Mama, Roman hat es nicht geschafft - Die Zeit meines eigenen Überlebens nach dem Suizid meines Sohnes -  Karin Karz

Mama, Roman hat es nicht geschafft - Die Zeit meines eigenen Überlebens nach dem Suizid meines Sohnes (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 2. Auflage
190 Seiten
Verlag DeBehr
978-3-95753-847-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
'Mama, Roman hat es nicht geschafft.' Diese Worte - überbracht von meiner traumatisierten Tochter - sollten mein Leben mit einem Schlag zum Stillstand bringen und für immer verändern. In der einsamen Verwirrung einer Psychose hatte mein Sohn wohl nur diesen einen Ausweg gesehen und seinem Dasein auf grausame Weise ein Ende gesetzt. Die Welt drehte sich weiter, als wäre nichts geschehen. Ich selbst jedoch, erstarrt in meinen Grundfesten, drohte mich im Strudel des Unfassbaren zu verlieren. Ein Kind auf diese Art hergeben zu müssen, das Unaussprechliche zu verarbeiten - auf all dies kann eine Mutter niemals vorbereitet sein. Die Zeit nach dem Suizid meines Sohnes lastet schwer auf unser aller Leben. Und stets stand und steht die Frage nach dem WARUM im Raum, WARUM mein Kind? WARUM gerade Roman mit seinem feinsinnigen, liebenswerten Charakter? Die Autorin beleuchtet tagebuchmäßig die ersten drei Jahre Trauer und Verzweiflung ebenso wie den Umgang von Gesellschaft und Familie mit dem Verlust des Sohnes, Bruders und Enkels. Dieses Buch kann ein Helfer für Betroffene in den dunkelsten Stunden des Lebens sein.

 

Es ist ein wunderschöner Tag im Juni. Die Sonne scheint und ich trage das erste Mal im Jahr kurze Hosen.

Ich stehe nach einem erholsamen Mittagsschlaf auf der Leiter im Kirschbaum.

Die Luft ist erfüllt von Kinderlachen und Frühlingsduft.

Keine negativen Schwingungen oder Panikattacken.

Mir geht es gut.

 

Mein Sohn hat mehrere Stunden gelitten. Er hat versucht, sich die Halsschlagadern mit einem stumpfen Küchenmesser aufzuschneiden. Er ist wie ein verletztes Tier noch lange Zeit in seiner Wohnung herumgelaufen. Alles war voller Blut.

 

Ich habe im Kirschbaum gestanden. Ich habe den Kindern ganze Äste mit herrlichen, reifen Kirschen zugeworfen.

Früh hat Roman Anna, seine kleine Schwester, angerufen. Sie hat es nicht gehört. Sie hat geschlafen.

Er hat sich lange nicht gemeldet, deshalb meinte ich später zu ihr: „Geh doch einfach mal hin.“ Anna war erkältet und hatte nicht die richtige Lust dazu. Zu der Zeit hat er oft Verabredungen nicht eingehalten. Sie fragt ihn per SMS warum sie kommen soll.

Roman simst zurück; sie solle einfach kommen, schnell. Er hat um Hilfe gerufen.

Vor dem Zug um dreizehn Uhr habe ich sie erneut gedrängt hinzufahren.

Ich war so froh, dass er sich wieder einmal gemeldet hat. Mich wollte er ja nicht sehen.

Sie hat den Zug genommen und war dann gegen 13.30 Uhr vor seiner Wohnung. Er muss sie wahrgenommen haben. Anna hat Geräusche aus der Wohnung gehört.

Eine Stunde hat sie es rufend und klopfend vor der Wohnung ausgehalten. Verzweifelt wendet sie sich per SMS an ihre beste Freundin. Die hat zu tun und schaltet ihr Handy aus. Anna ist 15 und weiß nicht, was sie machen soll. Sie wird immer kopfloser. Ich sage ihr, dass sie da weggehen soll. Was soll sie machen, wenn er nicht aufmachen will.

Anna hat große Angst um ihren Bruder.

Eine ganze Stunde. Warum hat er nicht aufgemacht? Wollte er uns schützen? Hätte es sonst ein Blutbad gegeben?

Roman hat seine Schwester durch den Türspion gesehen. Überall an der Innentür waren Spuren von seinen Händen. Er hat stark geblutet. An den Verletzungen am Hals wäre er nicht gestorben. Vielleicht Stunden später.

Er hat sich nirgends hingesetzt. Wie ein verwundetes Tier ist er hin- und hergelaufen. Ist Anna zu spät gekommen, für sein Verständnis von Geliebtwerden? Was hat er noch überlegt?

Roman schreibt für Anna auf einen kleinen Zettel: „Sei mir nicht böse. Ich hab dich sehr lieb.“ Livia findet ihn später beim Saubermachen. Der Zettel ist voller Blut. Sie wirft ihn weg.

Roman sucht die Urkunden von seinen Marathonläufen heraus. Viele waren voller Blutspritzer.

Wollte er verbluten, wollte er gar nicht springen?

Mit einem stumpfen Gemüsemesser hat er versucht, seine Halsschlagadern zu zertrennen. Er hatte doch so Angst vor Schmerzen.

Ich rufe Livia, meine große Tochter, an, sie möge Anna von da wegholen. Gegen 14.35 Uhr geht Anna zur Straßenbahnhaltestelle. Da sie voller Panik wegen Roman ist, laufen beide schnellen Schrittes über die Kreuzung zu Romans Haus zurück. Anna hat ein ungutes Gefühl. Sie hat ihn deutlich in der Wohnung gehört.

Er hat sie über die Kreuzung kommen sehen. Die Blutspuren an der Jalousie zeigen das. Wen hat er gesehen? Mich? Anna? Livia?

Sie waren gegen 14.40 Uhr an der vorderen Eingangstür. Das Haus hat zwei Eingänge.

Während die Mädchen vorn ins Haus gehen, läuft Roman die Treppe vom fünften in den achten Stock. Im Treppenhaus waren Blutspuren an den Wänden. Er hatte keine Kraft mehr. Wen hat er gesehen? Mich oder Livia? Wollte er einer erneuten Zwangseinweisung entgehen? Nie hätte ich das noch einmal gemacht. Ich hatte das ihm und mir versprochen.

Ohne zu zögern, will er auf das Dach des Hochhauses. Die Dachtür ist verschlossen. Er läuft die kleine Treppe wieder runter, öffnet das Treppenhausfenster und springt ohne anzuhalten. Ein Mann steht zwei Meter von ihm entfernt.

Er versucht nicht einmal ihn aufzuhalten. Wahrscheinlich geht alles zu schnell.

Beim Sprung hat Roman laut geschrien. Ein Nachbar, der gerade seinen 40. Geburtstag auf einem der gegenüberliegenden Balkone feierte, hat es später erzählt. Er hat Fotos von Roman auf dem Vordach liegend gemacht und ins Internet gestellt.

Als Anna und Livia im fünften Stock aus dem Fahrstuhl steigen, schlägt sein Körper auf dem Vordach auf. Hätten sie ihn einige Augenblicke eher abhalten können?

Sie hören laute Schreie nach einem Krankenwagen und ob er noch leben würde.

Der Notruf geht 14.46 Uhr bei der Feuerwehr ein. Zuerst ist die Polizei da. Sie befindet sich nur eine Straße weiter.

Der Krankenwagen und die Feuerwehr kommen gegen 14.55 Uhr.

Roman lebt.

Livia schaut aus dem Treppenhausfenster. Roman liegt auf dem Vordach. Sie zwingt Anna, sich auf die Treppe zu setzen. Livia strahlt in diesem Moment eine für sie seltene Autorität aus. Anna spürt das Unfassbare des Augenblicks und zweifelt keine Sekunde an der Richtigkeit dieser Anweisung. Eine fremde Frau im pinkfarbenen T-Shirt setzt sich neben Anna und hält sie schweigend im Arm.

Livia ruft ihren Mann an. Er soll sich um Anna kümmern. Sie läuft in den ersten Stock und steigt zu ihrem Bruder auf das Vordach. Viele Gaffer haben sich versammelt und stehen auf den Balkonen und beobachten neugierig das Geschehen. Livia schreit die Leute an, endlich wegzugehen. Einige tun es, einige bleiben penetrant an den Fenstern und Balkonen. Es wird gefilmt und fotografiert. Später tauchen die Bilder im Internet auf.

Livia versucht, Roman bei Bewusstsein zu halten. Er liegt grotesk verdreht auf dem Bauch. Seine Augen flackern, er versucht zu sprechen. Livia kann ihn nicht verstehen.

Hat er mich erwartet? Nimmt er sie noch wahr? Ich hoffe es so sehr.

Wollte er nicht alleine sterben?

Livia streichelt ihn unbeholfen. Er ist auf die Seite gefallen. Der Halswirbel ist gebrochen. Und doch hat er noch den Kopf im Reflex drehen können. An einer Seite hat er eine große Wunde und an der anderen Seite eine kleine Schürfwunde. Er wird stabilisiert und sofort in ein Schlafkoma versetzt. 9 Feuerwehrleute und Krankentransporter stützen Roman in einem Rettungstuch. Es ist tröstlich, dass sich so viele Leute um ihn gekümmert haben, obwohl es ihm am Ende nichts genützt hat.

Er kommt sofort ins Uniklinikum Dresden.

Die Beamten befragen Livia und Anna ohne Rücksicht auf das Geschehene.

Nach einer ganzen Weile kommt ein Mann vom Kriseninterventionsdienst. Er soll sich um sie kümmern. Die Beamten wollen wissen, was die Schwestern im Angesicht des Todes hier zu suchen hätten.

Die Concierge des Hauses fragt die Mädchen in dieser traumatisierten Situation, wer das alles saubermachen soll. Es gibt im Treppenhaus drei, vier Blutspuren von Romans Handabdrücken an den Wänden.

Die Polizisten nehmen die Personalien von Anna und Livia auf. Der Mann vom Kriseninterventionsdienst fährt mit den Mädchen nach Weixdorf. Er soll mir die Nachricht schonend überbringen.

Die Polizei will mir den Hergang telefonisch mitteilen. Livia will das nicht. Es ist lieb von ihr gemeint. Für mich wäre es besser gewesen. Ich hätte noch ins Krankenhaus fahren können. Ich wäre in Romans Nähe gewesen. Er hätte nicht alleine sterben müssen.

Sie rufen 10-minütlich vom Auto aus in der Klinik an. Um 17 Uhr erhalten sie die Nachricht, dass Roman es nach mehr als einer Stunde Reanimationsmaßnahmen nicht geschafft hat. Sein Herz hat um 16.25 Uhr aufgehört zu schlagen.

Später berichtet mir der zuletzt behandelnde Arzt, Roman hätte Notfalldosen für 6 Schwerverletzte bekommen. Es sah zuerst so aus, als ob er es hätte schaffen können. 2,5 Liter Blut hat er bekommen.

Einen Sturz aus 18 Meter überlebt man selten.

Die Kinder spielen im Garten. Ich kehre die Einfahrt. Livia und Anna und ein fremder Mann kommen schnellen Schrittes angelaufen. Ich denke mir nichts dabei. Ist das der neue Freund meiner Tochter?

Ich gehe ihnen lachend entgegen. Warum schauen sie so ernst. Hat Roman in seiner Wut Annas Handy zu Boden geworfen? Hat deshalb niemand mehr auf meine Anrufe in den letzten Stunden reagiert? Hat er sie etwa geschubst?

Anna läuft schnell an mir vorbei ins Haus. Alles wirkt so hektisch. Was war da nur los? Livia hatte am Telefon nur kurz gesagt, sie rufe zurück und hat dann ihr Handy ausgeschaltet.

Ich umarme Livia und frage lächelnd: „Was ist denn passiert?“

 Sie sagt die einfachen Worte:

„Mama, Roman hat es nicht geschafft.“

Sie muss gar nicht weiterreden. Ich weiß, was sie meint. Warum sagt sie das. Wer will das wissen. Sie irrt sich. Niemals kann sie Roman meinen. Ich habe keine Minute an so etwas gedacht. Und doch weiß ich sofort, was sie meint.

Ich stoße sie in der Umarmung weg und rufe: „Nein, nein, warum denn? So ein Mist!“ Dann laufe ich weg und lamentiere die ganze Zeit. Es kann nicht wahr sein. Ich kann nicht weinen. Ich...

Erscheint lt. Verlag 10.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
ISBN-10 3-95753-847-5 / 3957538475
ISBN-13 978-3-95753-847-5 / 9783957538475
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 541 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Psychosomatische Beschwerden: Was mir die Signale meines Körpers …

von Hans Lieb; Andreas von Pein

eBook Download (2024)
Trias (Verlag)
22,99
Stress & Spannungen lösen. Das Original-TRE-Übungsprogramm

von Hildegard Nibel; Kathrin Fischer

eBook Download (2024)
Trias (Verlag)
22,99