Der lange Weg nach Westen - Deutsche Geschichte II (eBook)

Vom 'Dritten Reich' bis zur Wiedervereinigung
eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
742 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76172-0 (ISBN)

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Der lange Weg nach Westen - Deutsche Geschichte II - Heinrich August Winkler
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Der zweite Band von Winklers deutscher Geschichte behandelt die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur, die über vier Jahrzehnte, in denen Deutschland in zwei Staaten geteilt war, und schließlich die Wiedervereinigung. Es ist eine Geschichte von Zusammenbrüchen und Neuanfängen, von Diktatur und Demokratie und auch des Nachdenkens über Deutschland - eine dramatische Geschichte, anschaulich und spannend dargestellt von einem Historiker und Publizisten, der auch in diesem Buch dem Motto folgt: Erzählen heißt erklären, warum es so gekommen ist.

Heinrich August Winkler ist emeritierter Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

«Prag» wurde in mehr als einer Hinsicht zur Zäsur. Hitler hatte bei seinem dritten Griff über die Grenzen auch die Grenze überschritten, die einem deutschen Nationalstaat vom Begriff her gesetzt war: die der Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Indem Deutschland sich die «Rest-Tschechei» als «Protektorat Böhmen und Mähren» angliederte, hörte das Deutsche Reich auf, ein Nationalstaat wie andere zu sein. Der Begriff des «Reiches» gewann nun eine neue, gleichzeitig aber auch wieder sehr alte Qualität. Wenn im Mittelalter, schrieb 1940 der österreichische, seit 1935 in Münster lehrende Rechtshistoriker Karl Gottfried Hugelmann, ein entschiedener Großdeutscher, in seinem Buch «Volk und Staat im Wandel deutschen Schicksals», «Größe, Macht und Würde» die «Wesensmerkmale» des Reiches gewesen seien, so gründe sich nunmehr diese Würde «auf das Bewußtsein einer Sendung». Die «Eingliederung» des tschechischen Volkes in das Großdeutsche Reich sei vom Reichsbegriff her berechtigt und sinnvoll. Es müsse sogar einleuchten, «daß mit der Eingliederung des Protektorats Böhmen und Mähren in das großdeutsche Reich dessen Charakter als Reich … nur noch stärker hervortritt».

Carl Schmitt verwies 1939 in seiner, unmittelbar nach der Errichtung des Protektorats verfaßten Schrift «Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte», der erweiterten Fassung eines am 1. April an der Universität Kiel gehaltenen Vortrags, auf den deutschen Sprachgebrauch, der «die großen, geschichtsmächtigen Gebilde – das Reich der Perser, der Makedonier und der Römer, die Reiche der germanischen Völker wie die ihrer Gegner in einem spezifischen Sinne immer ‹Reiche› genannt hat». Das Deutsche Reich in der Mitte Europas liege «zwischen dem Universalismus der Mächte des liberaldemokratischen völkerassimilierenden Westens und dem Universalismus des bolschewistischweltrevolutionären Ostens» und habe «nach beiden Fronten die Heiligkeit einer nicht-universalistischen, volkhaften, völkerachtenden Lebensordnung zu verteidigen». Der völkerrechtliche Begriff des Reiches sei der «einer von bestimmten weltanschaulichen Ideen und Prinzipien beherrschten Großraumordnung, die Interventionen raumfremder Mächte ausschließt und deren Garant und Hüter ein Volk ist, das sich dieser Aufgabe gewachsen zeigt … Der neue Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser Begriff des Reiches, der von einer von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht.»

Nationalsozialistische Juristen aus der Umgebung Himmlers warfen Schmitt sogleich vor, sein Versuch, ein deutsches Gegenstück zur amerikanischen «Monroe-Doktrin» von 1823 zu schaffen, sei halbherzig und weltanschaulich inhaltslos. Werner Best, der Personal- und Organisationschef des SD, bestritt im August 1939, daß es sich im völkischen Verständnis beim Völkerrecht überhaupt um «Recht» handle. «Jedes Volk hat nur den Zweck der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung und kennt nur Maßstäbe des Handelns, die auf diesen Zweck ausgerichtet sind. In seinem Verhalten gegenüber anderen Völkern kann sich kein Volk an Regeln binden lassen, die ohne Rücksicht auf seine Lebenszwecke Gültigkeit haben sollen.» Hitlers Reich konnte also nicht etwa nur ein höheres Recht für sich beanspruchen als andere Staaten und Völker in «ihrem» Großraum; es war das Reich, und es gab überhaupt kein Recht, das andere Staaten und Völker ihm gegenüber hätten geltend machen können.

Außerhalb Deutschlands bildeten die «Iden des März» 1939 eine Art Wasserscheide. Der Bruch des Münchner Abkommens war so brutal, daß fortan nur noch die entschiedene Rechte auf weiteres «appeasement» setzte; bei der Linken, bei den Kräften der Mitte und realistisch denkenden Konservativen hatte die Beschwichtigungspolitik jeden Kredit verspielt. Selbst Chamberlain äußerte sich am 17. März in einer Rede in Birmingham empört über den Coup des «Führers»; und wenn er persönlich sich auch immer noch Illusionen über Hitler machte, gab es für die Fortsetzung der bisherigen Politik in der öffentlichen Meinung Großbritanniens keinen Rückhalt mehr.

Hitler tat seinerseits in der Woche, die auf den Einmarsch in die «Rest-Tschechei» folgte, alles, um den Gegnern des «appeasement» Auftrieb zu geben. Am 21. März ließ er Polen gegenüber die deutschen Vorschläge vom Oktober 1938 in einer Form erneuern, die einem unbefristeten Ultimatum gleichkam. Am selben Tag forderte Ribbentrop von Litauen die sofortige Rückgabe des Memellandes. Die Regierung in Kaunas fügte sich. Am Morgen des 23. März rückten die ersten deutschen Truppen ins Memelland ein. Nach der Besetzung Memels, die er auf einem Panzerschiff abwartete, begrüßte Hitler in der Hauptstadt des Memellandes vor einer begeisterten Menge die Rückkehr dieses ehemaligen Teils von Ostpreußen ins Deutsche Reich.

In der Zwischenzeit hatte sich die internationale Lager einschneidend verändert – zuungunsten Deutschlands. Am 21. März schlug Premierminister Chamberlain Polen einen Konsultativpakt vor, dem auch Frankreich und die Sowjetunion beitreten sollten. Warschau stimmte zwei Tage später zu. Am 26. März lehnte Polen die deutschen Vorschläge definitiv ab. Am 31. März sprach Chamberlain eine Garantie der Unabhängigkeit Polens, wenn auch nicht seiner Grenzen oder seiner territorialen Integrität, aus. Hitler reagierte auf seine Weise: Am 3. April wies er das Oberkommando der Wehrmacht an, die Kriegsvorbereitungen gegen Polen so einzurichten, daß die Durchführung ab 1. September 1939 jederzeit möglich war. Am 28. April kündigte er in einer Reichstagsrede den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 sowie das Flottenabkommen auf, das er 1935 mit Großbritannien abgeschlossen hatte.

Hitlers Reichstagsrede war eine polemische, rhetorisch wirkungsvolle Antwort an den amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, der am 14. April Hitler und Mussolini um die Zusicherung ersucht hatte, 31 namentlich genannte Länder zumindest in den nächsten 25 Jahren nicht anzugreifen. Wenn Deutschland und Italien eine ähnliche Aufforderung an die Vereinigten Staaten richten sollten, konterte Hitler, dann würde Roosevelt sich gewiß auf die Monroe-Doktrin berufen (wonach europäische Mächte sich nicht in die Angelegenheiten Nord-, Mittel- und Südamerikas einmischen durften). «Genau die gleiche Doktrin vertreten wir Deutsche nun für Europa, auf alle Fälle aber für den Bereich und die Belange des Großdeutschen Reiches.» Eine «deutsche Monroe-Doktrin» im Sinne der Forderung «Deutschland für die Deutschen» hatte Hitler bereits im Oktober 1930 postuliert. Die Ausweitung auf Europa ging auf Carl Schmitts Kieler Vortrag vom 1. April 1939 zurück. Offenkundig über hochrangige nationalsozialistische Juristen war das Konzept zur Kenntnis des «Führers» gelangt, der es fortan als seine Schöpfung betrachtete.

Auch die andere Flügelmacht, die Sowjetunion, meldete sich im Frühjahr 1939 auf der europäischen Bühne zurück. Am 10. März, also noch vor der «Erledigung der Rest-Tschechei», erklärte Stalin auf dem 18. Parteitag der KPdSU, die Sowjetunion denke nicht daran, für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Das war nur so zu verstehen, daß England und Frankreich, die ein halbes Jahr zuvor ohne irgendeine Absprache mit ihm, Stalin, das Münchner Abkommen mit Hitler geschlossen hatten, sich nicht auf sowjetische Hilfe bei einer Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland verlassen durften. Am 17. April gab der sowjetische Botschafter in Berlin, Merekalow, im Gespräch mit Staatssekretär von Weizsäcker zu erkennen, daß seine Regierung an einer Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland interessiert war. Am 4. Mai kam ein noch deutlicheres Signal aus Moskau: Stalin wechselte seinen vergleichsweise «westorientierten» Außenminister Maxim Litwinow, der in der nationalsozialistischen Presse beharrlich als «der Jude Finkelstein» bezeichnet wurde, zugunsten des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, Wjatscheslaw Molotow, aus, womit erstmals ein Mitglied des Politbüros das Außenministerium übernahm.

Das mindeste, was sich aus den Reden und Taten der sowjetischen Führung zwischen März und Mai 1939 herauslesen ließ, war Offenheit nach beiden Seiten: Die UdSSR war nicht darauf festgelegt, mit den Westmächten gegen das nationalsozialistische Deutschland zusammenzugehen. Sie konnte sich gegebenenfalls auch mit dem «faschistischen» Erzfeind in Berlin arrangieren. Tatsächlich verhandelte die Sowjetunion zwischen April und August 1939 mit den beiden Westmächten und mit Deutschland. Am 24. Juli schien es, als bahne sich eine Verständigung mit London und Paris an: In Moskau wurde die Übereinkunft über einen Beistandspakt paraphiert, in den Polen, die baltischen Staaten, Finnland, Rumänien, Griechenland, die Türkei und...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2020
Reihe/Serie Beck Paperback
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Demokratie • Deutschland • Geschichte • Historiografie • Mythos • Nation • Sonderweg • Staat
ISBN-10 3-406-76172-0 / 3406761720
ISBN-13 978-3-406-76172-0 / 9783406761720
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