei. Mitten in der überwältigenden Atemnot der erste Atemzug. In der Bildsprache der Bibel ist unser erstes Einatmen das Ausatmen Gottes: „Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem“ (Gen 2,7). Diesem Bild folgend wäre jedes Einatmen unsererseits ein Ausatmen Gottes – bis schließlich unser letztes Ausatmen im Sterben uns ins Einatmen Gottes zurücksinken lässt. „Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub“ (Ps 104,29). Und zwischen unserem ersten Einatmen und unserem letzten Ausatmen ein ganzes Leben in dieser Atemwiege, in dieser „Atemschaukel“ (Herta Müller). Ein Leben in sehr unterschiedlich bekömmlichem Atemgemisch: unser Einatem geprägt von der Qualität des Ausatems anderer – und ihr Einatem geprägt von der Qualität auch unseres Ausatems! Was für eine große wechselseitige Verantwortung!

Wir kamen also durch eine große Bedrängnis hindurch zur Welt. Das Erste, womit wir fertig werden mussten, war offensichtlich ein Schock, ein Trauma. Es war wie der Hinauswurf aus dem Paradies, mit dem wir fertig werden mussten. Das plötzliche, schmerzliche Ende einer Symbiose. Die bislang passende und förderliche Form des Mit-Lebens war an ein Ende gekommen. Wir wurden nicht gefragt. Es geschah an uns gegen unser Beharren und gegen unseren „Willen“ – und dennoch unserer menschlichen Natur gemäß! Die räumliche und gefühlsmäßige Trennung wurde noch besiegelt durch den scharfen Schnitt der Abnabelung. Auch gegen unseren „Willen“ – doch unserer menschlichen Natur gemäß. So sind wir von Geburt an traumatisierte und verletzte Menschen. All dies, was uns hier überwältigte, war offensichtlich eine notwendige Voraussetzung. Doch wofür? Für einen Entwicklungssprung, für eine erschreckende, doch später beglückende Überwältigung mit Lebendigkeit.

Aufgebrochen

Und nach unserer Geburt – wie viele Gefährdungen haben wir bis heute überlebt? Sonst schrieb ich diese Zeilen nicht und Sie würden sie nicht lesen! Wir sind Überlebende. Alle. Ein gläubiger Mensch würde sagen: Wir sind mit göttlichem und menschlichem Lebensatem Begabte, Begnadete. So oder so sind wir Aufgebrochene in einem doppelten Sinn: Wir sind bei unserer Geburt aufgebrochen worden in unserer wohligen Blase und sind aufgebrochen in ein fremdes, farbiges, furchterregendes und faszinierendes Leben. Und dies endet nicht, solange wir wach und lebendig bleiben: Wir leben von Geburt zu Geburt. Wir erleben immer wieder neu, aufgebrochen zu werden und aufbrechen zu müssen aus der Blase unseres Egos, unseres Milieus, unserer alten Lebensmuster. Der Echoraum, der uns mit der Zeit vertraut wurde, wird wieder neu aufgeknackt. Zu unserem Glück. Die Botschaft des Bruchs: Es gibt mehr! Du kannst weiter gehen! Schließ dich nicht selber ein in dem dir Vertrauten. Die Welt ist größer. Dein Leben auch!

Darin sind wir einander verwandt. Unsere erste und entscheidende Geburt scheint sich mitten im Leben auf eine andere Weise wiederholen zu müssen. Die Höhle unseres liebgewonnenen, kleinen Universums wird wieder aufgebrochen, die erweiterte Blase des erwachsenen Lebens bekommt einen Riss. Einmal. Viele Male. Wir kennen die beseligende Überwältigung in der Liebe und Selbsttranszendenz. Auch hier entgleitet uns die Regie in unserer Lebensführung. Solch beseligender Autonomie- und Machtverlust kann uns auch in der Natur, in der Musik oder im Gebet ereilen. Im Folgenden beschränken wir uns auf die traumatische Verlusterfahrung in Lebenskrisen.

Auch diese negativen Überwältigungen sind äußerst unterschiedlich, und sie werden von uns unterschiedlichen Menschen unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Ein Trauma ist ein Ereignis, das unsere momentane nervliche und seelische Belastbarkeit übersteigt. Je früher in der Biographie sich ein Trauma ereignet, desto stärker die Wirkung, aber desto stärker sind (nach Erich Fromm) auch noch die Kräfte, mit denen sich jemand davon erholt. Ob Krankheit, Unfall, Krankenhaus, Prügel, Eingesperrtsein, sexuelle Überwältigung, Flucht, Vertreibung, Krieg – aus dieser Nacht der Nächte ist jede und jeder verändert aufgewacht. Fürs Leben verändert. Eingebrannt bleibt oft: Menschen, denen ich vertraute, haben mich zum Opfer gemacht oder teilnahmslos zum Opfer werden lassen.

Das griechische Wort Trauma bedeutet Wunde, Leck. In jedem Menschenleben gibt es offenbar dunkelste Stunden, in denen niemand da ist, der mitfühlt und versteht. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen und müssen sie alleine bestehen. Selbst der allernächste Mensch, der mitfühlt und versteht, muss auf der Schwelle stehen bleiben. Wie in der Passion Jesu tut sich ein einsamer, nicht einsehbarer Abgrund auf. „Ein Abgrund ruft den anderen hervor“, übersetzten frühe Christ*innen den Psalmvers „Flut ruft der Flut zu beim Tosen deiner stürzenden Wasser“ (Ps 42,8). Sie versuchten in diesem Bild auszudrücken, dass sie mitunter den eigenen, einsamen Abgrund als zutiefst verbunden mit dem göttlichen Abgrund erfuhren – gerade auch in den für sie bedrängenden sozialen und politischen Verhältnissen.

Es ist, wie wir bei der Geburt gesehen haben: Etwas, was ich nicht wollte, hat mich überwältigt. Es kam plötzlich, massiv. Ich war kaum darauf vorbereitet, war schwach in diesem Augenblick. Durch diese überwältigende Erfahrung wurde etwas aufgebrochen in mir, in meinem Lebensgefühl. Ich wurde aufgebrochen. Ich bin anders danach. Wie gestorben? Wie neu geboren?

Die Erfahrung der einsamen Todesnähe wurde wie eine Wunde in den Leib, wie ein Leck in das eigene Lebensboot eingeritzt. Sie bleibt präsent. Die alte spirituelle Übung des memento mori, dieses „Gedenke, Mensch, dass du sterben wirst!“ ist seit dieser Erfahrung in die Seele, oft auch in den Leib eingezeichnet. Diese spirituelle Übung liegt diesen Überlebenden jetzt sozusagen im Blut. Anfangs vielleicht wie eine Panikattacke. Mit zunehmender Verarbeitung und Einfügung dieser Erfahrung ins eigene Wachstum kann sie leichter werden. Als verarbeitete und angenommene Erfahrung eröffnet sie die Möglichkeit, von innen her solidarisch und mitfühlend zu werden: „Anderen geht es ja ähnlich!“ Und der Tod, der von Dichter* innen des Schlafes Bruder genannt wird – er wurde auch des Tages Bruder, des Alltags Bruder. Ein Weggefährte, der dazugehört, der mitgeht. Leise. Es ist wie nach einem gelungenen Friedensschluss. Und durch all dies hindurch die Ahnung: Da ist eine oder einer, eine innere Vertraute oder ein innerer Unbekannter, die oder der verschafft deinen Grenzen Frieden (vgl. Ps 147). Sanft. Wenn auch du selbst sanft mit dir bist!

Allen Opfern aber bleibt etwas eingebrannt wie ein Tattoo, ein Wundmal. Für die Kirche ist ein Sakrament eine Art Tattoo. Einen character indelebilis, ein unauslöschliches Prägemal nennt sie es. Alles ist wie zuvor, und alles ist anders. Es gibt ein Tattoo „Opfer“, eine furchtbare, eines Tages womöglich dennoch fruchtbare Einführung ins abgründige Geheimnis des Lebens.

Einbruch

Dies also ist die erste Erfahrung: Ich bin an einer Stelle meines Lebens aufgebrochen worden. Fremdes, Unheimliches, Unfassbares ist durch diese Bruchstelle in mein Leben eingebrochen. Für Überlebende eines solchen Einbruchs wohnt das Abgründige nicht mehr bloß außen. Das wäre einfacher. Es wohnt innen. Mit seinen lebenslangen Folgen und Echoeffekten in Leib, Geist und Seele wohnt es innen. Die Konfrontation mit dieser inneren Schwester oder diesem dunklen Bruder und deren wieder und wieder zu erringende Adoption werden zur Lebensaufgabe. Es kann sich zu einer Lebenskunst entwickeln und zu einer wunderbaren Lebensgestalt werden. Sigmund Freud, dem Erich Fromm nach über 50 Jahren psychoanalytischer Praxis zustimmt, vertritt sogar die erstaunliche These, dass die Chancen für die Heilung umso günstiger sind, je größer das Trauma ist. Fromm ist überzeugt: Wenn ein*e Patient*in ein schweres Trauma überlebt, ohne in massiver Weise psychisch krank zu werden, dann zeigt dies, dass sein Kern gesund geblieben und er konstitutionell mit einer großen Stärke ausgestattet ist.

Psycholog*innen und Seelsorger*innen wissen, wie verbreitet und prägend traumatische Erfahrungen sind. Sie wissen, wie unverzichtbar es gerade hier ist, „die Geister zu unterscheiden“, also genau hinzuschauen und hinzuspüren, ob es um eine aktuelle oder eine alte, jetzt unangemessene Angst geht. Gilt es, eine alte Erfahrung...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2021
Reihe/Serie Franziskanische Akzente
Verlagsort Würzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Schlagworte Franziskus • Gesellschaft • Glaube • Krise • Persönlichkeit • Spiritualität
ISBN-10 3-429-06527-5 / 3429065275
ISBN-13 978-3-429-06527-0 / 9783429065270
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