Dem Sinn des Lebens ist es egal, wo er dich findet (eBook)
320 Seiten
O.W. Barth eBook (Verlag)
978-3-426-45922-5 (ISBN)
TENZIN PRIYADARSHI ist ein buddhistischer Mönch, der vom Dalai Lama geweiht wurde. Geboren in eine hinduistische Brahmanenfamilie trat er schon in jungen Jahren in ein buddhistisches Kloster in Rajgir ein und erhielt später seine weitere spirituelle Ausbildung in Indien, Nepal und Japan unter der Leitung mehrerer bedeutender Lehrer. Tenzin Priyadarshi ist Gründer und CEO des Dalai Lama-Zentrums für Ethik und transformative Werte am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er unterrichtet regelmäßig in den USA und auf der ganzen Welt. ZARA HOUSHMAND ist eine erfahrene iranisch-amerikanische Schriftstellerin, Übersetzerin, Dichterin und Herausgeberin. Zara war über zwei Jahrzehnte lang Publikationsleiterin und Herausgeberin des Mind and Life Institute des Dalai Lama. Dort hat sie eine Reihe von Büchern herausgegeben, die buddhistische Philosophie, Neurowissenschaften, Psychologie, Quantenphysik, Ökonomie und Biologie abdecken.
Tenzin Priyadarshi ist ein buddhistischer Mönch, der vom Dalai Lama geweiht wurde. Geboren in eine hinduistische Brahmanenfamilie trat er im Alter von zehn Jahren in ein buddhistisches Kloster in Rajgir ein und erhielt später seine spirituelle Ausbildung in Indien, Nepal und Japan unter der Leitung mehrerer bedeutender Lehrer. Er ist Gründer und CEO des Dalai Lama-Zentrums für Ethik und transformative Werte am MIT und Direktor der Ethikinitiative am MIT Media Lab. Er unterrichtet regelmäßig in den USA und auf der ganzen Welt. Zara Houshmand ist eine erfahrene iranisch-amerikanische Schriftstellerin, Übersetzerin, Dichterin und Herausgeberin. Zara war über zwei Jahrzehnte lang Publikationsleiterin und Herausgeberin des Mind and Life Institute des Dalai Lama. Dort hat sie eine Reihe von Büchern herausgegeben, die buddhistische Philosophie, Neurowissenschaften, Psychologie, Quantenphysik, Ökonomie und Biologie abdecken.
1
Aufbruch: Westbengalen 1989
ES IST KEIN ZEICHEN VON GESUNDHEIT, GUT ANGEPASST
an eine zutiefst kranke Gesellschaft zu sein.
J. Krishnamurti
Die Uhr zeigte halb drei, als ich im Halbdunkel des Schlafsaals erwachte, noch ganz unter dem lebhaften Eindruck meines Traumes. Da war wieder dieser Mann gewesen, der mir so vertraut war wie ein alter Freund. Er besuchte mich nun seit vier Jahren in meinen Träumen, und noch immer hatte ich keine Ahnung, wer er war, woher er kam und was er von mir wollte. Seine Augen ruhten mit einem klaren und festen Blick auf mir, und der Linie seines Mundes war nicht zu entnehmen, ob sie ein Lächeln beschrieb. Sein Ausdruck war neutral – ich konnte nicht sagen, ob er froh oder traurig war, ob freundlich oder nicht. Aber er hatte eine starke Ausstrahlung, und eine ganz besondere Energie ging von ihm aus. Diesmal sagte er nichts, und auch zuvor hatte er nur einmal zu mir gesprochen, in einer Sprache, die ich nicht verstand.
Das letzte Mal, als er mir erschienen war, hatte ich nicht einmal geschlafen. Es war während einer Zugfahrt einige Monate zuvor gewesen, als meine Familie wieder einmal umzog, diesmal von Ahmedabad nach Kalkutta. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie lang diese Zugreise ist, muss man sich eine Linie denken, die quer über den indischen Subkontinent an seiner breitesten Stelle verläuft. Kein Kind verschläft den ganzen Tag, und schon gar nicht eines mit meiner Energie. Ich lag in der obersten Schlafkoje, starrte an die schmutzige Waggondecke und war trotz des einschläfernden metallenen Rhythmus der Räder noch hellwach. Dann erschien er plötzlich wie aus dem Nichts. Ich sah die Rundung seines rasierten Schädels so plastisch vor mir, dass ich danach hätte greifen können, um die Haarstoppel zu berühren. Seine Augen leuchteten unter struppigen Brauen hervor, die ebenso weiß waren wie sein frisches Hemd. Darüber trug er ein gelbes Tuch, das auf einer seiner Schultern verknotet war. All das hatte ich so klar und deutlich vor Augen, dass von Schläfrigkeit keine Rede sein konnte.
Im Jahre 1985, als die Träume und Visionen anfingen, war ich sechs Jahre alt. Auch bei meiner ersten Vision gab es keinen Zweifel daran, dass ich hellwach war. Ich war mit einem Freund unterwegs, der in derselben Gegend wohnte wie ich, bei Evelyn Lodge, wo unser Bungalow stand. Ich hatte ihn bei sich zu Hause zum Kricketspielen abgeholt, und als wir auf das Spielfeld zugingen, sah ich etwas, das ich zunächst für orangefarbene Streifen und Flecken am Himmel hielt. War das bereits die Abenddämmerung? Das hätte bedeutet, dass es schon Zeit war, den Heimweg anzutreten, aber das konnte nicht sein. Wir hatten ja noch nicht einmal mit dem Spiel begonnen. Dann gewannen die farbigen Flächen an Kontur und nahmen vor mir Gestalt an – Männer mit rasiertem Schädel, die hin und her gingen, in safrangelben Gewändern, in den Farbtönen des Sonnenuntergangs. Auch ein Reh und eine kleine Hütte erschienen vor mir. Manche der Männer betraten die Hütte und kamen wieder heraus. All das spielte sich so lebendig vor mir ab, als würde ich einer Szene aus dem realen Leben beiwohnen.
»Siehst du das auch?«
Mein Freund folgte meinem Blick zum Himmel und kniff die Augen zusammen. »Ob ich was sehe?«, fragte er und schlug mit seinem Kricketschläger in die Luft.
Ich kniff mich selbst, wie man es tut, wenn man zu träumen glaubt. Das änderte aber nichts an dem, was ich sah. Während wir weitergingen, verblasste die Szene am Himmel, bis sie schließlich verschwand. Als ich später nach Hause kam, erzählte ich meinen Eltern davon, aber sie sagten nur, ich müsse mir das eingebildet haben.
Ich machte mir Sorgen, dass mit meinen Augen etwas nicht stimmte. Aber ich konnte ohne Probleme die Tafel im Klassenraum erkennen oder den Ball, wenn ich an der Reihe war, ihn zu schlagen, oder die Früchte, die im Garten an den Mangobäumen hingen und auf meine Pfeile warteten. Und wenn es mein Verstand war, mit dem etwas nicht stimmte? Nun, in anderen Belangen war mit ihm alles in bester Ordnung, und meine Noten waren ausgezeichnet.
So geriet die Sache in Vergessenheit, Schwamm drüber, und die Erinnerung daran wäre in den kunterbunten Kammern meines kindlichen Geistes untergegangen, hätte ich nicht später noch andere Dinge gesehen. Es gab einen Ort, von dem ich immer wieder träumte; aber auch wenn ich wach war, stand er mit großer Klarheit vor meinem geistigen Auge: ein hoher Berg, der eine weite Ebene überragt, teils von Wald und Buschwerk bedeckt, teils mit Abhängen aus Geröll und nackter Felswand. Ich sah die Szene aus der Vogelperspektive, konnte aber nirgends Gebäude erkennen, keine Zeichen menschlicher Eingriffe in die Landschaft, nichts, was einen Hinweis darauf geben könnte, wo sich dieser Ort befand oder warum er in mir eine solche Wehmut und Sehnsucht auslöste. Diese Vision war ebenso verwirrend wie die Besuche, die mir der Fremde in meinen Träumen abstattete, und stellte sich ebenso beharrlich wieder ein. Es gab noch andere Menschen, die mir gelegentlich erschienen, einige mit rasiertem Kopf, andere mit Rastalocken, gekleidet in verschiedenen Tönen von Gelb, Orange und Rot. Aber er war derjenige, den ich am deutlichsten von allen sah.
Ich war alt genug, um zu wissen, dass Träume, so fremdartig sie uns auch erscheinen mögen, normalerweise unserem eigenen Geist entspringen und dass Halluzinationen, wie ich sie am helllichten Tage hatte, nicht normal sind. Ich hatte keine Theorie und nicht einmal den Ansatz einer Erklärung dafür, was diese Bilder, die meinen Geist bedrängten, zu bedeuten hatten. Sie schienen von außen zu kommen, aus einer Welt, die jenseits des logischen Verstandes lag, ein echtes Mysterium, das danach verlangte, ergründet zu werden.
Nun lag ich also da in dem abgedunkelten Saal und lauschte auf das gelegentliche Schnaufen und Schnarchen von einhundert schlafenden Jungen, während in mir ein Gefühl aufstieg, dass Eile geboten sei. Ich würde der Lösung des Rätsels nicht näher kommen, wenn ich bis zum Ertönen der Weckglocke hier wachlag. Um eine Antwort zu finden, musste ich mich auf den Weg machen und nach ihr suchen. Schließlich steht am Beginn eines jeden Abenteuers ein Geheimnis.
Es war höchste Zeit. Langsam kroch ich aus dem Bett. Aus der Vorhalle drang gerade genug fahles Licht herein, dass ich einigermaßen sehen konnte. Ich bewegte mich so lautlos wie möglich, während ich ein paar Kleidungsstücke in einen kleinen Rucksack packte. Dann hockte ich mich auf die Bettkante, um das Geräusch beim Hervorziehen des Stuhls unter dem Pult zu vermeiden, und schrieb eine Notiz an meine Eltern. Nur ein paar Worte, in denen wohl vor allem die Anmaßung eines Zehnjährigen zum Ausdruck kam: dass ich mich auf eine spirituelle Suche begeben wolle, von der ich nicht wisse, wohin sie mich führe, dass sie sich aber keine Sorgen machen sollten. Dann schob ich den Zettel unter die hölzerne Klappe des Pults.
Ich überlegte, ob ich etwas unter meine Bettdecke stopfen sollte, aber das hatte wohl keinen Sinn. Schließlich war das hier kein Streich. Die Aufseher würden früh genug merken, dass ich ausgerissen war, und mir schien, dass eine spirituelle Suche mit einer gewissen Würde beginnen sollte. Ich tastete mich durch den Schlafsaal, vorbei an den Betten, auf denen meine Kameraden in alle Richtungen ausgestreckt lagen, und durchquerte dann die Vorhalle. Ich zog meine Sandalen an und trat hinaus in die Nacht.
Die St. Vincent’s High and Technical School in Asansol war eine der ältesten unter den vielen Internaten, welche die irischen Christian Brothers[1] in Indien erbaut hatten, und der Campus ist riesig. Ich hielt mich im Schatten der Baumreihen, die die Wege säumten, und mied die wenigen Laternen. Als ich die Strecke vom Dormitorium bis zum Tor zurückgelegt hatte, stieg ein leichter Morgennebel auf, und am Himmel zeigte sich eine erste Andeutung von Tageslicht. Bis zur Dämmerung war es jedoch noch eine Stunde hin. Ich war überrascht, das Tor angelehnt zu finden. Vom Wachmann, der hier sonst stets anzutreffen war, gab es weit und breit keine Spur. Mir war es recht. Eine Fahrradrikscha stand vor dem Tor, als hätte sie auf mich gewartet. Ich stieg ein und sagte nur »zum Bahnhof«, als wäre ich ein Fahrgast, vor dem ein langer Arbeitstag liegt und dem nicht danach ist, Fragen zu beantworten oder zu plaudern. Der Fahrer trat in die Pedale, und wir fuhren durch die nächtliche Stille der menschenleeren Straßen.
Diese Straßenzüge kannte ich besser als die meisten Jungen im Internat, da meine Familie in Asansol gelebt hatte, bevor uns der neue Arbeitsplatz meines Vaters nach Ahmedabad führte. Obwohl Asansol ein riesiges Industriezentrum in Westbengalen ist, wo die Briten erstmals indische Kohle förderten, um damit die Stahlwerke und Bahnlinien der Region zu betreiben, fühlte man sich in seinem Zentrum doch wie in einer kleinen verschlafenen Kolonialstadt. Es ging dort tatsächlich so provinziell zu, dass meine Mutter die erste Frau war, die hier Autofahren lernte. Ich war ihr Passagier, als sie sich darin übte, den zu großen Ambassador[2] durch das Gewimmel der Fahrräder, Rikschas und freilaufenden Kühe zu manövrieren, ganz zu schweigen von den Fußgängern, die mitten auf der Straße stehen blieben, gebannt vom Anblick einer Frau am Steuer.
Wir hatten die Hälfte des Weges zum Bahnhof zurückgelegt, als mir einfiel, dass ich ja gar kein Geld hatte, um den Rikschafahrer zu bezahlen oder mir eine Fahrkarte für den Zug zu kaufen. Da kam mir die Idee, beim Haus eines Freundes der Familie haltzumachen, der in der Goray Road wohnte, die auf dem...
Erscheint lt. Verlag | 28.10.2020 |
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Co-Autor | Zara Houshmand |
Übersetzer | Horst Kappen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität | |
Schlagworte | Autobiografie • Biografien • Buddhismus • buddhismus buch • buddhismus bücher • Dalai Lama • Erfahrungen und wahre Geschichten • Ethik • Indien • Lebensgeschichte • Lebensgeschichten Schicksal Bücher • Selbstfindung • Sinnsuche • Sinnsuche Indien • Spiritualität • spirituelle Autobiografie • spirituelle Biografie • spirituelle Lebensgeschichte • Tibet • Tibetischer Buddhismus • tiefgründige Bücher |
ISBN-10 | 3-426-45922-1 / 3426459221 |
ISBN-13 | 978-3-426-45922-5 / 9783426459225 |
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