Vom Wachsen und Werden (eBook)

Wie wir beim Gärtnern zu uns finden
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
384 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99894-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Wachsen und Werden -  Sue Stuart-Smith
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Im Garten finden viele Menschen Entspannung, schöpfen neue Kraft und kommen zur Ruhe. Der Prozess des Pflanzens und Pflegens, Säens und Erntens beeinflusst unser Wohlbefinden, unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion und unsere Kreativität. Gartenarbeit ist aber auch ein bewährtes Heilmittel zur Behandlung vieler psychischer Probleme - von Sucht- und Angststörungen bis hin zu Depressionen und Traumata. In diesem Buch zeigt die Psychiaterin und begeisterte Gärtnerin Sue Stuart-Smith, wie sich die Natur positiv auf unsere innere Welt auswirkt, uns Inspiration bietet und den Geist bereichert.

Sue Stuart-Smith ist eine renommierte Psychiaterin und Psychotherapeutin. Vor ihrem Medizinstudium studierte sie Englische Literatur in Cambridge. Sie ist derzeit an der Tavistock Clinic in London tätig. Sie ist verheiratet mit dem renommierten Gartenarchitekten Tom Stuart-Smith; zusammen haben sie den herrlichen Barn Garden in Hertfordshire geschaffen.

Sue Stuart-Smith ist eine renommierte Psychiaterin und Psychotherapeutin. Vor ihrem Medizinstudium studierte sie Englische Literatur in Cambridge. Sie ist derzeit an der Tavistock Clinic in London tätig. Sie ist verheiratet mit dem renommierten Gartenarchitekten Tom Stuart-Smith; zusammen haben sie den herrlichen Barn Garden in Hertfordshire geschaffen.

1 Die Anfänge


Heraus, das Licht der Dinge macht nicht blind: Lass die Natur dein Lehrer sein![1]

William Wordsworth (1770–1850)

 

Lange bevor ich den Wunsch verspürte, Psychotherapeutin zu werden, lange bevor ich auch nur ahnte, dass das Gärtnern einmal eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen könnte, erinnerte ich mich gelegentlich daran, dass in meiner Familie darüber gesprochen wurde, wie mein Großvater nach dem Ersten Weltkrieg wieder ins Leben zurückfand.

Mein Großvater hieß Alfred Edward May, wurde aber von allen Ted genannt. Er war fast noch ein Kind, als er in die Royal Navy eintrat. Dort ließ er sich zum Marconi-Funker ausbilden und wurde Matrose auf einem U-Boot. In der Schlacht von Gallipoli im Frühjahr 1915 lief sein U-Boot in den Dardanellen auf Grund. Fast die gesamte Mannschaft überlebte, geriet aber in türkische Kriegsgefangenschaft. Die ersten Monate seiner Gefangenschaft hielt Ted in einem winzigen Tagebuch fest. Dann folgte eine Phase der Internierung in mehreren barbarischen Arbeitslagern, die nicht dokumentiert ist. Zuletzt arbeitete er in einer Zementfabrik am Marmarameer, aus der er im Jahr 1918 über das Meer entkommen konnte.

Ted wurde geborgen und auf einem britischen Lazarettschiff versorgt. Kaum war er wieder halbwegs bei Kräften, wagte er die lange Heimreise über den Landweg. Er wollte so schnell wie möglich seine Verlobte Fanny wiedersehen. Er hatte sie als stattlicher junger Mann verlassen, nun stand er in einem abgewetzten, alten Regenmantel und mit einem türkischen Fez auf dem Kopf vor ihrer Tür. Sie erkannte ihn kaum wieder, denn er wog gerade mal 38 Kilo und hatte seine Haare verloren. Er erzählte Fanny, dass die 4000 Meilen lange Reise »ein Horror« gewesen sei. Seine Unterernährung war derart fortgeschritten, dass man ihm nach einer medizinischen Untersuchung im Krankenhaus der Navy nur noch wenige Monate gab.

Fanny pflegte Ted aufopferungsvoll, flößte ihm stündlich wenige Löffel voll Suppe und anderen Speisen ein, bis er langsam wieder in der Lage war, Nahrung zu verdauen. Nach und nach kam Ted wieder zu Kräften, und kurz darauf heirateten sie. In diesem ersten Jahr strich Ted oft stundenlang mit einer weichen Bürste über seinen kahlen Schädel, um seine Haare zum Wachsen zu animieren. Und tatsächlich wuchsen sie wieder, waren aber weiß geworden.

Mit Liebe, Geduld und Entschlossenheit trotzte Ted seiner düsteren Prognose, doch seine Erlebnisse der Kriegsgefangenschaft verließen ihn nicht und quälten ihn nachts. Vor allem Spinnen und Läuse machten ihm Angst, denn sie hatten die Gefangenen heimgesucht, wenn sie schlafen wollten. Noch jahrelang konnte er nicht allein im Dunkeln sein.

Die nächste Phase seiner Genesung begann im Jahr 1920, als er sich zu einem einjährigen Gartenbaulehrgang anmeldete; es war eine der vielen Maßnahmen, die in der Nachkriegszeit zur Wiedereingliederung von kriegsversehrten Veteranen durchgeführt wurden. Nach der Ausbildung reiste Ted nach Kanada, ohne Fanny. Er suchte nach neuen Arbeitsmöglichkeiten, auch in der Hoffnung, durch Landarbeit seine körperlichen und seelischen Kräfte wiederzugewinnen. Die kanadische Regierung hatte damals ein Programm aufgelegt, um ehemalige Weltkriegssoldaten ins Land zu holen. Tausende folgten ihrem Ruf und machten sich auf die lange Reise über den Atlantik.

Ted arbeitete zuerst in Winnipeg bei der Weizenernte und fand dann auf einer Rinderfarm in Alberta eine feste Anstellung als Gärtner. Zwei Jahre blieb er in Kanada, und einen guten Teil der Zeit war auch Fanny bei ihm, aber aus welchen Gründen auch immer kam ihr Traum eines neuen Lebens nicht zustande. Gleichwohl kehrte Ted gekräftigt und gesund nach England zurück.

Nach einigen Jahren erwarben die beiden einen kleinen Bauernhof in Hampshire, wo Ted Schweine, Bienen und Hühner hielt und Blumen, Obst und Gemüse anbaute. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Funker in der Admiralty Wireless Station in London. Meine Mutter erinnert sich noch an seinen mit Fleisch aus eigener Schlachtung und selbst gezogenem Gemüse vollgepackten schweinsledernen Koffer, mit dem er nach London reiste. Und dann kam er mit dem Koffer voll mit Zucker-, Butter- and Teevorräten wieder zurück. Nicht ohne Stolz erzählt sie, dass die Familie während des Kriegs niemals Margarine essen musste und dass Ted sogar seinen eigenen Tabak anbaute.

Ich erinnere mich an seinen Humor und an sein warmherziges Wesen. In meinen Kinderaugen war er ein Mann, der robust und mit sich selbst im Reinen zu sein schien. Ich musste keine Angst vor ihm haben, und er trug seine Kriegstraumata nicht nach außen. Er verbrachte Stunden mit der Arbeit im Garten und in den Gewächshäusern, immer die Pfeife dabei und den Tabaksbeutel in Reichweite. Teds langes und gesundes Leben – er wurde beinahe achtzig Jahre alt – und die Tatsache, dass er sich mit den in der Kriegsgefangenschaft erlittenen Misshandlungen abzufinden vermochte, ist Teil unseres Familienmythos über die regenerierende Wirkung von Gartenarbeit und Ackerbau geworden.

Ted starb ganz unerwartet an einem Aneurysma, als er gerade mit seinem geliebten Shetland Schäferhund spazieren ging. Ich war damals zwölf Jahre alt. Die Überschrift seines Nachrufs in der Lokalzeitung lautete: »Ehemals jüngster U-Boot-Matrose gestorben.« Dort stand, dass Ted im Ersten Weltkrieg zweimal für tot erklärt worden war und dass er und die anderen Häftlinge, mit denen er aus der Zementfabrik geflohen war, sich 23 Tage lang nur von Wasser ernährt hatten. Der Schlusssatz des Nachrufs bezog sich auf seine Liebe zum Gärtnern: »Er widmete seine Freizeit der Pflege seines großen Gartens und erlangte mit einigen seltenen Orchideenarten lokale Berühmtheit.«

Vielleicht hat sich meine Mutter unbewusst daran ein Beispiel genommen, als mein Vater noch vor seinem fünfzigsten Geburtstag starb und sie als relativ junge Witwe zurückließ. Im zweiten Frühling nach seinem Tod zogen wir in ein anderes Haus, und sie machte sich daran, einen verwahrlosten Bauerngarten herzurichten. Selbst ich in meiner jugendlichen Selbstbezogenheit bemerkte, dass sie sich beim Graben und Jäten mit ihrem Verlust abfand.

In dieser Phase meines Lebens konnte ich mir nicht vorstellen, dass mich Gartenarbeit jemals intensiv beschäftigen würde. Mich interessierte die Welt der Literatur, und ich wollte mir das Leben des Geistes erschließen. Gartenarbeit war für mich eine Art ins Freie verlagerte Hausarbeit, und Unkraut zupfen kam mir genauso wenig in den Sinn wie Kuchen backen oder Vorhänge waschen.

Während meines Studiums war mein Vater immer wieder im Krankenhaus; er starb, als gerade mein letztes Studienjahr begonnen hatte. Die Nachricht erreichte mich in den frühen Morgenstunden per Telefon. Kaum war die Sonne aufgegangen, ging ich durch die stillen Straßen von Cambridge, durchquerte den Park und kam hinab zum Fluss. Es war ein heller, sonniger Oktobertag; die Welt war grün und still. Die Bäume, das Gras und das Wasser hatten etwas Tröstliches. Erst in dieser friedvollen Umgebung war ich fähig, mich der schrecklichen Wahrheit zu stellen, dass mein Vater diesen schönen Tag nicht mehr erleben konnte.

Vielleicht erinnerten mich das Grün und das Wasser an glücklichere Tage und an die ersten Landschaften, die als Kind Eindruck auf mich gemacht hatten. Mein Vater hatte ein Boot auf der Themse, und als mein Bruder und ich noch klein waren, verbrachten wir viele Ferien und Wochenenden auf dem Wasser. Einmal machten wir eine Expedition bis zur Quelle des Flusses, oder so nah wir ihr eben kamen. Ich erinnere mich noch an die Stille des Morgennebels, an meine Freiheitsgefühle, als wir auf den Sommerwiesen spielten. Angeln gehörte damals zu unseren Lieblingsbeschäftigungen.

Während meiner letzten Semester in Cambridge erschloss sich mir ein neuer, sehr emotionaler Zugang zur Lyrik. Meine Welt hatte sich unwiederbringlich geändert, und ich klammerte mich an Verse, die von der tröstenden Natur und vom Kreislauf des Lebens handelten. Dylan Thomas und T. S. Eliot waren mir eine Stütze, aber hauptsächlich wandte ich mich Wordsworth zu, jenem Dichter, der selbst erfahren hatte:

Zu betrachten die Natur
nicht mehr gedankenlos wie in der Jugend,
vernehmend oftmals nun den ruhigen,
getragenen Gesang der Menschheit …[2]

Trauer macht einsam, selbst wenn sie gemeinsam erfahren wird. Ein Verlust, der eine Familie erschüttert, weckt das Bedürfnis, sich gegenseitig zu stützen; doch gleichzeitig verstummen die Menschen und erleiden einen seelischen Zusammenbruch. Sie entwickeln den Impuls, sich gegenseitig vor zu heftigen Gefühlen zu bewahren, und es erscheint ihnen einfacher, ihren Gefühlen im Stillen freien Lauf zu lassen. Bäume, Wasser, Steine und Himmel mögen menschlichen Gefühlen gegenüber gleichgültig sein, aber sie weisen uns auch nicht zurück. Die Natur ist von unseren Gefühlen unbeeindruckt, und da sie sich von uns nicht anstecken lässt, erfahren wir in ihr einen die Einsamkeit des Verlusts lindernden Trost.

In den ersten Jahren nach dem Tod meines Vaters fühlte ich mich zur Natur hingezogen – nicht zu Gärten, sondern zum Meer. Seine Asche war den Wassern des Solent übergeben worden, einer von Booten und Schiffen viel befahrenen Meerenge unweit seines an der Südküste gelegenen Elternhauses. Am meisten Trost fand ich jedoch an den langen, einsamen Stränden im Norden von Norfolk, wo kaum ein Boot in Sicht war. Der Horizont erschien mir so unendlich weit, als befände ich mich am äußersten Rand der bekannten Welt – und ihm so...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Übersetzer Antoinette Gittinger, Cornelia Stoll
Zusatzinfo Mit farbigem Bildteil
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Garten
Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Achtsamkeit • Ausgeglichenheit • Bäume • Depression • Depressionen • Gartenarbeit • Gärtnern • Heilung • Meditation • Natur • Pflanzen • Psychische Erkrankung • Psychische Gesundheit • Psychische Störungen • Trauma-Bewältigung • Traumata • Wald • Wohlbefinden • Zu sich selbst finden
ISBN-10 3-492-99894-1 / 3492998941
ISBN-13 978-3-492-99894-9 / 9783492998949
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