Wandern – ein stiller Rausch (eBook)

Ein stiller Rausch

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
189 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76715-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wandern – ein stiller Rausch - Sigrid Damm
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Sieben Tage wandern eine sechzigjährige Frau und ein dreißigjähriger Mann in der Einsamkeit des hohen Nordens, in der archaischen Landschaft von Schwedisch-Lappland, der Heimat der Samen, des letzten indigenen Volks in Europa. Nachts öffnen sich Traumtüren, tags setzt der Rhythmus der Schritte die Erinnerung in Gang. Frieden und Krieg, Geburt und Tod, Horizontlinien, Feuer, Gras, Wasser sind die Themen dieses Buches.
Wandern - ein stiller Rausch, ein Gewebe aus Metaphern, Geschichten und Träumen, ist eine Meditation über den gegenwärtigen bedrohten Zustand der Welt. Es ist ein Buch, in dem es um Abschied und Anfang geht, ein Buch der Langsamkeit, ein Buch der Stille, ein Buch über die Aneignung des Lebens durch Gehen.



<p>Sigrid Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Die Autorin ist Mitglied des P.E.N. und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Feuchtwanger-, den Mörike- und den Fontane-Preis.</p>

Der Wanderer: Das Padjelanta, ein Hochland mit Kahlfjäll, Gletschern, Mooren und weiten Wasserflächen. Gelegen in Lappland, Nordschweden, westlich des Sarek, an der Grenze zu Norwegen.

Es ist September, die Wandersaison geht zu Ende. In drei Wochen beginnt der Winter. Mein Weg beginnt in Kvikkjokk und endet in Ritsem. Am Ausgangspunkt in Kvikkjokk muß mich ein Fährmann am Delta des Saggat-Sees ein Stück den Fluß Tarraätno hinaufbringen, am Ende werde ich auf einen zweiten Fährmann angewiesen sein, der mich über den großen Akkajaure-Stausee nach Ritsem übersetzt.

Auf der Fahrt mit dem Bus nach Kvikkjokk ist die Landschaft breitgezogen, spiegelglatte ruhige Seen, kilometerweit Sümpfe und der Himmel über den Bergen blau. In Kvikkjokk am Delta des Saggat-Sees warte ich auf den Fährmann vor einer Hütte, an der Kaptensstugan steht.

Der Fährmann erscheint, ein kleiner, untersetzter Same in Windjacke und khakifarbenen regenundurchlässigen Hosen. Am Gürtel trägt er ein Messer, die Füße stecken in Gummistiefeln mit Holzsohlen und Filz. Sein Schnauzbart ist grau. Die kleine Erhebung an der Oberlippe verrät den Snus, den Kautabak. Er betrachtet mich, er lächelt. Leicht ironisch, hintersinnig? Ich kann dich übersetzen, sagt er, aber zurück, auf der anderen Seite, wird es wohl keine Fähre mehr geben, es ist zu spät im Jahr. Wir verhandeln den Fährpreis. Überleg es dir noch einmal, sagt er. Ich setze dich über. Es ist deine Entscheidung. Ich zögere nicht, soll ich am Anfang schon an das Ende denken und hat das Ungewisse nicht auch einen Reiz? Ich steige ins Boot.

Sonne. Wahnsinnslicht. Gelbloderndes Ufergras. Flammendes Herbstrot der Birken. Schweigend fahren wir den Tarraätno flußaufwärts. Am Ufer trinkt eine Elchkuh, für einen Moment stellt der Same den Motor ab. Als ich mich umdrehe, habe ich das Gefühl, er freut sich, daß wir bei der Fahrt mit seinem Boot Elch-Glück haben. Später nähern wir uns der Anlegestelle. Am Ufer warten vier vom Wetter zerzauste Wanderschweden. Sie haben alle etwas im Blick, als seien sie erleuchtet. Ich verabschiede mich von dem Fährmann, sehe, wie sich das Boot entfernt.

Ich habe hundertzwanzig Kilometer vor mir. Habe ein Zelt mit und Proviant für sieben Tage. Mein Zeitplan ist straff. In sieben Tagen will ich es schaffen. Was treibt mich, was will ich? Ich habe sieben lose Blätter bei mir, gestärktes weißes Zeichenpapier DIN ‌A4. Jeden Tag, nehme ich mir vor, werde ich einen der Zeichenkartons füllen. Eine Arbeitswanderung, ein Selbstversuch? Vielleicht ein Experiment mit der Einsamkeit.

Die Berge als Raum der Stille, in dem die Gedanken ungehindert fließen können, nirgends anstoßen. Der Rhythmus der Schritte, der den Takt für die Gedanken vorgibt. Die Landschaft, die Natur mit ihrem Angebot tut das übrige: Meine Neugier, wie der Körper darauf reagieren wird. Vielleicht besteht das Experiment darin, in der Einsamkeit auf die Antwort des Körpers zu hören.

Die Wanderin: Jahre später. Ein anderer Fährmann. Ich habe Zeit. Der Fährmann hebt meinen Rucksack ans Ufer. Ich stehe eine Weile unschlüssig. Das Boot entfernt sich. Ich hucke den schweren Rucksack auf. Meine Wanderung beginnt. Die Bilder der Überfahrt in den Augen. Die Berge um Kvikkjokk, die in der spiegelglatten Wasserfläche des Flusses wiederkehren. Strukturen: Gras, Birken, Berge. Farben. Die klaren Uferlinien, alles zwiefach durch die Spiegelung. Eine Aufforderung, auf dem Kopf zu laufen … Das nordische Licht, das trunken macht. Ist es wirklich wahr, daß ich hier bin, die Arbeit endlich hinter mir gelassen habe? Ich will an nichts mehr denken, nur aufnehmen, genießen, Atemzüge tun.

Mein Weg führt mich durch Birken- und Fichtenwald, Bartflechten hängen von den Bäumen, alles ist mit Moos überwachsen. Die Feuchtigkeit der Erde läßt das Moos hellgrün leuchten. Ein Waldtunnel. Er umschließt mich förmlich, rechts und links des schmalen Pfades, auf dem ich laufe, ist das Unterholz so dicht, daß ein Durchkommen unmöglich wäre. Niedrige verkrüppelte Birken; umgestürzte Bäume, verfaulte Bäume, ein kräftig süßer Fäulnisgeruch entströmt diesem Dschungel.

Meine Füße auf dem schmalen Pfad. Der Rucksack, das Ungewohnte dieser Last. Mehrmals verstelle ich Hüftriemen und Brustgurt. Das Knacken der Zweige unter den Sohlen, das Vibrieren des Waldbodens, die Unebenheiten, Mooshügel, Wasserlöcher. Ich versuche meinen Körper mit dem Rucksack in ein Gleichgewicht zu bringen. Leicht nach vorn gebeugt laufe ich. Ich merke, wie schnell ich müde werde. Die Schultern schmerzen. Mein Kopf ist leer. Der Aufstieg scheint mir unendlich lang. Mit dem Wanderstock versuche ich die Schritte zu akzentuieren, mir den Takt vorzugeben. Langsam, allmählich: Schrittmaß, Schrittgeschwindigkeit. Mein Körper stellt sich auf Wanderschritte ein.

Der Wanderer: Rhythmus der Füße. Die Gedanken wandern. Die Füße erinnern sich: Wegstrecke – Zeitstrecke, gegangene Wege. Meine Augen sind auf den Boden geheftet – die Geschichte der Landschaft kommt mir in den Kopf – meine Füße, spüre ich auf einmal, stecken nicht mehr in Wollsocken, sie sind nackt, meine Schuhe sind mit Moosgras ausgepolstert, und meine Wanderschuhe, sehe ich, verwandeln sich langsam, ganz langsam in näbbskor, in lappländische Stiefel, wie sie früher die Samen trugen.

Die Landschaft hier ist uraltes Gebiet der Samen. Seit Jahrhunderten – bis heute – ist das Padjelanta Sommerweidegebiet für ihre Rentierherden. Auf meiner topographischen Karte 1:100 ‌000 sind neben den Sommer- und Winterwegen für Wanderer die Renstängsel, Renvaktarstugas und Rengärden eingezeichnet, die Rengatter, Wächterhütten und die Flächen der Rentierweiden, letztere markiert mit dünnen schwarzen Linien aus Schrägstrichen. Baddjelánnda heißt das Gebiet auf samisch und es bedeutet: das höhere Land.

»Die Legende von Jubmel«

Als Jubmel, der heidnische Göttervater, Lappland, das Land der Samen, schuf, war es auf alle mögliche Weise gut. Die Berge waren aus Gold und Silber. Die Wälder groß und dicht, und die Bäume trugen köstliche Früchte.

Aber der Streit um Besitz kam über das Land; Attjis erschlug aus Habgier seinen gutherzigen Bruder Njavvis. Jubmel verbannte Attjis daraufhin zur Strafe auf den Mond. Und da er sah, Reichtum und Überfluß waren nicht gut für die Menschen, beschloß er, allen Überfluß zu verbergen. Die Menschen sollten nie etwas davon bekommen können, ohne danach zu suchen und dafür zu arbeiten. Er kehrte im ganzen Land das Unterste zuoberst, das Gold und Silber der Berge verbarg er unter Erdreich und Gestein, und er verbarg den Reichtum der Wälder. Erst wenn die Menschen ebensogut wie Njavvis sein würden, könnten sie die Reichtümer wiederfinden und die ehemals gute Zeit würde zurückkehren. Bis dahin aber ist das Land, wo die Samen wohnen, ein karges und armes Land.

Als Jubmel das Land der Samen umwendete, geschah es, daß alles Wasser über die Erde floß und die Menschen allesamt ertranken. Nur zwei Kinder, Geschwister, Batje und Nanna, hatte er auf einen hohen Berg getragen. Dort lagen sie und schliefen. Als sie erwachten, konnten sie sich in dem Land nicht mehr zurechtfinden, denn es hatte nun ein ganz anderes Aussehen. Die Geschwister liefen den Berg hinab und wanderten lange, ohne einen einzigen Menschen zu treffen. Da sagte Batje zu seiner Schwester, laß uns für einige Zeit voneinander scheiden, jeden in eine andere Richtung gehen, um Menschen zu treffen. Der Junge wanderte nach Norden, das Mädchen in südliche Richtung, aber Menschen trafen sie nicht, und in der Einsamkeit wurde ihnen sehr schwer ums Herz. Als sie ein ganzes Jahr unterwegs waren, geschah es, daß beide aus weiter Ferne eine Gestalt auf sich zukommen sahen. Nun sei das Glück ihnen hold, dachten sie und wußten nicht, daß sie es selbst waren, die aufeinander zuliefen. Als sie einander nahe waren, erkannten sie sich. Und Batje sagte erneut zu Nanna, laß uns noch einmal unser Glück versuchen.

Und sie wanderten, der eine gegen Sonnenaufgang, der andere gegen Sonnenuntergang. Sie sahen vieles auf ihren Wegen, lernten viel, aber andere Menschen erblickten sie nirgends. Als sie wieder ein Jahr gewandert waren, hatten sich beide sehr verändert und dennoch erkannten sie sich sogleich....

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte
Schlagworte Achtsamkeit • Berge • Entschleunigung • Entspannung • Erholung • insel taschenbuch 4818 • IT 4818 • IT4818 • Landschaft • Lappland • Meditation • Natur • Ruhe • Schweden • Skandinavien • Stille • Stress • Stressbewältigung • Urlaub • Wanderung
ISBN-10 3-458-76715-0 / 3458767150
ISBN-13 978-3-458-76715-2 / 9783458767152
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