Über die Liebe (eBook)
184 Seiten
Aquamarin Verlag
978-3-96861-234-8 (ISBN)
Jiddu Krishnamurti, geboren 1895 in Indien, gestorben 1986 in den USA, war einer der großen Revolutionäre unseres Jahrhunderts und einer der unabhängigsten Denker, die sich je der Erforschung der menschlichen Natur zuwandten. Auf Vortragsreisen und in mehr als 60 Büchern legte er Suchenden in aller Welt seine Auffassung eines geistigen Erwachens ohne die Vermittlung traditioneller religiöser Methoden dar.
Die beiden großen Themen Krishnamurtis waren „Freiheit“ und „Liebe“. Dieser Band vereint erstmals seine berührendsten Texte zum Thema „Liebe“, die zum Tiefsten gehören, was er je geschrieben oder gesprochen hat. Ein aufrüttelndes Dokument geistiger Klarheit und selbstloser Hingabe. Eines der schönsten Zeugnisse von Krishnamurtis tiefer Verwirklichung!
Madras, 16. Dezember 1972
Bei der Erörterung dieser Fragen, die unsere alltäglichen Lebensprobleme sind, sollten wir bedenken, dass wir diese Untersuchung gemeinsam führen; gemeinsam unternehmen wir eine Reise in ziemlich komplexe Lebensfragen. Und um gemeinsam zu untersuchen, bedarf es einer Intensität eines geistigen Zustandes, der nicht an eine bestimmte Glaubensüberzeugung oder Schlussfolgerung gefesselt ist, sondern gewillt ist, sehr weit zu gehen, nicht in zeitlicher Hinsicht, sondern im Sinne von Tiefe.
Wir werden gemeinsam untersuchen, ob wir in unsere alltäglichen Beziehungen Ordnung bringen können; denn die Gesellschaft ist Beziehung. Die Beziehung zwischen Ihnen und mir, zwischen mir und einem anderen ist das Gerüst der Gesellschaft, d. h. Gerüst und Wesen der Gesellschaft sind die Beziehungen. Ich drücke das sehr einfach aus. Und wenn in dieser Beziehung keine Ordnung herrscht – wie es gegenwärtig keine Ordnung gibt – dann muss jede Art von Handlung nicht nur widersprüchlich sein, sondern auch sehr viel Leid, Elend, Verwirrung und Konflikt schaffen. Bitte, lassen Sie mich hier nicht nur allein reden, sondern nehmen Sie daran teil, weil wir vielleicht vertrauens- und rücksichtsvoll Hand in Hand zusammen eine Reise antreten. Wenn Sie nur dort sitzen und wie in einer Vorlesung zuhören, meine ich, können wir nicht Hand in Hand reisen. Beobachten Sie also bitte Ihre eigenen Gedanken, Ihre eigene Beziehung – egal welche es ist – zu Ihrer Frau, zu ihren Kindern, zu Ihren Nachbarn oder zu Ihrer Regierung, und prüfen Sie, ob in dieser Beziehung Ordnung herrscht; denn wir brauchen Ordnung und Genauigkeit. Ordnung ist eine Tugend, Ordnung ist genau, rein und vollkommen; und wir wollen entdecken, ob es solche Ordnung gibt.
Niemand kann beziehungslos leben. Sie können sich in die Berge zurückziehen, ein Mönch, ein Sannyasi werden, Sie können allein in die Wüste gehen, aber Sie bleiben in Beziehung. Diesem unabänderlichen Tatbestand können Sie nicht entgehen. In Isolation können Sie nicht existieren. Vielleicht denkt Ihr Verstand, dass Sie in Isolation existieren oder einen Zustand der Isolation herbeiführen können – doch selbst dann noch stehen Sie in Beziehung. Das Leben ist Beziehung; zu leben heißt – in Beziehung zu sein. Wenn wir eine Mauer um uns errichtet haben und nur gelegentlich über diese Mauer hinübersehen, können wir nicht leben. Unbewusst, tief unter der Mauer sind wir miteinander in Beziehung. Ich glaube nicht, dass wir bisher dieser Beziehungsfrage sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt haben. Ihre Bücher berichten nicht über Beziehung. Sie sprechen von Gott, von Praktiken und Methoden, wie man atmet, was man tun oder nicht tun darf; aber man hat mir gesagt, dass nichts über Beziehung darin steht.
Beziehung erfordert Verantwortlichkeit, wie es auch die Freiheit tut. In Beziehung zu sein, heißt zu leben – das ist das Dasein. Und wenn in dieser Beziehung Unordnung herrscht, wird unsere ganze Gesellschaft, unsere Kultur zerstört, was jetzt wirklich geschieht.
Was also ist Ordnung, was ist Freiheit und was ist Beziehung? Was ist Unordnung?
Wenn man im Geist, tief innerlich wirklich versteht, was Unordnung hervorruft, dann entsteht aus dieser Einsicht, aus diesem Gewahrwerden, aus dieser Beobachtung eine ganz natürliche Ordnung. Das ist kein Entwurf davon, was Ordnung sein sollte. Wir sind nach einem Ordnungs-Muster, das die Religionen, die Kulturen vorgefertigt haben, erzogen worden. Man hat versucht, sich dieser Ordnung anzupassen, ob es sich nun um eine kulturelle, eine soziale Ordnung, eine Rechtsordnung oder eine religiöse Ordnung handelt. Man hat versucht, sich dem Muster anzupassen, das durch die soziale Aktivität von bestimmten Führern und Lehrern etabliert worden ist. Für mich ist das keine Ordnung, weil sie mit Anpassung verbunden ist, und dort, wo man sich anpasst, herrscht Unordnung. Wo man Autorität akzeptiert, ist Unordnung. Wo man sich im Leben vergleicht – d. h. man misst sich mit einem anderen, vergleicht sich mit einem anderen – herrscht Unordnung. Wir werden Ihnen den Grund dafür aufzeigen. Warum passen Sie sich geistig an? Haben Sie sich je diese Frage gestellt? Sind Sie sich bewusst, dass Sie sich einem Muster anpassen? Es ist unwichtig, welches Muster das ist, ob Sie es sich selber zurechtgelegt haben oder ob man es für Sie aufgestellt hat. Warum passen wir uns immer an? Wo Konformismus herrscht, gibt es keine Freiheit. Aber der Geist sucht immer nach Freiheit. Je intelligenter, wacher, bewusster man ist, umso größer wird diese Forderung. Der Verstand passt sich an, imitiert, weil man sicherer ist, wenn man sich anpasst, in einer Schablone verharrt. Die Tatsache ist offenbar. Aus Gründen der Anpassung unternehmen Sie alles Mögliche im gesellschaftlichen Leben. Vielleicht wurden Sie im Ausland erzogen, vielleicht sind Sie ein großer Wissenschaftler, ein Politiker; aber die Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn Sie nicht in den Tempel gehen oder die üblichen Dinge unterlassen, die man Ihnen beigebracht hat, bleibt Ihnen. Also passen Sie sich an. Was wird aus dem Geist, der sich anpasst? Bitte, untersuchen Sie das. Was geschieht mit Ihrem Geist, wenn Sie sich anpassen? Zunächst werden Ihnen Freiheit, Erkenntnis und unabhängige Forschung versagt. Wenn Sie sich anpassen, entsteht Angst. Von Kindheit an wurde der Geist zur Imitation, zur Anpassung an Schablonen erzogen, die die Gesellschaft eingeführt hat: Prüfungen bestehen, promovieren, einen Job bekommen, wenn Sie Glück haben, und heiraten – Schluss. Sie akzeptieren dieses Muster und haben zu viel Angst, ihm nicht zu folgen.
Innerlich verleugnen Sie also die Freiheit, innerlich haben Sie Angst, innerlich fühlen Sie, dass Sie nicht frei sind zu entdecken, zu forschen, zu suchen, zu fragen. Das bringt Unordnung in unsere Beziehung. Sie und ich – wir versuchen hier wirklich tief einzudringen, wahre Einsicht zu erlangen, diese Wahrheit zu erkennen. Und es ist die Erkenntnis der Wahrheit, die den Geist befreit, nicht irgendeine Übung oder die Aktivität der Untersuchung an sich, sondern die wahre Erkenntnis dessen, »was ist«.
Durch unsere Angst, durch Anpassung und Vergleichen bringen wir in unsere Beziehung sowohl innerlich als auch äußerlich Unordnung. Unsere Beziehung miteinander, wie intim sie auch sein mag, ist in Unordnung – und das auch äußerlich. Wenn wir diese Unordnung klar sehen, nicht da draußen, sondern hier drinnen, tief in uns selber, ihre Implikationen erkennen, dann entsteht aus dieser Wahrnehmung Ordnung. Dann müssen wir nicht nach einer uns aufgezwungenen Ordnung leben. Die Ordnung ist keine Schablone, sie ist kein Entwurf. Sie entsteht aus der Erkenntnis, was Unordnung ist. Je mehr Sie verstehen, was in der Beziehung Unordnung bedeutet, desto größer wird die Ordnung. Darum müssen wir herausfinden, was für eine Beziehung wir miteinander haben.
Was für eine Beziehung haben Sie mit einem anderen? Haben Sie überhaupt eine Beziehung? Oder stehen Sie mit der Vergangenheit in Beziehung? Es ist die Vergangenheit mit ihren Bildern, ihrer Erfahrung, dem Wissen, die dazu führt, was Sie Beziehung nennen. Aber Wissen in der Beziehung ruft Unordnung hervor. Ich bin mit Ihnen verwandt. Ich bin Ihr Sohn, Ihr Vater, Ihre Frau, Ihr Mann. Wir leben zusammen. Sie haben mich gekränkt, und ich habe Sie gekränkt. Sie nörgeln an mir herum, Sie kommandieren mich herum. Sie schlagen mich. Sie sagen schlimme Sachen hinter meinem Rücken und mir ins Gesicht. So lebe ich mit Ihnen seit zehn Jahren oder zwei Tagen, und die Erinnerungen bleiben, die Kränkungen, die Irritationen, das sexuelle Vergnügen, der Ärger, die brutalen Worte und alles andere bleiben. Das wird alles in den Gehirnzellen gespeichert, die das Gedächtnis bergen. Also gründet meine Beziehung zu Ihnen auf der Vergangenheit. Die Vergangenheit ist mein Leben. Wenn Sie beobachten, werden Sie sehen, wie alles, Ihr Geist, Ihr Leben, ihre Aktivität in der Vergangenheit wurzeln. Beziehung, die in der Vergangenheit wurzelt, muss Unordnung bringen, d. h. Erfahrung bringt Unordnung in die Beziehung. Wenn Sie mich kränken, erinnere ich mich daran. Sie haben mich gestern oder vor einer Woche gekränkt, das bleibt in meinem Gedächtnis. Das ist die Erfahrung, die ich mit Ihnen gemacht habe. Diese Erfahrung steht der Beziehung im Wege, diese Erfahrung bringt Unordnung in die Beziehung. Also lautet die Frage: Wenn Sie mich kränken, wenn Sie mir schmeicheln, wenn Sie mich empören – kann der Geist das sofort löschen, ohne es aufzuzeichnen? Haben Sie das jemals versucht?
Wie wunderschön ist doch dieser Mond, nicht wahr? Wie er dort durch die Blätter schimmert – und der Schrei der Krähen und das Abendlicht! Dieser ungewöhnliche Mond hinter den Blättern ist eine zauberhafte Sache. Schauen Sie hin, genießen Sie es!
Nehmen wir an, gestern Abend hat jemand ziemlich deftige Dinge zu mir gesagt, die nicht wahr sind. Was er sagte, wurde aufgezeichnet, und der Geist identifiziert die Person mit der Aufzeichnung und handelt entsprechend. Wenn der Geist mit diesem Wissen um die Beleidigung – die harten Worte, die Unwahrheit – in der Beziehung aktiv wird, bringt dieses Wissen Unordnung in die Beziehung. Nicht wahr? Wie soll das nun geschehen, dass der Geist im Augenblick der Beleidigung oder der Schmeichelei nicht aufzeichnet? Denn für mich ist das Wichtigste im Leben die Beziehung. Ohne Beziehung muss es Unordnung geben. Ein Geist, der geordnet, in vollkommener Ordnung lebt, die die höchste Form mathematischer Ordnung ist, kann dem Schatten der Unordnung keine einzige Minute gestatten, ihn zu überziehen. Und zu dieser Unordnung kommt es, wenn der Geist aufgrund vergangener Erfahrung in der Beziehung aktiv ist. Also wie kann es dazu kommen, dass der...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Hinduismus | |
ISBN-10 | 3-96861-234-5 / 3968612345 |
ISBN-13 | 978-3-96861-234-8 / 9783968612348 |
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